Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin. (2) Nana Dorn. Pastorin im „Ostsee-Viertel“ Berlins.

Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin. (2) Nana Dorn. Pastorin im „Ostsee-Viertel“ Berlins.

Derzeit entsteht die größte evangelische Gesamtgemeinde Berlins im Norden der Metropole. Drei ehemals selbständige, große Gemeinden mitten in riesigen Neubaugebieten wollen ihre Zusammenarbeit weiter verstärken und ihre Sichtbarkeit im Kiez (hier leben mittlerweile etwa 120.000 Menschen) verbessern. Die Beschlüsse sind alle gefasst, noch im April wird das Projekt auch offiziell mit einem Feier-Tag aus der Taufe gehoben. Mich interessiert dieser Prozess, weshalb ich mit einzelnen Akteuren Interviews führe. Mit der Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates, Petra Wüst, hatte ich bereits gesprochen. Heute nun ein Gespräch mit Nana Dorn, seit 10 Jahren Pastorin in „Hohenschönhausen-Nord“, einem Stadtteil von Hohenschönhausen und damit Teil Lichtenbergs. Man nennt diesen Kiez auch das „Ostsee-Viertel“, weil es hier Straßen wie „Darßer Straße“, „Zingster Straße“, Ahrenshooper Straße“ und so weiter gibt.
Das etwa einstündige Gespräch habe ich aus praktischen Gründen dreigeteilt.
Im Teil 1 hören wir eher Biografisches von Nana Dorn, damit die Hörerinnen und Hörer ein Gefühl dafür bekommen, „mit wem wir es eigentlich zu tun haben.“ Wir sprechen auch über Heinrich Grüber, den Namenspatron des Zentrums.


Teil 2 macht das „Heinrich-Grüber-Zentrum“ am Berl 17 auch als Gebäude hörbar, das im Jahre 1983 erbaute und 1988 geweihte neue Gemeindezentrum, das in diesem Jahr 35-jähriges Jubiläum feiert. Die Geschichte des „Heinrich-Grüber-Zentrums“ ist auch deshalb interessant, weil sie von der Vergangenheit erzählt, als Berlin noch geteilt war. Wir erfahren Interessantes von der staatlichen „Kirchenpolitik“ der DDR – und von den Neuanfängen nach 1990, als der große Umzug begann. Ein Glasfenster spielt in diesem Teilbeitrag eine besondere Rolle, weshalb es auch gezeigt werden soll:


Teil 3 gibt uns einen guten Einblick in die sozialen Problemlagen im Kiez: eine große vietnamesische Community; soziale Probleme wie Armut, Alkohol, fehlende Angeboten für Jugendliche, Gewalt in Familien und erzählt davon, wie sich sowohl die Kirchgemeinde als auch die Diakonie mit ihrer Jugendarbeit dort einmischt und engagiert, wo die Probleme besonders drückend werden. Über das Sozial-Projekt „Leib und Seele“ werde ich noch extra einen Podcast anfertigen, auch über die offene Jugendarbeit im Projekt der Diakonie SPIK e.V., von deren Arbeit im Beitrag schon die Rede ist.

Nachtrag: wer sich etwas genauer mit Heinrich Grüber befassen möchte, dem sei zum Beginn seiner Studien dieser Dokumentarfilm empfohlen:

Wer das „richtige Bekenntnis“ nicht hat, verliert den Job. Oder: ein Kapitel über die Kunst in Zeiten des Krieges.

Wer das „richtige Bekenntnis“ nicht hat, verliert den Job. Oder: ein Kapitel über die Kunst in Zeiten des Krieges.

„Die Nationale Volksarme ist eine Armee des Friedens. Wer Soldat der NVA wird, dient damit dem Frieden. Wenn Sie diesen Dienst nicht ausüben wollen, wie Sie erklärt haben, dann stellen Sie sich gegen die Macht des Friedens, dessen Ausdruck die Bruderarmeen des Warschauer Paktes sind. Wenn Sie den Dienst in der NVA nicht ausüben wollen, wie Sie erklärt haben, dann stärken Sie die aggressiven Armeen der NATO. Sie werden verstehen, daß wir Sie dafür nicht auch noch belohnen können. Eine Zulassung zum Abitur oder gar Universitätsstudium kommt nicht in Frage.“

So ging die Logik. Viele tausende junger Männer und deren Familien waren davon betroffen und haben sich dennoch nicht einschüchtern lassen.
Als man uns weismachen wollte, der „Friede muss bewaffnet“ sein, und es gälte „gegen NATO-Waffen Frieden (zu) schaffen“. Da haben wir gesagt, ein paar wenige waren wir ja noch: „ihr irrt. Man kann Blut nicht mit Blut abwaschen.“
Später, da war die Mauer schon gefallen, da fand sich in der Stasi-Akte der Hinweis: sie hatten uns auf ihrer „Liste“. Gemeint war eine „Abschußliste“. Die Zahl derer, die man wegen ihrer Gesinnung zum Krieg „abgeschossen“, also aus dem Beruf heraus und in den Westen hinein gedrängt hatte, geht in die Millionen. Auch weiß man in den Chroniken vom „Roten Ochsen“ oder vom „Gelben Elend“ oder in Hohenschönhausen von den Schicksalen derer zu berichten, die „nicht die richtige Gesinnung“ hatten und sich zum Beispiel der Logik der Aufrüstung widersetzten, weil sie sie für grundfalsch hielten.

Wer jedoch das „richtige Bekenntnis“ ablegte, bekam den Job.
Ähnliches spielte sich in den Forschungsabteilungen der großen Betriebe ab. Bei Carl Zeiss in Jena beispielsweise: wer nicht Genosse wurde und damit „das richtige Bekenntnis“ ablegte, kam nicht weiter. In der Forschung schon gar nicht. Und wer nicht „zur Demonstration“ war, der bekam auch Probleme.

Auch wurde sehr genau registriert, ob jemand zur Wahl ging, denn die Teilnahme an der Wahl war „ein Bekenntnis zum Frieden“. Wer das „richtige Bekenntnis“ ablegte, kam beruflich weiter. Wer dieses Bekenntnis nicht ablegte – nun ja, man hatte ja die Wahl, die „richtige Entscheidung“ selber zu treffen.

Ich gehörte mit ein paar Hundert anderen immer zu denen, die die verlangte „richtige Entscheidung“ nicht trafen. Ich war nicht in den Pionieren, nicht in der FDJ, ich ging nicht ins Wehrlager, ich beteiligte mich nicht an Wahlen (die keine waren), ich ging nicht zur Armee. Deshalb gabs kein staatliches Abitur und deshalb gabs auch kein freies Studium. Das war der Preis, der in der Diktatur zu zahlen war. Wir haben ihn gezahlt.
Nun aber kommt, angesichts des Ukraine-Krieges, diese Gesinnungsschnüffelei zurück und dagegen muss ich sprechen, weil ich sie wie viele andere auch, am eigenen Leibe erfahren habe. Das darf nicht wieder so werden, wie es in der Diktatur war: nur derjenige bekommt oder behält den Job, der die „richtige Gesinnung“ hat. Das hatten wir schon mal, auch schon vor 1949. Und das darf es niemals wieder geben.

Nun lesen meine alten Augen, der Münchner Oberbürgermeister Reiter (SPD) habe den russischen Chefdirigenten der Philharmoniker gefeuert, weil der dem Ultimatum (!) des Oberbürgermeisters nicht gefolgt sei und sich rechtzeitig (das ist der Sinn eines Ultimatums) von Herrn Putin und seiner Politik öffentlich distanziert habe. Der Russe hat auf dieses Ultimatum nicht mal geantwortet, was ich sehr gut verstehen kann. Wer ist denn dieser Herr Reiter, daß er einem vorschreiben wolle, wie man zu denken habe?

Meine alten Augen lesen ausserdem, man hätte Engagements mit Anna Netrebko aus ähnlichem Grunde gekündigt, sie sei „nicht klar genug von Putin und seiner Politik distanziert“. Auch hier wieder gibt es welche, die offenbar sehr genau zu wissen scheinen, was „die richtige Auffassung“ ist und was eben die falsche. Und, wenn man eine „falsche Auffassung“ hat, nun ja, dann kann man den Job halt nicht haben, man hat ja schließlich die Wahl und kann „das geforderte Bekenntnis“ ablegen.

Gestern musste ich lesen, daß man nun auch die Forderung erhoben habe, russischen Wissenschaftlern die internationalen Forschungsgelder zu entziehen, wenn sie sich nicht klar von Putin und seiner Politik distanzieren.

Im Börsenblatt steht darüber hinaus nun sogar zu lesen, man fordere nun angesichts des Krieges „ein Totalboykott russischer Bücher.“
Man ist ja schon dankbar, daß noch keiner die Verbrennung russischer Bücher verlangt hat. Wenn das so weitergeht, wird irgendein völlig Verwirrter diese Forderung wohl auch noch erheben.

Was macht dieser Krieg mit unserem Land? Drehen wir jetzt auch völlig durch? Diese Gesinnungsschnüffelei muss aufhören! Und, daß jemand seinen Job verliert, weil er Russe ist und „sich nicht klar genug von Putin getrennt hat“, das muss ebenfalls aufhören. Am besten sofort.

Dr. Hans Beu, Kindersanatorium Prerow, ein Humanist und Stiller Helfer.

Dr. Hans Beu, Kindersanatorium Prerow, ein Humanist und Stiller Helfer.

Wenn man, vom Kirchenort kommend, die Strandstraße entlang durch Prerow geht, sieht man auf der linken Seite schon bald eine jener interessanten gelben Tafeln, auf denen auf besondere Gebäude oder Personen im Ort hingewiesen wird. Man kann lesen, daß in der heutigen „Villa Seestern“ der „Badearzt Dr. Hans Beu“ ein Jugendsanatorium „Ostsee-Hospiz“ eingerichtet hatte.

Heute sieht der „Seestern“ so aus und beherbergt einige Ferienwohnungen.

Ich will mehr wissen und verabrede mich mit Frau Antje Hückstädt, der Leiterin des Darss-Museums in Prerow. „Wir wissen nicht sehr viel von Dr. Beu“, sagt sie mir und zeigt mir aber immerhin Anzeigen für das Kinder- und Jugendsanatorium in einem Fremdenführer.

Anzeige für das Jugendsanatorium Dr. Hans Beu, Prerow, Strandstraße. (Quelle: Darss-Museum Prerow).



„Wir haben aber ein Foto aus der großen Sammlung der Fotografien vom Prerower Ortsfotografen Wiese“ sagt sie, „ich suche es Ihnen bei Gelegenheit heraus. Darauf ist eine große Gruppe Kinder vor dem Sanatorium zu sehen. Die Aufnahme müsste vom Ende der Zwanziger Jahre etwa sein.“ Tatsächlich, wenige Tage später kommt das Bild:

Kinder vom Kindersanatorium Dr. Hans Beu in Prerow. Aufnahme: Alfred Wiese, Prerow; vermutlich Ende der Zwanziger Jahre. Original im Darss-Museum Prerow

Ich beginne zu recherchieren. Die üblichen Quellen: Internet, Pfarramtsarchiv etc. Bisher (stand 30.09.2021) ergibt sich folgendes Bild: Hans Friedrich Simon Julius Beu wurde am 22. Januar 1865 in Ribnitz geboren, am 20. Februar 1865 in der Stadtkirche Ribnitz getauft; studierte in Rostock Medizin; promovierte 1890 in Leipzig; 1890 war er am Stuttgarter Bürgerhospital Assistenzarzt. 1891 war er Praktischer Arzt in Gnoien. Am 8. April 1892 heiratete er in Rostock Anna Maria Welge (1869-1896).
1892 ist Dr. Beu Praktischer Arzt in Dargun. Am 19. September 1896 stirbt seine Frau in Dargun.
1897 ist Dr. Beu Einwohner von Prerow. Etwa im Jahre 1903 heiratet er erneut, eine Kapitänstochter aus der Kapitänsfamilie Schall aus Born. 1904 wird ihm in Prerow eine Tochter Hildegard („Hilding“) geboren.
1905 eröffnet Dr. Beu sein Kindersanatorium in Prerow. Am 7. August 1947 stirbt Dr. Hans Beu in Prerow im Alter von 82 Jahren.

Es gibt interessante Hinweise zu dieser Biografie, denen ich, wenn die Archive „mitspielen“, gern weiter nachgehe:
in den Zwanziger Jahren nimmt Dr. Beu den „Seppl“ in sein Haus auf. Eigentlich heißt das Kind Josef Panski, ist ein Kind jüdischer Eltern aus Lodz. Da seine Mutter früh stirbt und es wohl Konflikte mit der Stiefmutter gibt, wird „Seppl“, wie man das Kind später in Prerow nennen wird, in Prerow bei Dr. Beu belassen. Der pflegt den „Seppl“, weil das Kind offenbar lungenkrank ist und Fürsorge braucht, wie ein eigenes Kind. In der Familie von Bürgermeister Roloff ist „Seppl“ als eine Art Pflegekind bekannt, eine „Tante Marie“ kümmerte sich um das Kind. Die Verbindung zwischen Dr. Beu und dem „Seppl“ hält über lange Jahre: Dr. Beu wird in den Kirchenbüchern bei der Taufe vom Seppl am 15. 12. 1922 notiert; ebenso bei dessen Hochzeit; bei der Taufe von Seppls Tochter – da war der Doktor Beu schon hochbetagt. Er scheint ihn wie ein Adoptivkind angenommen zu haben, jenen jüdischen Jungen aus Lodz.

Auch gibt es Hinweise, daß Dr. Beu einer Frau, die wegen einer starken Sehbehinderung von den Nazis auf „Erbkrankheit“ hin untersucht wurde – es waren jene Jahre, in denen „Erbkranke“ in Deutschland umgebracht wurden – ein lebensnotwendiges Attest ausgestellt hat, daß bei ihr „keine Erbkrankheit“ vorläge. Ich bin Bürgermeister René Roloff für diese Hinweise dankbar.

Dr. Hans Beu scheint einer jener Menschen gewesen zu sein, die man als „stille Helfer“ bezeichnet. Ein aufrechter Humanist, Mediziner aus Überzeugung, der mit seinen Möglichkeiten half, wenn es Not tat. Es gibt Hinweise darauf, daß er sich den Nationalsozialisten nicht angepasst hat. Im „Adreßverzeichnis der deutschen Privatkliniken und Sanatorien“, herausgegeben vom „Leiter des Reichsverbandes Deutscher Privat-Krankenanstalten“ 1937, wird seine Einrichtung „ohne Stern“ geführt. Das bedeutet: Dr. Beus Jugendsanatorium war nicht Mitglied in jener NS-Formation „Reichsverband Deutscher Privat-Krankenanstalten“.

Adreßverzeichnis 1937 der „Deutschen Privat-Krankenanstalten“. Dr. Beus Einrichtung wird „ohne Stern“ geführt, ist also nicht Mitglied im „Reichsverband“. Man findet dieses Adreßverzeichnis im Internet.

Herrn Bürgermeister René Roloff/Prerow verdanke ich ein zweites Bild mit Kindern vor dem Jugendsanatorium, diesmal ist sogar der Doktor selbst zu sehen (oben, letzte Reihe, links).

Dr. Hans Beu im Kreise seiner Pflegekinder im Jugendsanatorium Prerow. Es könnte durchaus sein, daß auf dem Bild (vermutlich auch aus den Zwanziger Jahren) auch der „Seppl“ abgebildet ist. Das Foto stammt aus dem Privatarchiv von Herrn Bürgermeister Rene Roloff in Prerow.

Von „Frau Dr. Beu“, der zweiten Frau des Doktors, habe ich inzwischen herausgefunden, daß sie Gemeindevertreterin in der Evangelischen Kirchgemeinde in Prerow war. Es gibt im Pfarrarchiv ein Dokument über eine entsprechende Sitzung des Kirchgemeinderates vom 27. Mai 1926. Aus den dreißiger Jahren ist mir ihre Mitgliedschaft im Kirchgemeinderat nicht mehr bekannt, da hatten sich die Zeiten geändert, die Mehrheit im Kirchgemeinderat gehörte den „Deutschen Christen“ an, das war nichts mehr für die Familie des Humanisten und Stillen Helfers Dr. Hans Beu.

Beu hat sein Sanatorium vermutlich altersbedingt geschlossen. Als er 1947 starb, war er ja schon 82 Jahre alt. Es heißt allerdings, das Sanatorium des Dr. Beu sei 1953 der „Aktion Rose“ zum Opfer gefallen, jenem kriminellen Ganovenstück der DDR-Regierung, das zur Enteignung zahlreicher Privatpensionen und Hotels an der Ostseeküste führte. Diesem Hinweis gehe ich gerade im Landesarchiv in Greifswald und im Stasi-Unterlagen-Archiv Rostock (jetzt Bundesarchiv) nach. Das Haus sei durch die „Aktion Rose“ damals (wie so viele Privatpensionen und Hotels) an den FDGB der DDR gefallen, habe erst „Haus Bleisch“ und dann „Seestern“ geheißen, so, wie das Haus ja heute noch heißt; diesen Hinweis verdanke ich Frau Antje Hückstädt.

Prerow kann stolz sein auf den Dr. Hans Beu. Es waren nicht viele, die in der wirren Zeit des Nationalsozialismus klaren Kopf behielten. Er gehört in die Reihe jener „stillen Helfer“, deren Geschichte erst noch geschrieben werden muss. Ein Anfang ist gemacht.

Das „Russengrab“ in Born a. Darss. II

Das „Russengrab“ in Born a. Darss. II

In einer versteckten Ecke des Friedhofs in Born auf dem Darss befindet sich das „Russengrab“, wie die Einheimischen in Born sagen. Ich hatte darüber hier im blog schon geschrieben. Mittlerweile hat sich eine Menge getan, das Grab hat wieder eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit, im vergangenen Jahr hat es eine Kranzniederlegung gegeben. Die Recherchen dazu, wer dort eigentlich begraben liegt, waren aber ins Stocken geraten, weil auch Recherchen in den Kirchenbüchern nicht weiterführten. Es gab keinerlei Hinweise, wer „die Russen“ dort begraben haben könnte. Schließlich wurde ich durch Recherchen in Frankreich auf einen Befehl des Reichsführers SS, Himmler aufmerksam, daß ab einem bestimmten Zeitpunkt „auf der Flucht erschossene“ Häftlinge von anderen Häftlingen zu bestatten seien. Pastoren oder andere waren also absichtlich nicht mehr beteiligt, auch gab es keine Einträge in die Kirchenbücher.

Heute nun kam ein neues Dokument über Dr. Lars Hellwinkel von der Gedenkstätte Lager Sandbostel, der bei seinen Recherchen auf meinen blog und die Recherchen zum Lager in Born aufmerksam geworden war. Er schrieb mir:

Sehr geehrter Herr Kasparick,

ich hatte die anliegende Meldung im Online-Archiv der Arolsen Archives unter dem Suchwort Stralsund in dem Ordner „Informationen über verschiedene Haftstätten, Arbeitslager, Kriegsgefangenenlager und andere Lager “ gefunden, die Dokumentennummer habe ich in Klammern dazugefügt, ich empfehle Ihnen eine Anfrage zu Born an die Arolsen Archives über den folgenden Link:

https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/anfragen/ihre-anfrage/

Hintergrund meiner Recherchen ist unsere Unterstützung der Gedenkstätte Fünfeichen der Stadt Neubrandenburg – ehemals Stalag II A Neubrandenburg – bei der Identifizierung von Gräbern ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Gebiet des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern auf der Basis der Einträge in der deutsch-russischen Datenbank www.sowjetische-memoriale.de. Wir haben diese Recherchen in den letzten beiden Jahren zum 75. Jahrestag des Kriegsendes und zum 80. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion zu den bekannten Gräbern auf dem Gebiet des ehemaligen Wehrkreis X (Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und nördliches Niedersachsen) durchgeführt, weil wir einen Überblick über die Verteilung der in den Arbeitskommandos gestorbenen Kriegsgefangenen aus dem zentralen Kriegsgefangenenlager des Wehrkreises X, des Stalag XB Sandbostel, haben wollten.

Die Meldung zu Born war also eher „Beifang“, ich war aber darauf aufmerksam geworden, da ich bereits mehrfach in Born im Walfisch-Haus Urlaub gemacht hatte und nie von diesem Außenlager gehört bzw. gelesen hatte und bin dann bei weiterer Recherche auf Ihren Blog gestoßen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit zum Schicksal dieser 5 unbekannten Toten und zu der wichtigen Erinnerung an dieses Außenlager, vielleicht ergibt sich die Möglichkeit der Aufstellung einer Informationstafel am Grab über den Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge in Mecklenburg-Vorpommern, der Volksbund betreut ja im Inland neben den deutschen Soldatengräbern auch die Gräber der ausländischen Kriegsopfer und hat ein eigenes bundesweites Geschichts- und Erinnerungstafelprogramm, die Tafeln werden zusammen mit den Gemeinden und örtlichen Schulen erstellt, für Born würde sich eine Pulttafel anbieten.

Mit besten Grüßen Dr. Lars Hellwinkel

Das Dokument zum Vorgang wird deshalb nun hier eingefügt, damit es auch anderen zur Verfügung steht:

Von der SS zur Staatssicherheit. Die Akte Franz Mueller-Darss.

Von der SS zur Staatssicherheit. Die Akte Franz Mueller-Darss.

Heute war ich nun endlich im Lesesaal des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR. Ich wollte wissen, was die Stasi über den SS-General Franz Mueller-Darss wusste. Ich hatte schon vor über einem Jahr einen Antrag gestellt, dann kam die Auskunft, man habe „etwas gefunden“. Dann kam Corona.
Nun also endlich die Akte 3685/63 Band-Nr. 1 BStU Archiv der Außenstelle Rostock. MfS BV Rst AOK 3685/63. Wie man an der Aktenkennung gleich erkennen kann: es handelt sich um Dokumente aus dem Jahre 1963.
„Seit 1960“, so ist eingangs zu erfahren, habe man „Kenntnis von dem Franz Mueller“. Das überrascht mich etwas, denn das deutet ja darauf hin, dass man sich bis 1960 noch gar nicht um ihn und seine ehemaligen SS-Männer gekümmert hatte.
Nun aber habe man die „Information erhalten“, dass es noch Bunker gäbe im dunkeln Darss-Wald. Es gäbe auch „bislang unentdeckte Kontakte“ aus den Orten des Darss zu dem Mueller.
Deshalb sei es „aus Gründen der Sicherung der Staatsgrenze Nord“ angetan, einen OP-Vorgang anzulegen, um herauszufinden, wer denn in Born, Prerow, Zingst, Wieck und Wustrow noch alles im Kontakt stünde mit dem ehemaligen SS-Mann.

Es geht der Stasi also darum, in Born, Prerow, Wustrow und drumherum herumzuhorchen, wer im Kontakt mit Mueller stand, wer seine Revierförster und Helfer im Walde waren und wie man sich die Kommunikation zwischen den „Ehemaligen“ eigentlich vorstellen müsse. Jedenfalls ist in der Akte von „dunklen Gestalten“ die Rede und von „noch unentdeckten Bunkern“ und solchen Sachen. Wir schreiben das Jahr 1963. Die Mauer steht seit zwei Jahren.

Im Ergebnis der Untersuchungen der Stasi, die sich von Februar 1963 – Dezember 1963 hinziehen, kommt so allerlei zu Tage. Man erfährt von Menschen, die ehemals in der SS – nun aber in der SED Mitglied sind. Auch finden sich Menschen, die, ehemals bei der SS nun „GI“ der Staatssicherheit sind, Gesellschaftliche Informanten also. Eine Art „Mitarbeiter“.
Man erfährt, „vertraulich“ sei „bekannt geworden“, dass ein „Hans Becker, Fischer; geb. 1.3.12“ den Franz Mueller-Darss bei seiner Flucht 1945 über den Bodden gebracht haben soll.
Davon hatte ich schon munkeln gehört, als ich in Born mit dem einen oder anderen gesprochen hatte.

Die Stasi ist nicht zimperlich. Sie kontrolliert die Post gleich ganzer Dörfer:
Im Maßnahmeplan vom 21. 1. 1963 ist unter Punkt 5 zu lesen:
5.) „Über die Abteilung -M- ist die Postkontrolle über die Darßer Orte Born, Wieck, Prerow und Zingst einzuleiten. Dadurch soll erreicht werden, eventuell bestehende Verbindungen Darßer Einwohner zu dem Mueller auf postalischem Wege aufzuklären. Termin: 15.2.1963; verantw.: Kasulke, Obfw“.

Der Herr Kasulke von der Stasi jedenfalls hat sich redlich bemüht, das geht aus der Akte eindeutig hervor.
Man findet bei der Lektüre noch etwas Interessantes:
Die Stasi wusste aus ihren Recherchen, dass es in Born ein KZ-Außenlager gab. Sie wusste ausserdem, dass die Bunker im Darsser Wald von KZ-Häftlingen ausgehoben worden sein sollen.
Die Akte gibt aber keinerlei Hinweise darauf, dass die Stasi diesen Hinweisen einmal nachgegangen wäre und die Täter zur Verantwortung gezogen hätte. Der „antifaschistische Staat“ hat da offenbar weggesehen.

Stattdessen hat die Stasi ganz offensichtlich ehemalige SS-Leute, die im Umfeld von SS-General Franz Mueller-Darss im Darsser Wald und am „Borner Hof“ (da waren die russischen Kriegsgefangenen untergebracht) „Mitarbeiter“ von Mueller waren, für eigene Zwecke angeworben. Unter Erpressung, versteht sich.
Man liest beispielsweise am 14.6.1961 in einem Vermerk von Abteilung VII/2 „Sachstandsbericht zum operativen Material Mueller u.a.“, daß „Erich Mehl, heute Revierförster in Abshagen Krs. Grimmen (GI der KD Grimmen) „Angehöriger der SS und unter Mueller Revierleiter in Born war.“ „GI steht dabei für „Gesellschaftlicher Informant“ – die Stasi hat ihn „abgeschöpft“ und er hat „berichtet“.

Dass die Staatssicherheit der DDR ehemalige SS-Leute erpresst und für ihre Zwecke dienstbar gemacht hat, ist mittlerweile gut durch Aktenbestände in den Archiven der „Gauck-Behörde“ belegt. Interessant ist dennoch immer wieder, wenn man auf konkrete Belege stößt.
Die Stasi – so wird an den Kopien deutlich werden, die ich mir heute bestellt habe und die ich noch gründlich auswerten will – wusste jedenfalls sehr genau, wer beim Mueller Kutscher war, wer die Köchin war; wer beim SS-Wachpersonal dabei war; wer bei den „Großjagden mit Göring“ dabei war. Man wusste, welche Rolle der „Arzt Dr. Heinrich“ gespielt hat und so weiter und so weiter.

Dennoch hat man im Dezember 1963 die Akte geschlossen und man hat die SS-Belasteten nicht zur Verantwortung gezogen. Ein interessanter Befund, denn es war gerade 2 Jahre her, dass in Jerusalem ein hoher SS-Mann vor Gericht stand. Adolf Eichmann.
Franz Mueller-Darss und Adolf Eichmann könnten sich begegnet sein. Denn Franz Mueller-Darss war oft bei Eichmanns Chef, dem „Reichsführer SS Heinrich Himmler“ zu Gast am Mittagstisch.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Wir haben vom Wort gelebt.
Das geschriebene und gesprochene Wort war unser Werkzeug. Wenn ich mir heute noch einmal vergegenwärtige, was die Jahre 1987/88 bestimmt hat: es war das geschriebene und gesprochene Wort. Die Nachrichten vom Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek, die Verhaftungen nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration etc. – so etwas kriegten wir natürlich „über das Westfernsehen“ mit, auch „über das Radio“ – und über Berichte von Menschen, die „dabei“ waren oder jemanden kannten, der „dabei“ war.
Viele andere Ereignisse aber, die Basisgruppentreffen, die „Werkstätten“ der Offenen Arbeit, die „Rüstzeiten“ in kirchlichen Heimen und auch die „Jugendversammlung“ wurden staatlicherseits verschwiegen. Nichts war in Radio, Zeitung oder gar Fernsehen davon zu erfahren. Es gab keine Handys, keine schnell aufgenommenen Handy-Videos, keine Chats. Nur wer „dabei“ war, war dabei und konnte erzählen. Es gab wohl auch innerkirchliche Berichte – aber eine offizielle Berichterstattung über unsere Arbeit gab es nicht. Allerdings gab es das geschriebene Wort – vervielfältigt auf einfachen Ormig-Abzügen, mit der Schreibmaschine abgetippt (Ich selbst hab die komplette „Alternative“ von Rudolf Bahro mit der Schreibmaschine mit 10 Durchschlägen abgeschrieben, damit wir sie weitergeben konnten).
Bei den Veranstaltungen selbst stand das geschriebene und gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die Menschen hörten aufmerksam zu. Es kam „auf die genaue Formulierung“ an, denn vieles verstand man nur „zwischen den Zeilen“, weil es offen nicht ausgesprochen werden konnte. Natürlich war – insbesondere bei Jugendveranstaltungen – auch Musik wichtig, vor allem das gesungene Wort („Vertraut den neuen Wegen“ wurde der Wende-Choral) aber „die Papiere“ von den Synoden, Werkstätten, Rüstzeiten und Versammlungen waren auf eigene Weise wichtig, denn sie konnten abgetippt, vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergegeben werden. Wer einen Vervielfältigungsapparat (ORMIG) besaß, war in den Augen der Stasi „im Besitz von Vervielfältigungstechnik“. Sogar Tausendfachstempel zählten schon dazu. Auch beim gesungenen Wort hörte man sehr aufmerksam zu. Liedtexte wurden abgeschrieben, sie gingen von Hand zu Hand. Manch einer fotografierte sie und stellte dann Fotopostkarten davon her, um sie weitergeben zu können.

Texte hatten eine besondere Bedeutung in jenen Jahren. Sorgfalt in der Sprache war tägliche Notwendigkeit.
Wenn man sich das Programm der Jugendversammlung anschaut, sieht man die Bedeutung des gesungenen, geschriebenen und gehörten Wortes sofort:


Bei der Jugendversammlung in Gotha war ich verantwortlich für den Freitagabend.
Wir hatten uns eine „Motette für drei Sprecher zu einer Pantomime“ überlegt. Das Thema: „Umkehr führt weiter“. Im Folgenden nun will ich das dabei entstandene Drehbuch im blog abbilden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, wie wir mit Texten arbeiteten. Vier solcher Drehbücher für den Abend sind erhalten und befinden sich noch in meinem Archiv. Jeder der Sprecherinnen und Sprecher, die Beleuchter, die Musiker, die Helferinnen und Helfer im Hintergrund hatten ein solches Drehbuch. Es war einstudiert wie ein Bühnenstück, das es ja auch war.
Wir stellen uns den Abend vor: etwa 300 Jugendliche sitzen im Mai 1988 (über die Aufregungen jener Tage hatte ich in Teil 3 geschrieben) in einer weitgehend abgedunkelten Kirche und sehen diese „Motette für drei Sprecher, Querflöte und Pantomime“. Ich bin Frank Warkus und Andreas Kosmalla für die enge Zusammenarbeit heute noch dankbar, was damals entstanden ist, war vorzeigbar:

Die Wirkung dieses „Impulses“ war stark. Minutenlange Stille, tiefes Schweigen. Es gab Tränen, die jungen Leute waren „angefaßt“, wie man das manchmal sagt. Wir haben das Echo dieses Abends noch lange wahrnehmen können. Die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der gewaltig gestiegenen Zahl der Ausreisewilligen; die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der Umweltthemen, der zunehmenden Übergriffe durch Polizei und Staatssicherheit, diese Frage wurden den jungen Leuten drängend. Die nachfolgenden Gespräche in den Kleingruppen (wir arbeiteten mit 40 Untergruppen!) zeigten es.
„Wir bleiben hier!“ war eine vielgehörte Antwort auf die Frage: „Gehst Du auch weg?“ Der leichtere Weg wäre es gewesen, wir versuchten, unseren Beitrag zu leisten, damit das Land selbst auf einen neuen Pfad kam, da konnte man nicht einfach „weglaufen“, sondern hatte sich den täglichen Mühen zu stellen. All das schwang mit an jenem Abend. Wir haben später erfahren, dass einige junge Leute nach der Jugendversammlung ihre Ausreiseanträge zurückgezogen hatten. Sie hatten verstanden, dass man nichts verändert, wenn man flieht. Die jungen Leute wurden „hier“, im eigenen Land, gebraucht. Sonst wäre die Mauer niemals gefallen.
Aber sie ist gefallen, weil es genügend Menschen gab, die ausharrten, sich verknüpften, unterhakten und gemeinsam für Veränderungen im Lande arbeiteten.

Es hat zahlreiche Reaktionen auf die Jugendversammlung gegeben. Allerdings: Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten nichts. Wir wurden verschwiegen.
Die Staatssicherheit wertete die Sache aus und unter den kirchlichen Mitarbeitern, aber vor allem auch unter den vielen Jugendlichen selbst wirkte die Versammlung noch lange nach. Noch im Jahre 2021 schrieb mir jemand auf facebook, es sei seine „wichtigste Veranstaltung in jener Zeit“ gewesen und ihn noch heute in starker Erinnerung.

Mein Kollege Aribert Rothe in Erfurt hat früh schon in der Kirchenzeitung über die Jugendversammlung geschrieben, später dann hat er einen Text für die „Gerbergasse“ geschrieben, der hier verlinkt sein soll. Mein Kollege Christhard Wagner, der damals sehr engagiert bei der Vorbereitung und Durchführung der Versammlung beteiligt war, hat eigene Erinnerungen an jene Tage, die er vielleicht noch publizieren wird.
Mir selbst war wichtig, mit der hier vorgelegten Dokumentation über die Jugendversammlung 1988 etwa 30 Jahre später einen Baustein beizutragen, damit ein genaueres Mosaik-Bild über die späte DDR jener Jahre gezeigt werden kann und wir wegkommen von falschen Klischees, die von Leuten verbreitet werden, die nicht dabei waren.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (3) Das Tagebuch.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (3) Das Tagebuch.

Was nun folgt, ist ein Experiment. Ich veröffentliche erstmals Auszüge aus meinem Tagebuch aus jenen Wochen. Vieles wäre erklärungsbedürftig 30 Jahre danach. Ich belasse es dennoch in der Fassung, in der ich es notiert habe, kürze nur, was nicht in unseren Zusammenhang gehört.
Im Mai 1988 wird in Gotha die Jugendversammlung unter dem Leitspruch des Kirchentages „Umkehr führt weiter“ stattfinden.
Das Jahr 1988 beginnt in meinem Tagebuch so:

Montag, 4. – 10. 1. 1988

Kreisjugendpfarrerkonferenz in Neudietendorf. Am 5. nachmittags reisen Stefan Krawczyk  und Freya Klier an. Freya referiert über die Kaderpolitik im DDR-Bildungssystem, zeigt, wie sehr Margots[1] Bildungssystem an der Erziehung zur Mittelmäßigkeit interessiert ist. Stefan zeigt sein Brecht-Programm. Am Freitag (8.1.) ist Monika Maron zu einer Lesung da. Ich selber kann nicht die ganze Tagung über dabei sein, ich reise am 5. Januar mit „Gallenkoliken“ wieder ab.
Die Ereignisse in der Berliner Zionskirche und der „Umweltbibliothek“ bestimmen unseren Alltag. Überall im Land gibt es in den Kirchen Unterstützungsaktionen. Als dann die „Junge Welt“ einen harten Artikel gegen die Umweltbibliothek schreibt, fängt das Faß an, überzulaufen. In Weimar versuchen Gemeindeglieder, im Anschluß an einen Gottesdienst Solidaritätserklärungen[4] abzugeben, woran sie vom dortigen Superintendenten Reder gehindert werden. 
Von der Kreisjugendpfarrertagung geht ein Brief an Bischof Leich, in dem u.a. formuliert wird: „In noch größerer Sorge sind wir allerdings über das, was im Zusammenhang mit den Berliner Ereignissen in Weimar geschehen ist und wie Sie darauf reagiert haben. Wir befürchten, daß damit die Tendenz zu Unmündigkeit und Bevormundung, wie wir sie in der Gesellschaft beobachten, auch in unserer Kirche verstärkt wird. Dort wie hier scheint Verantwortlichkeit des einzelnen für das, was er sagt und tut, zu wenig gefragt zu sein. Es befremdet uns, daß Sie Superintendent Reder bestärkt haben, jungen Christen zu untersagen, eine Erklärung der Berlin-Brandenburgischen Kirche in Gottesdiensten zu verlesen und anschließend darüber ins Gespräch zu kommen. Wir sind der Meinung, daß mit dieser administrativen Maßnahme eine notwendige Meinungsbildung der Gemeinde verhindert wurde. Dies ist kein Einzelfall. Im Zusammenhang mit dem Auftritt von Künstlern in unseren Kirchen und auch dem Wirken von autonomen Gruppen in unseren Kirchgemeinden hat es ähnliche Vorfälle gegeben. So fragen wir: Auf welchen Weg befinden wir uns eigentlich als Kirche. Wir fordern von staatlichen Stellen mehr Durchschaubarkeit und Konfliktbereitschaft. Sollten wir nicht bereit sein, sie auch in unserer Kirche zu praktizieren…“

Ich lese in jenen Tagen Gandhi. Für eine monatlich stattfindende Jugendveranstaltung hatte ich mir überlegt, könnte es ein sinnvoller Beitrag sein, sich mit Gewaltfreiheit einmal gründlich zu beschäftigen. Die Reihe wird heißen: „Die groß waren durch ihren Geist. Pazifistische Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Wir lesen unter anderem Gandhi, Tolstoi, Zweig, Suttner und andere, alles Literatur, die in einem normalen Buchladen nicht zu bekommen ist, weshalb ich Texthefte herstelle und sie den Jugendlichen zur Verfügung stelle.

Sonntag, 10. Januar 1988 Abends „Nicaraguagruppe“ (wir betreuten einmal im Jahr eine Großveranstaltung in der Jenaer Friedenskirche „Hoffnung für Nicaragua“. Künstler der DDR wurden von uns um Werk-Spenden gebeten, wir hingen sie in der Kirche eine Woche lang aus und versteigerten sie dann zugunsten eines Kleinbusses für ein Krankenhaus in Nicaragua) . Rainer H. bringt „Perestroika“ von Michail Gorbatschow mit. Seit 1983 (wenn nicht noch länger her) der erste Abend, an dem ein Politiker wieder die Augen glänzen macht. Vereinbarung: Rainer und ich stellen das Buch dem Februar-Konvent vor.

Montag, 11. Januar 1988 Ich fange mit der Lektüre an. Michail Gorbatschow „Perestroika“. Die zweite russische Revolution (!). Eine neue Politik für Europa und die Welt. Aus dem Amerikanischen (!) (noch gibt’s keine DDR-Ausgabe!). von Übersetzergruppe Dr. Ulrich Mihr, Tübingen. Im Sommer 1987 geschrieben. Seit Ende 1987 in russisch und amerikanisch gehandelt. In der DDR bislang nur in West-Ausgaben zu haben, wenn man entsprechende Beziehungen hat.

Sonntag, 17. Januar 1988 In Berlin findet die alljährliche Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg statt. Einige Bürgerrechtler (Bärbel Bohley, Wolfgang Templin, Poppes u.a.) demonstrieren mit einem selbstgemachten Transparent mit einem Luxemburg-Zitat: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Sie werden verhaftet. Auch Stefan Krawzcyk ist dabei. Insgesamt werden etwa 160 Menschen verhaftet.
Diese „Luxemburg-Demonstration“ wird die Wende in der DDR einleiten, aber das wissen wir damals noch nicht.
Für die Arbeit in Jena wird wichtig, daß mein bester Mitarbeiter nach Berlin wechseln möchte. Das wird für mich schwierig, denn gerade für die Offene Arbeit ist er eine wichtige Stütze. Die Jungen Gemeinden bluten immer mehr durch Ausreisende aus. Die Aktiven gehen weg. In der Johannisstraße im Hinterhaus gibt es zwei Einbrüche, bei denen Elektronik geklaut wird, auch nimmt man den Flügel oben im Chorraum auseinander, was den Konflikt mit der „Normalgemeinde“ zusätzlich verschärft. Es ist Wasser auf die Mühlen derjenigen auch in der Kirche, die immer nach „Ordnung und Sicherheit“ rufen.

Sonntag 24. Januar 1988 Überall im Land beginnen die Fürbittgottesdienste. Ich fange in Jena damit an. Wir verwenden dafür die kleinen 18.00 Uhr Abendgottesdienste in der Stadtkirche. Heute sind ungefähr 80 Leute gekommen. Der „Informations- und Fürbittgottesdienst“ findet vor allem das Interesse der Ausreisewilligen. (Anmerkung aus dem Jahre 2021: aus diesen „Fürbittgottesdiensten für die zu Unrecht Inhaftierten“, die sich in manchen Städten an die „Friedensgebete“ in der Friedensdekade im Herbst eines Jahres anhängten, entstanden die Großdemonstrationen in Leipzig, Dresden, Berlin, Jena, Erfurt und zahlreichen anderen Städten. Wir begannen am 24. Januar 1988, also sehr früh damit).

Wir beginnen den Gottesdienst mit dem schönen Lied „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unserer Zeit“, ein Lied, das wir in letzter Zeit sehr oft singen. Predigttext ist Jesaja 2: Schwerter zu Pflugscharen. Ich predige dazu über Matthäus 5: Selig sind die Gewaltlosen

Wir verabschieden zwei Briefe: Einen als Solidaritätsbrief an die in Berlin Inhaftierten, einen zweiten an Rechtsanwalt Wolfgang Schnur[1], sich für die Inhaftierten einzusetzen. Ich lies zum Schluß des Gottesdienstes als „Lied gegen die Gewalt“ das Biermann-Lied „Du laß dich nicht verhärten in dieser harten Zeit“ spielen. Die Leute haben verstanden. Und die Stasi auch.

Der Stasi-Bericht über den Gottesdienst vermerkt am Schluß: „Das Zusammenwirken mit der SED-Kreisleitung Jena, dem Volkspolizeikreisamt und dem Staatsapparat entsprach den Anforderungen und verlief ohne besondere Vorkommnisse.“
An Wolfgang Schnur schreiben wir: „Lieber Bruder Wolfgang Schnur. Wir schreiben aus einem Abendmahlsgottesdienst in der Jenaer Stadtkirche, in dem wir uns mit den neueren Verhaftungen in Berlin auseinandergesetzt und für die Betroffenen Fürbitte gehalten haben. Wir sind froh darüber, daß Sie sich der Betroffenen angenommen haben und danken Ihnen dafür. Außerdem möchten wir uns für Ihre Hilfe während der Geschehnisse in der Berliner Umweltbibliothek bedanken. Uns verbindet die gemeinsame Hoffnung des Predigttextes aus Jesaja 2: „dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen…“ Mit herzlichen Grüßen Ihre (es folgen 77 Unterschriften).

An die Familien der Inhaftierten schreiben wir:

„Liebe Freunde

Wir fühlen uns auch betroffen von den Ereignissen der letzten Monate. Die neuesten Verhaftungen, Haussuchungen und Hausarreste zeigen uns deutlich, unsere Solidarität muß breiter werden.
Heute Abend haben wir in der Jenaer Stadtkirche einen Informations- und Fürbittgottesdienst gehalten.
Weiterhin wollen wir jetzt zur Unterstützung der Betroffenen sammeln.
Wir grüßen Euch mit dem Volkslied „Du laß Dich nicht verhärten…“

Daß ich das Biermann-Lied als „Volkslied“ erwähne, gehört zu den Augenzwinkereien, ohne die wir die Zeit damals nicht ertragen hätten.

Montag, 25. Januar 1988 Um die beginnende Solidaritätsbewegung im Keim zu ersticken, verhaftet das MfS zahlreiche Aktivisten der Berliner Oppositionsgruppen. Es kommt bis zum 2.2. in der ganzen DDR zu Solidaritätsveranstaltungen, an denen mehrere tausend Menschen teilnehmen. Es gelingt den Staatsorganen, die Verhafteten zur Ausreise aus der DDR zu bewegen.

Dienstag 26. 1. 1988
Ich bin zur „Aussprache“ über den Fürbittgottesdienst bei Genossin Margot Krause[2] bestellt. Beinahe schon ein Routine-Termin. Ständig bestellten die einen ein, dabei war klar, dass wir nichts ändern würden in unserer Arbeit.

Ich mache folgendes deutlich: Es hat sich um einen normalen Gottesdienst gehandelt und die Fürbitte ist Bestandteil eines jeden Gottesdienstes. Die Kirche und ich als Pfarrer habe das Recht, für jeden Bedrängten einzutreten und jeder der inhaftiert sei, sei ein Bedrängter. Der Staat habe bislang zu den Vorgängen keine Informationen gegeben, wir seien deshalb darauf angewiesen, uns selbst Informationen zu beschaffen. Auch Leute wie Stefan Krawzcyk, von dem erst heute bekannt geworden ist, daß er wegen des Verdachtes landesverräterischer Beziehungen festgenommen worden sei, sind Bedrängte. Ich habe in meiner Predigt gesagt: ich weiß nicht, wer im Recht ist, es ist aber die Aufgabe der Kirche, den Familien und Betroffenen beizustehen.“
Sie erklärt mir ziemlich barsch, ich solle „derartige Handlungen“ in Zukunft unterlassen und man werde „Angriffe auf die Staats- und Rechtsordnung der DDR, unter welchem Vorwand auch immer“, nicht dulden.

Sonntag 31. Januar 1988
Die Informationsabende in der JG Stadtmitte werden jetzt von ca. 60 bis 80 Leuten aufgesucht. Die Diskussionen darum, ob man sich mit den Ausreisewilligen solidarisieren solle, oder nur um die „eigenen“ Leute kämpfen solle, bestimmen die Abende. Täglich kommen neue Informationen. Täglich ist neu zu entscheiden, ob wir nach außen aktiv werden wollen oder lieber den behutsameren Weg gehen sollten, kirchliche Veranstaltungen zu nutzen. Wir verabreden, uns jetzt täglich zu treffen, um flexibel reagieren zu können. Die jungen Leute werden ungeduldig und wollen „auf die Straße“.

Montag, 1. Februar 1988
Abends gibt es ein Treffen des „Vorbereitungsteams“, VT, in der Johannisstraße. Sup. Siebert ist auch gekommen. Ungefähr 50 Leute sind da. Es sind bewegte Zeiten. Siebert rät von „übereilten Aktionen“ ab, die Jugendlichen drängen auf Aktionen.

Dienstag, 2. Februar 1988
Ich muß nach Weimar. Dort findet ein Treffen des Koordinierungsausschusses des Thüringer Basisgruppentreffens in der Herderkirche statt. Walter Schilling und andere werden dort sein. Abends sitzen wir wieder in der Johannisstraße in Jena.
80 Jugendliche sind gekommen.
Die heutige Nachricht: Stefan Krawzcyk und Freya Klier sind ausgereist. Alle sind überrascht über diese Wendung der Dinge.

Die Friedensgebete finden jetzt wöchentlich in der katholischen Kirche statt.
Die wöchentlichen ökumenischen Friedensgebete, die ohnehin jeden Mittwoch stattfinden, werden jetzt genutzt. Die Landeskirche will keine „Sonderveranstaltungen“ in der Stadtkirche zu den tagesaktuellen Themen.
Auch wieder so ein Beispiel für vorauseilenden Gehorsam.

Mittwoch, 3. Februar 1988
Wir haben Konvent der kirchlichen Mitarbeiter im Lutherhaus.
Ich halte zusammen mit Rainer H. ein Einführungsreferat über Gorbatschows „Perestroika“. Das Buch gibt es nur unter dem Ladentisch. Oder man hat Glück, und Freunde aus dem Westen bringen es einem mit. Wir haben es gelesen und Superintendent Udo Siebert hatte uns gebeten, es den Kollegen vorzustellen.

Samstag, 13. 2. 1988
Im Stadtzentrum Jenas findet eine „Wanderung[3] von Ausreisewilligen statt. Etwa zwanzig Leute haben sich zusammengefunden.

13. – 15. Februar 1988
Die Partner-JG aus Hofgeismar ist in Jena zu Gast. Die jungen Leute sind wie immer privat untergebracht. Ralf Kleist hilft in bewährter Weise mit guter Organisation. Die Hofgeismarer wollen uns mit einer Geldspende für das Rüstzeitheim in Kunitz helfen.

Samstag, 20. Februar 1988
Im Stadtzentrum findet wieder eine „Wanderung“ von Ausfreisewilligen statt. Die Zahl der beteiligten Leute wächst von Woche zu Woche. Heute sind es ungefähr 60.

Sup. Siebert ist im Urlaub. Dr. Lehmann, Pfarrer in Cospeda, vertritt ihn. Er ist an diesem Tag zu einem Gespräch beim Oberbürgermeister, wie ich später in der Stasiakte finde. Lehmann wurde aufgefordert „dem Mißbrauch kirchlicher Räume in der Stadt Einhalt zu gebieten“. Lehmann „beurteilt den Ernst der Lage nicht anders“, sagt die Gesprächsniederschrift. Lehmann berichtet dem Oberbürgermeister, daß ich ein politisches Tagebuch führe; er habe sich mit mir auch schon auseinandergesetzt. Auch zu ihm seien zwei Ausreisewillige gekommen, er habe „diese Leute abgewiesen, sein kirchlicher Auftrag sei die Wortverkündigung“. Lehmann erklärte sich bereit, „nochmals mit Pfarrern zu sprechen und mit ihnen über Methoden zu beraten, um im Vorfeld Provokationen auszuschließen“ schreibt Frau Krause in ihrem Bericht.
Damals weiß ich von alledem nichts. Ist vielleicht auch gut so. Ich hätte ihn vermutlich öffentlich in der Dienstbesprechung angegriffen.

19. – 21. Februar 1988
In Hirschluch gibt es eine Vollversammlung der Initiative „Kirche von unten“. Einige Jenaer werden hinfahren, um die aktuellen Informationen aus Berlin mitzubringen.

Samstag, 27. 02. 1988
Im Stadtzentrum findet wieder eine „Wanderung“ statt.
Diesmal sind es schon ungefähr 300 Beteiligte.
Es gibt Verhaftungen. Ich bemühe mich um Kontakte zum Büro des Rechtsanwalts Vogel. Es gibt Mitarbeiter von ihm auch im Raum Gera. Ich bekomme Kontakt zu Rechtsanwalt Wohlrab.
Abends kommen aufgeregt Punks in die Johannisstraße gerannt, verschanzen sich im Hinterhaus. Sie hatten in der Privatwohnung eine Geburtstagsfete begonnen, waren von der Polizei „aufgelöst“ worden. Jetzt saßen sie im Hinterhaus. Ich muß nachts raus und mit der Polizei über einen friedlichen Abzug verhandeln.

Bei den Ausreisewilligen finden jetzt nachts halb drei Hausdurchsuchungen statt, Kinder müssen z.T. sehr lange alleine bleiben, die Eltern sind verschwunden, haben für Freunde zur Betreuung der Kinder keine Vollmachten geschrieben.
Insgesamt sind 32 Personen inhaftiert worden.
Weitere 180 wurden „zugeführt“ und „befragt“. Sie mußten ein Papier unterschreiben, „daß sie kirchliche Veranstaltungen und kirchliche Einrichtungen nicht zu staatsfeindlichen Aktivitäten mißbrauchen“ würden. Man versucht, ihnen die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen zu verbieten.
Besonders fordert man die Leute auf, nicht mehr an Veranstaltungen „bei Stadtjugendpfarrer Kasparick“ teilzunehmen.

Donnerstag, 3. März 1988 Werner Leich trifft sich mit Erich Honecker.

Samstag, 05. März 1988
Wieder findet in Jena eine „Wanderung“ statt. Die Übergriffe der Polizei werden härter.
Rechtsanwalt Wohlrab hält es für wahrscheinlich, daß es zu Schnellverfahren kommt. In Gera werden Geldstrafen von mindestens 1000.- erwartet, in Halle habe man 2.500 DM festgesetzt, die innerhalb einer Woche zu zahlen sind.

Dienstag, 08. März 88
Die Krause von Abteilung Inneres schreibt an diesem Tag eine „Einschätzung zur zentral beantragten kirchlichen Dienstreise von Pfarrer Kasparick“, an deren Ende sie die Reise natürlich ablehnt. Damals weiß ich davon nichts, rechnete allerdings nicht damit, dass man mich in den Westen fahren lassen würde. Ich fand die sauber veranlasste Ablehnung der Reise später in den Stasiakten.

In der JG Stadtmitte halte ich den ersten Perestroika-Abend[1]. Es sind eine ganze Reihe Leute gekommen. Das Buch ist gut. Besonders die Analyse.

Montag, 14. März 1988 Erklärung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR: Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, „zu Verhältnissen beizutragen, unter denen Menschen gerne leben können und Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht mehr stellen wollen.“

Dienstag, 15. März 1988
Ich habe in Stadtmitte den zweiten Perestroika-Abend.

Mittwoch, 16. März 1988
In der Dienstbesprechung gebe ich einen ausführlichen Bericht über die Lage bei den Ausreisewilligen. Albrecht Schröter[2] unterstützt mich, andere widersprechen heftig. Besonders kritisch ist Pfarrer K, Siegfried Nenke und unser neuer Kollege am Melanchthonhaus. Er argumentiert: Er habe die Bitte von Theologiestudenten, auch in Melanchthon Fürbittgottesdienste zu halten, mit dem Argument abgelehnt, die Studenten würden sich ja sonst auch nicht in Gottesdienste einbringen.
Tja. Der Druck auch von den Kollegen auf uns in der Jugendarbeit war recht massiv. Es war eben nicht so, wie später die Legenden lauteten, die Kirche sei das Dach der Opposition gewesen. Es waren wenige, die uns unterstützten.

Samstag, 19. März 1988 Basisgruppentreffen in Weimar. Neueste Berichte aus Berlin und anderen Orten.

Dienstag, 22. März 1988
Ich biete „Perestroika-Abende“ an. Heute der Dritte Teil. Es ist die öffentliche Lesung aus dem gleichnamigen Buch von Michail Gorbatschow. Heute fragen wir nach den „Konsequenzen für uns“. Die Teilnahme ist eigentlich gut, ich überfordere die jungen Leute aber ein wenig. Eine Diskussion kommt kaum auf. Ihnen ist mehr nach konkreten Aktionen.
Vollversammlung der „Kirche von unten“ in Weimar.
Die JG Stadtmitte plant im Vorderhaus die Einrichtung eines „Leseladens[3]“.

Die Vormittage sind mit den Beratungen von Ausreisewilligen gefüllt. Es hat sich herumgesprochen, daß ich ihnen zuhöre und mit ihnen nach Wegen suche, die ihren Protest einerseits deutlich machen, sie andererseits aber möglichst vor dem Knast bewahren. Sie sitzen bei mir in der Wohnung auf dem langen Flur in einer langen Wartereihe wie beim Zahnarzt.
Ich berate immer nur unter vier, maximal unter sechs Augen, wenn es Verwandte sind. Insbesondere geht es darum, anhand des Strafgesetzbuches der DDR sich auszurechnen, für welche Aktion man wieviel Strafe bekommen kann.
Die Entscheidung, ob man dann dennoch an der geplanten Aktion festhält, muß jeder für sich treffen.

Freitag, 25. März 1988
„Jugendkreuzweg“. Diesmal beginnen wir im Albert-Schweitzer-Sprengel in Jena Ost und gehen bis nach Kunitz. Wir gehen immer schön oben auf den Hängen des Saaletals[1]. In der Ruine der Kunitzer Kirche halten wir die Schlußandacht. Ich wollte ganz bewußt in diese Bauruine gehen. Sehr eindrücklich ist diese Andacht mitten in der kaputten Kirche. Oben über der Empore steht irgendwas von Ewigkeit….

Samstag, 26. März 1988
In der Johannisstraße findet die Vollversammlung des „Kirchentages von unten“ statt. Wir reden vor allem über die Ausreisewilligen unter uns, über den Wehrersatzdienst, die SoFD-Initiative[3]. Es wird eine Erklärung verabschiedet, die unsere Beziehungen zu den Ausreisewilligen klären soll: sie werden aufgefordert, die Arbeit der kirchlichen Basisgruppen nicht für ihre persönlichen Ziele zu mißbrauchen. Aber, wir sagen auch, daß der Staat das Ausreiseproblem lösen muß. Er kann es nicht durch Kriminalisierung dieser Leute erreichen, sondern er muß endlich anfangen, den Dialog mit den Menschen zu führen, die das Land verlassen wollen.

Dienstag, 5. April 1988
Superintendent Siebert muß wieder mal beim Rat der Stadt bei Herrn Jähn antanzen. Diesmal geht es um die „ausländischen Künstler“, die in den Orgelkonzerten in der Stadtkirche spielen sollen, um eine neue Veranstaltung „Hoffnung für Nicaragua“ Ende April und um meine abgelehnte Dienstreise. Siebert will Gründe hören, warum ich die Reise im Auftrag des Bundes der Evangelischen Kirchen nicht antreten darf. Jähn, der Scheinheilige dazu: „Der Mitarbeiter verwies auf das mit Pf. Kasparick am 31.3.1988 gemäß Auftrag durch den Rat des Bezirkes geführte Gespräch und stellte erneut fest, daß uns seitens des Staatssekretariats keine Gründe mitgeteilt worden seien.“ Tja, so verlogen haben sie diskutiert: er selbst hatte ja die Gründe für die Ablehnung geliefert, wie ich später in der Stasiakte nachlesen konnte.

Siebert läßt nicht nach, will immer wieder die Gründe erfahren. Der Stasibericht dazu:
„Dabei äußerte er: Pf. Kasparick beschäftige sich unter hohem Verantwortungsgefühl und beinahe heldenhaftem persönlichem Einsatz mit den Problemen von Antragstellern; dabei habe er diese u.a. vor Demonstrationen in der Öffentlichkeit gewarnt. Zur Bemerkung des Mitarbeiters, daß bei dem Gemeindeabend am 16. im Niemöllerhaus einige Antragsteller, die mindestens 30 Jahre oder älter waren, äußerten, sie würden seelsorgerisch durch Pf. Kasparick betreut, bemerkte Sup. Siebert: Es sei innerkirchliche Entscheidung, welcher Pfarrer eine solche seelsorgerische Arbeit durchführe; die Kirche habe sich das Problem nicht ausgesucht. Ihm sei darüber hinaus bekannt geworden, daß Antragsteller bei Zuführungen bzw. Befragungen vor der Teilnahme an einer Veranstaltung von Pf. Kasparick am 11.3. gewarnt worden seien und eine entsprechende Ormig-abgezogene Erklärung unterschreiben sollten. Es sei für die Kirche ein unerträglicher Zustand, daß einer ihrer Amtsbrüder, Pf. Kasparick „in den Augen von MfS oder der Kriminalpolizei „suspekt“ sei, ohne daß Gründe dafür genannt würden. Anschließend äußerte Sup. Siebert u.a., Landesbischof Leich habe im Gespräch vom 5.3.88 darauf aufmerksam gemacht, daß es eine Reihe ungeklärter gesellschaftlicher Fragen gebe, auf die man der Kirche eine Antwort geben solle; bei manchem Bürger entstehe der Eindruck, unser Staat sei nur für den Staatsapparat da.“
Der „Mitarbeiter“, wie sich Jähn in seinen Protokollen immer gern bezeichnet, schreibt zum Schluß dieses Protokolls:
„Das Gespräch machte deutlich, daß Sup. Siebert sich mit den im Gespräch am 3.5. 88 durch Landesbischof Leich erhobenen Gesprächsforderungen voll identifiziert und daß er mit den Aktivitäten von Stadtjugendpfarrer Kasparick, besonders der Arbeit mit Antragstellern, einverstanden ist und sie gutheißt“.

Das gehörte zu den unschönen Aufgaben von Superintendent Udo Siebert: Er musste „den Buckel hinhalten“ in solchen Gesprächen. Das hat er gut gemacht, er hat sich, so gut er konnte, eingesetzt. Ich werd’ es ihm nicht vergessen.

Im April finden erste Dialog-Veranstaltungen statt, zu denen ich hingehe. Die „Christlichen Kreise“ der CDU laden den Studentenpfarrer und mich zur Diskussion ein. Die Bude ist voll. Die Stasi ist natürlich auch da. Wir üben den Dialog.

Dienstag, 03. Mai 1988
Die Stasi gibt ein Telegramm nach Jena durch: „Unserer DE[1] wurde bekannt, daß Pfarrer Kasparick, Ulrich in Abstimmung mit dem Greizer Pfarrer Matthias P für den 27.05.88 19.30 Uhr im Lutherhaus (Greiz, Gerichtsstraße) eine Veranstaltung mit dem Thema: „Neues Denken und die Gemeinde“ die Durchführung eines Informations- und Gesprächsabends über das Buch von M.S. Gorbatschow „Perestroika“ plant. Darüber hinaus wurde vereinbart, daß der zum Umgangskreis des Pfarrers P. gehörende Greizer Karli Coburger (Mitglied einer kirchlich orientierten alternativen Umweltgruppe) am 5.6. um 16.00 Uhr in Jena einen Umweltvortrag zum Thema „Bewahrung der Schöpfung – eine Herausforderung für uns“ hält. Zur Realisierung gezielter operativer Maßnahmen bitten wir um Rücksprache.“

Samstag 7./8. Mai 1988
Wieder mal ein Startversuch, das Rauchen zu lassen. Ergebnis: den ganzen Tag der Kopf wie leer. Gotha ist noch nicht fertig[1], geistert mir den Abend über durch den Kopf. Klare Gedanken wären hilfreich. Für Gotha.
„Umkehr“ – ein Riesenthema.
Problem: für den Abend in Gotha: Ich habe noch keine „Botschaft“ für die Jugendlichen. Ich hab’ noch nichts für sie, das ich in eine Methode gießen könnte. Am besten wird sein, wenn ich einfach den „Ideen“ morgen Abend noch mal im Einzelnen nachgehe. Vielleicht ergibt sich da etwas, mit dem man etwas anfangen kann. Jetzt geht es wieder mal auf halb eins zu, ich muss mich für ein paar Stunden hinlegen.

Sonntag 8. Mai 1988
Leicht bedeckt. 7.30 Uhr. Die Nacht war nicht die längste, aber wohl ausreichend. Der Schreibtisch lenkt mich immer noch zu sehr ab. Eigentlich gehören diese Morgenstunden mit zu den besten, wenn ich sie für mich habe. Aber innerlich bin ich noch nicht so ausgeglichen, wie ich’s bräuchte für die Arbeit.

Donnerstag 12. Mai bis Sonntag 15. Mai 1988 Jugendversammlung in Gotha
Schließlich hatten wir die zündende Idee: das Thema „Umkehr führt weiter“ wollten wir als Pantomime gestalten.
Dazu vier Sprecher, die die unterschiedlichen thematischen Zugänge liefern konnten. Die Texte sind sehr gut geworden, das Zusammenspiel mit Musik und Pantomime war hervorragend.
Es ist eine Glanzleistung der beteiligten Jugendlichen geworden, wir haben die Herzen der jungen Leute erreicht.
Über 400 waren in der Kirche, als unser sehr kurzes Stück aufgeführt wurde. 10 Minuten, die es in sich hatten. Manchen ist die Sprache weggeblieben, andere haben geweint. Sehr viele waren regelrecht beeindruckt und haben noch lange danach davon gesprochen. Ein schöner Erfolg.


[1] Die Vorbereitungen zur „Jugendversammlung“ im Vorfeld des Kirchentages


[1] Diensteinheit


[1] Gern wären wir durch die Stadt gegangen, aber ich war es leid, wegen einer solchen „Demonstration“ ständig wieder zu den Genossen zu müssen.

[3] Für die Einführung eines „Sozialen Friedensdienstes“


[1] wir hatten das Buch aus dem Westen. Und weil nicht alle Zugang hatten zu dem Buch, deshalb machte ich Gemeindeabende darüber, damit möglichst viele hören konnten, was sich in Rußland tat.

[2] Dr. Albrecht Schröter wird später Oberbürgermeister in Jena sein.

[3] Etwa nach dem Beispiel der Berliner Umweltbibliothek. Die Idee war, dort Literatur zugänglich zu machen, die man sonst nicht kriegen konnte.


[1] Auch er ein IM der Stasi.

[2] Stadträtin für Inneres, die Dienstvorgesetzte von Herrn Jähn

[3] Bei mir waren Ausreisewillige in der Sprechstunde gewesen, die „öffentliche Aktionen“ machen wollten, um ihre Ausreise zu beschleunigen. Wir haben zusammen das Strafgesetzbuch der DDR gelesen, damit ihnen klar wurde, was sie riskieren (Gefängnis). Und dabei sind uns diese „Wanderungen“ eingefallen: statt „Demonstration“ – die waren verboten, konnte man „wandern“ gehen, das war noch nicht verboten.


[1] Margot Honecker, DDR-Ministerin für Bildung. Sie legte großen Wert darauf, dass „Bildung“, insbesondere „Bildung der Jugend“ ausschließlich Sache des Staates sei, Kirche solle sich da raushalten.

[4] Sie wollten eine Stellungnahme der Brandenburgischen Evangelischen Kirche verlesen, was ihnen verwehrt wurde.

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (2). Das Umfeld im Jahre 1987

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (2). Das Umfeld im Jahre 1987

Als die großen Demonstrationen in Leipzig, Berlin und zahlreichen anderen Städten im Jahre 1988/89 begannen, war das Ende der DDR im Grunde besiegelt. Denn schon lange vorher hatten zahlreiche kirchliche Großveranstaltungen, Gruppeninitiativen, Papiere über all im Lande den Boden für die Veränderungen bereitet. Die Ökumenische Jugendversammlung im Mai 1988 in Gotha gehört ganz sicher mit in diese Reihe.
Wir hatten in Teil 1 gesehen, dass die Vorbereitungen für die Versammlung schon früh im Jahre 1987, also mehr als ein Jahr zuvor, begonnen hatten. Bis auf wenige hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter wurden die Vorbereitungen von vielen Ehrenamtlichen geleistet. Diese Ehrenamtlichen kannten sich zum großen Teil aus unterschiedlichen kirchlichen Zusammenhängen und Treffen. Der „Kirchentag von unten“ vom 24. – 28. Juni 1987 beispielsweise war Treffpunkt für die Gruppen der „Offenen Arbeit“ der evangelischen Jugendarbeit. Am 4. und 5. Juli 1987 fand in Erfurt eine „Werkstatt“ der Offenen Arbeit statt – wieder eine Gelegenheit, sich zu treffen, Informationen auszutauschen, sich zu verknüpfen.
Am 26. September 1987 fand in Weimar ein sogenanntes „Basisgruppentreffen“ statt, an dem viele Vertreterinnen der „Offenen Arbeit“ aus Berlin, Erfurt, Eisenach, Jena und anderen Orten angereist waren. Die jungen Leute trafen sich, berichteten von den neusten Entwicklungen in Berlin und anderen Städten; man hörte von Verhaftungen; man hörte von Problemen Jugendlicher mit dem Staat; man hörte davon, wie kirchliche Mitarbeiter sich verhielten – der enge persönliche Austausch war Kennzeichen dieser Treffen, denn die wenigsten verfügten über ein eigenes Telefon. Eine Kommunikation, wie sie heute normal ist (Handy, Laptop, mail, social media) war damals unvorstellbar. Man musste sich schon in den Zug setzen oder von jemandem im Auto mitgenommen werden zu so einem Treffen, damit man sich informieren und austauschen konnte. Die Bedingungen waren nicht einfach.
Wieder ein anderer Arbeitszusammenhang der evangelischen Jugendarbeit, in die ich direkt eingebunden war, war die „Beratung von Wehrpflichtigen„. Zwar gab es offiziell zum Dienst an der Waffe keine Alternative in der DDR. Aber man konnte den Dienst an der Waffe verweigern und sich als „Bausoldat“ mustern lassen – oder „total verweigern“. Letzteres war nicht selten mit massiven Repressalien verbunden, die in nicht wenigen Fällen bis zum Gefängnis und zum Ausreiseantrag führten. Die evangelische Jugendarbeit hatte beispielsweise in Jena einen „Arbeitskreis Wehrdienstfragen beim Stadtjugendpfarramt“ eingerichtet, der regelmäßig Vorbereitungs-Seminare anbot. Im Rollenspiel konnten sich die jungen Männer auf die Musterung vorbereiten und ihre Argumente schärfen, die sie brauchten, um die Musterung auch zu bestehen und „zu den Bausoldaten“ gemustert zu werden. Ehemalige Bausoldaten waren die ehrenamtlichen Leiter dieses Arbeitskreises. Stephan Schack und Andreas Kosmalla gehörten zu den besonders Aktiven in Jena, denen ich noch heute für ihr Engagement dankbar bin. Wir sind nach wie vor in Verbindung.
Alle diese Arbeitszusammenhänge der evangelischen Jugendarbeit standen unter Beschuss durch die Staatssicherheit. Besonders die „Offene Arbeit“ und die „Arbeit mit Wehrpflichtigen“ war der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Ich finde deshalb in meiner Stasi-Akte zahlreiche Hinweise auf die Beobachtung gerade dieser Arbeitsfelder. Als wir Pastoren und Diakone uns vom 14. – 17. September 1987 zu einem Pastoralkolleg (Weiterbildung) zum Thema „Seelsorge an Wehrpflichtigen“ in Neudietendorf trafen, wurde das Programm von beflissenen Kollegen schon im Vorfeld an die Stasi gemeldet und unmittelbar hinterher von der Veranstaltung berichtet.

Auch die Vorbereitungen der Jugendversammlung in Gotha waren frühzeitig in Kreisen der Staatssicherheit bekannt. Der erste Beleg davon stammt bereits vom 8. Januar 1987 ! (Man erkennt am Datum: „erhalten Cramer am 8.1.87“, dass der Spitzel direkt von der Konferenz berichtet hat.)

„Runge“ berichtet an die Stasi den bis dahin bekannten Planungsstand:

„Die Firma“, wie wir die Staatssicherheit damals auch nannten, war also von Anfang an im Bilde und bekam nun fortlaufend Berichte über den Fortgang der Vorbereitungen. Wie wir mittlerweile wissen, hatte die Staatsicherheit ihre Leute sehr präzise „platziert“: der Jurist, bei dem alle komplizierten Fälle im Zusammenhang mit Wehrdienstfragen zusammenkamen, Wolfgang Schnur, war Stasi-Mann. Er war regelmäßiger Gast bei Tagungen der evangelischen Jugendarbeit und galt als vertrauenswürdiger „Mann der Kirche“ – bis seine andere Seite bekannt wurde. Es gab im Jenaer Konvent Kollegen, die direkt berichtet haben; es gab auch unter den Jugendlichen den einen oder anderen, den man erpresst hatte, für die „Firma“ zu berichten; es gab bis hinauf in die Kirchenleitung gut informierte Stasileute. In der Kirchenprovinz Sachsen besonders schwerwiegend der Präsident des Konsistoriums, Detlef Hammer.
Dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit „unter Beobachtung“ standen, dass man unsere Post kontrollierte, das Telefon abhörte, unseren Besuch – insbesondere den aus den westdeutschen Partnergemeinden – überwachte; dass man in unseren Veranstaltungen saß und mitschrieb, – all das ahnten wir, manche wussten es auch, wir gingen jedenfalls davon aus. Wir wussten allerdings nicht, wer berichtete. All das kam erst nach dem Fall der Mauer ans Tageslicht, als die Akten zugänglich wurden.
Wir haben uns nicht beirren lassen. Dass Großveranstaltungen wie die Jugendversammlung in Gotha vom Mai 1988 dennoch so stattfinden konnten, wie sie dann stattfanden – obwohl Staatssicherheit und „Abteilung Inneres“ bei den Räten der Städte und der Bezirke von Anfang an bestens im Bilde waren und uns auch Schwierigkeiten machten – dass unsere Großveranstaltungen dennoch stattfinden konnten, das wundert mich heute immer noch. Und ich bin dankbar dafür.
Man hat sich später innerhalb der Landeskirchen mit der Problematik „Stasi in der Kirche“ auseinandergesetzt. Die Landeskirchen haben das auf verschiedene Weise getan und auch die Berichte über diese Arbeit fallen verschieden aus. Sie sollen an dieser Stelle auch nicht behandelt werden, das wäre ein großes eigenes Kapitel.

Wir werden in Teil 3 unserer Dokumentation zur Jugendversammlung in Gotha sehen, wie sehr sich die Dinge im Jahre 1988 verschärften, nachdem bei der jährlich stattfinden Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar eines jeden Jahres in diesem besonderen Jahr Bürgerrechtler unter den Demonstranten auftauchten, die sogar noch selbst gemalte Transparente mitgebracht hatten: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg) stand auf einem dieser Plakate geschrieben. Mehr dazu und wie sich diese Demonstration und ihre Folgen auf die Jugendversammlung in Gotha auswirkte, in Teil 3.

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (1)

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (1)

So manch einer glaubt, das Ende der DDR sei mit den großen Demonstrationen des Jahres 1989 in Leipzig und Berlin gekommen. Die historische Wahrheit ist eine andere. Es gab eine „Bewegung hin“ zum Ende der DDR. Nicht ohne Einfluss darauf waren kirchliche Großveranstaltungen wie Kirchentage, Landesjugend-Sonntage, Werkstätten und ähnliche Formate.
Die „Jugendversammlung“ vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha gehört ganz sicher in die Reihe der Großveranstaltungen, die durch ihre Breitenwirkung ihren Beitrag zum Ende der DDR geleistet haben.
Im Folgenden sollen nun Dokumente über jene Versammlung zur Verfügung gestellt werden, allesamt aus meinem Privatarchiv. Die Idee ist, dass ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Projekt, die über eigene Erinnerungen und Dokumente verfügen, diese hier im blog anfügen und ergänzen können, damit allmählich ein ungefähres Gesamtbild entstehen kann. Ich beginne mit den eigenen Dokumenten.
Es handelt sich um drei Arten:
1. Protokolle der Vorbereitungstreffen zur Jugendversammlung (sowohl maschinenschriftlich als auch handschriftliche Notizen)
2. Dienstpost zwischen Landesjugendpfarrer Jürgen Friedrich (Eisenach) und den mit der Vorbereitung befassten Mitarbeitern
3. Material von der Versammlung selbst
4. Reaktionen. Vor allem die der Staatssicherheit. Die Reaktionen der Stasi auf die Jugendversammlung entnehme ich zu einem späteren Zeitpunkt meiner Stasiakte, die unter der Bezeichnung „OV Schwarz“ geführt wurde.

Wir beginnen die Dokumentation mit den Vorbereitungen zur Versammlung.
Der erste Brief von Landesjugendpastor Jürgen Friedrich an mich stammt vom 10. Februar 1987.

Die Vorbereitungen zur Jugendversammlung begannen mehr als ein Jahr vorher. Zunächst waren wir drei angesprochen: Pastor Diethard Kamm, Stadtjugendpfarrer Ariberth Rothe (Erfurt) und ich. Die Sache war kompliziert, weil Erfurt nicht zur Thüringischen Landeskirche gehörte, also „über Landesgrenzen hinweg“ kooperiert werden musste.
Die Arbeitsbedingungen waren schlecht: ich verfügte nicht mal über ein Telefon (was die Stasi zu verhindern wusste), weshalb wichtige Absprachen schriftlich per Brief erfolgen mussten, oder ich musste zu jemandem gehen, „der ein Telefon hatte“. In der Johannisstraße 14 in Jena, wo sich meine Dienstwohnung befand, konnte ich eine Etage tiefer zur Diakonie telefonieren gehen – dort allerdings hörte die Stasi mit, wie wir mittlerweile wissen.
Drucken konnte man nichts, denn dafür waren staatliche Druckgenehmigung erforderlich. Wir waren darauf angewiesen, entweder mit „Durchschlägen“ (Schreibmaschinenblätter mit unterlegtem Blaupapier) oder mit „Matrizen“ zu arbeiten, die aber maximal 50 Abzüge erlaubten. (woraus sich die sehr schlechte Qualität etlicher Dokumente erklärt). „Gute Matrizen“, Wachsmatrizen also, hatten wir nur, wenn uns ein edler Spender aus der Patengemeinde versorgt hatte, wir hüteten diese besonderen Matrizen sorgsam.
Im Grunde mussten alle Arbeitsmaterialien selbst hergestellt werden. Der Button zum Beispiel, der noch Ärger mit dem Staat brachte:


Das Thema der Jugendversammlung war: „Umkehr führt weiter“. Man warf uns später vor, dieser Finger auf dem Button zeige „in Richtung Westen. Das sei eine Aufforderung zum Verlassen der Republik“ und andere Seltsamkeiten. Christhard Wagner, der gleich ins Spiel kommt, weiß mehr darüber zu berichten.

Diethard Kamm (Creuzburg) sagte zu, im Team mitzuarbeiten und brachte gleich noch jemanden mit: den damaligen Kreisjugendpfarrer Christhard Wagner.

Wir haben uns schon bald getroffen. Meine handschriftlichen Notizen von jenem Treffen zeigen, wie sehr wir um jedes Detail ringen mussten. Wir standen vor einem leeren Blatt Papier, hatten einen Arbeitsauftrag, eine Großveranstaltung für Jugendliche zu entwerfen, die irgendwie in einem Zusammenhang mit dem geplanten Kirchentag stehen sollte. Alles Weitere war unklar. Schon der Titel der Veranstaltung musste erst entstehen, wie das Protokoll sehr schön zeigt. Wir einigten uns schließlich auf „Jugendversammlung“. Und, da wir befürchteten, es könne eine „Veranstaltung von oben“ (der kirchlichen Mitarbeiter also) werden – dann war der entscheidende Gedanke geboren: „Ein Delegiertenprinzip wäre gut“. In meiner handschriftlichen Notiz vom 23. 3. 1987 liest sich das so:

Dieses „Delegiertenprinzip“ war uns aus kirchlichen Zusammenhängen vertraut, waren doch unsere Synoden durch gewählte Synodale besetzt. Im Konflikt und in der Auseinandersetzung mit dem Staat jedoch hatte dieses „Delegiertenprinzip“, also die „Basisorientierung“ etwas überaus Verdächtiges, denn es führte dazu, dass die Jugendversammlung mit einer gewissen Legitimierung sprechen konnte. Man muss auch sehen, dass die kirchliche Jugendarbeit prinzipiell verdächtig war, denn nach Auffassung von Margot Honecker kam die Bildung und Bindung der Jugend ausschließlich dem Staate zu.
Nun musste ein Veranstaltungsort gefunden werden. Landesjugendpfarrer Jürgen Friedrich kümmerte sich darum und frage in Gotha an. Dort musste der Gemeindekirchenrat über die Sache befinden und entschied sich, „prinzipiell“ als Gastgeber zu fungieren.

Wir wussten also am 16. April 1987, etwa ein Jahr vor der Veranstaltung, für welche Räume wir planen konnten. Etwa zeitgleich kündigte Jürgen Friedrich „den staatlichen Stellen“ unser Vorhaben an, denn es war davon auszugehen, dass nun eine ganze Reihe von „Gesprächen“ zwischen Staat und Kirche stattfinden würden. Wir sind so offen wie möglich mit unseren Planungen dem Staat gegenüber umgegangen, denn wir wussten, dass wir bespitzelt wurden und wir hatten keine Geheimnisse.

Das Thema von Kirchentag und Jugendversammlung war ein Skandal in den Augen des Staates.
Denn unsere Planungen für die beiden Großveranstaltungen fanden in einem Umfeld statt, dass von zunehmender Kritik am Staat, „aufmüpfigen Ausreisewilligen“ und vor allem von den Veränderungen in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow geprägt war. Während Gorbatschow die Sowjetunion „ausfegte“ und für „Perestroika und Glastnost“ eintrat, hielt die DDR-Obrigkeit krampfhaft am Bestehenden fest und dachte nicht im Traum daran „umzukehren“.
Der Ruf zur „Umkehr“ ist nun aber ein uralter jüdisch-christlicher Ruf schon aus der Zeit der Propheten. Wir waren also in sehr sicherem Gelände, als wir dieses Motto für die Großveranstaltungen wählten.
Er führte allerdings im Kontext der „real existierenden DDR“ in den Jahren 1987/88 zu starken Konflikten. 1987 konnten wir noch nicht sehen, was im Januar 1988 geschehen würde: die Rosa-Luxemburg-Demonstration in Berlin nämlich, bei der etliche Oppositionelle verhaftet und später ausgewiesen wurden. Es flammten überall im Lande „Fürbittandachten für die zu Unrecht Inhaftierten“ auf, die sich rund um die Friedensgebete zahlreicher Kirchgemeinden bildeten, die schon seit langen Jahren und meist in sehr kleinem Kreis üblich waren. Plötzlich aber wuchsen diese „Friedensgebete“ auf immer größere Teilnehmerzahlen, der Konflikt zwischen Basisgruppen, Kirche und Staat eskalierte, verschärfte sich; die kirchlichen Räume wurden zu klein – die Menschen gingen auf die Straßen.
Das aber ist ein kleiner Vorgriff, der aus dem Rückblick auf jene Jahre erlaubt ist.
Wir schließen diesen ersten Beitrag Anfang des Jahres 1987. Eine kleine Vorbereitungsgruppe hatte sich gefunden (Aribert Rothe, Stadtjugendpfarrer Erfurt; Diethard Kamm, Jugendpfarrer Creuzburg; Christhard Wagner als Kreisjugendpfarrer; Ulrich Kasparick, Stadtjugendpfarramt Jena); wir hatten eine Idee, wie die Veranstaltung heißen könnte: „Jugendversammlung“ nämlich. Und wir wussten, wo die Sache stattfinden konnte.
Nun begann die Arbeit.