Mit seinen „Galgenliedern“ bin ich aufgewachsen.
Aber von seiner Verbindung zu Rudolf Steiner und Hendrik Ibsen, zu Dostojewskis Texten und von seiner „stillen Seite“ wußte ich bislang nichts.
Heut früh bin ich bei der Lektüre über einen Satz von ihm gestolpert: „Wer Gott aufgibt, löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiterzuwandeln“.
Manche Sätze sind so überraschend, daß sie mich festhalten. Zum Nach-Lesen, zum Nach-Denken auffordern.
Ein neuer Gast am Tisch: Christian Morgenstern.
Er war krank sein Leben lang. Hatte sich angesteckt bei seiner Mutter. Tuberkulose.
Monatelang musste er in Liegekuren zubringen. Hat erfahren, was für ein zerbrechliches Gefäß der Körper sein kann.
Sein Vater wollte, daß Christian beim Militär Karriere macht. Das wurde nichts.
Die beiden hatten ein schwieriges Verhältnis. Manche sprechen gar von einem „Bruch“ in der Beziehung.
Weltberühmt wurden seine Texte erst nach seinem Tod 1914.
Besonders bekannt: die „Galgenlieder“.
Aber: dieser überraschende Mann hatte eine sehr stille Seite. Eine spirituelle Begabung.
Die Lyriksammlung „Einkehr“ (1910) gibt Auskunft.
Exemplarisch vielleicht dies:
Eine Glocke in stiller Nacht . . .
Was mag sie wollen ? Was ist geschehn?
Nirgends Feuerzeichen zu sehn.
Nirgends eine Seele, die wacht.
Klingt es nicht, als schlüge sich
dumpf wer an die Brust von Erz:
Schmerz – Schmerz – Schmerz – Schmerz.
Welt, mein Ich, wie quälst du Mich!
Doch, sagt Meister Eckehart,
war auch solche dunkle Klage
schon am Anfang aller Tage
Seinem Geiste Gegenwart.
Seinem Geist? O Mund, gib Ruh‘;
lass mich nicht in Worte fallen.
Einer Glocke nächtlich Lallen
darf mich lehren; doch nicht du.
Meister Ekkehart, der Mystiker und Seelenkenner ist da in diesem Text. Ich bin überrascht, ihn beim Humoristen und Satiriker Morgenstern zu finden. Die Neugier auf diesen interessanten Mann wächst.
Ich lese von seiner engen Beziehung zu Rudolf Steiner, von seiner Übersetzung von Hendrik Ibsen. Erfahre, daß er sich lange Zeit mit Fjodor Dostojewski beschäftigt hat.
Es ist eine schöne Begegnung an diesem Herbsttag.
Christian Morgenstern zeigt mir heute eine verborgene, stille Seite, die mich überrascht und anspricht.
Novembertag
Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen;
ohne Not geht niemand aus;
alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Geberde.
Heimlich, wie auf Meeresgrund,
träumen Mensch und Erde.
Ein Gedanke zu “„Der kommt oft am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht“ – Christian Morgenstern”