Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Ihr Programm „Der Klang der Erde ist Friede“ hatte sie zuletzt im November 2022 im Naumburger Dom aufgeführt. Als ich Veronika Otto anrief, fragte ich gleich, ob das denn hinzukriegen wäre mit der Akustik, der Naumburger Dom habe doch nun mal eine ziemlich andere Akustik als unser Musikzimmer. „Ach, das kriege ich hin“, war ihre fröhliche Antwort, „ich spiele ja nicht linear, sondern ich kreire Klang-Räume. Das klappt auch in Deinem Musikzimmer.“ Na, ich war neugierig. Und dann kam sie, bepackt mit ihren Instrumenten. Cello, mongolische Pferdekopfgeige und kasachisches Kobyz. Veronika Otto ist ausgebildete Cellistin, seit 1995 selbständig. Wenn sie spielt, spielt sie nicht irgendein „ein Stück“, sondern sie selbst tritt sofort als Person in den Raum. Sie spielt. Sie spielt nicht nach Noten (das kann sie selbstverständlich), sondern sie spielt mit Naturtönen.

Dafür sind Cello, Pferdekopfgeige und Kobyz ideale Instrumente, denn es sind „singende Instrumente“. Das Spiel mit den Naturtönen – zum Beispiel mit dem „Klang der Erde“, einem Ton, der unserem „G“ sehr nahe kommt – setzt sich fort im Obertongesang.

Veronika Otto begann ihren Abend mit einem Lied, genauer, mit einem gesungenen Gedicht aus dem Jahre 1915

„Lied der Mütter gegen den Krieg“

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen,

Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage.

Wer wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken,

Damit er einer andern Mutter teures Kind erschiesst?

Es ist die höchste Zeit, die Waffen fortzuwerfen.

Es könnte niemals einen Krieg mehr geben,

Wenn alle Mütter in die Welt es schreien würden:

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!

Zum Hintergrund dieses Liedes weiß man: es war in Amerika aufgekommen (I didn’t raise my boy to be a soldier). Am 23. Februar 1915 wurde es in der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“ abgedruckt. Die erklärende Notiz dazu lautete: „Das Lied der Mütter gegen den Krieg. In New York wird jetzt in allen Varietés, Musikhallen, auf der Strasse und im Salon ein Protestlied gegen den Krieg gesungen, das in deutscher Übersetzung lautet…“

In seiner Nummer vom 2. März 1915 druckte der Brünner „Volksfreund die Notiz ab.
Aus dem Brünner Blatt übernahm sie die „Volkswacht“ in Mährisch-Schönberg in ihre Nummer vom 5. März. Die Notiz wurde nirgendwo beanstandet.
Der Beamte der Bezirkskrankenkasse Freiwalden, Karl Langer, schrieb das Gedicht ab, machte auf der Schreibmaschine acht bis zehn Abzüge, von denen er an Frauen, die in die Bezirkskrankenkasse kamen, einige verteilte.

Die Behörde erfuhr davon. Karl Langer wurde sofort verhaftet und wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe vor das Landwehrdivisionsgericht Krakau in Mährisch-Ostrau gestellt. Nach diesem Paragraphen macht sich der Störung der öffentlichen Ruhe schuldig, wer „zum Ungehorsam, zur Auflehnung oder zum Widerstande gegen Gesetze, Verordnungen (…) auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht.“ Das Landwehrdivisionsgericht erkannte Langer für schuldig und verurteilte ihn zur Strafe des Todes durch den Strang! Im Gnadenweg wurde vom zuständigen Kommandanten die Strafe auf fünf Jahre schweren Kerkers herabgesetzt. (Wiener Arbeiterzeitung vom 26. Mai 1917.) Dies Zeitzeugnis fand sich im Band: „So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch“ Herausgegeben von S. D. Steinberg, Raschers Jugendbücher, Band 5, Zürich 1919.“

Damit war der „Rahmen“ für den Abend gesetzt, denn Veronika Ottos Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ entstand, als der Ukraine-Krieg begann. Ihre innere Frage lautete in jenen Tagen: „Gibt es denn angesichts von immer neuen Kriegen und Konflikten nicht etwas, das alle Menschen eint?“ Ihre Antwort als Musikerin: es ist der Klang der Erde.
Denn die rotierende Erde (eine Rotation ist nichts anderes als eine Schwingung) kann man hörbar machen. Wenn man die ursprüngliche Schwingung mehrfach oktaviert, wird sie hörbar. Es erklingt beinahe exakt ein Ton, den wir „G“ nennen. Die Erdbewohner „baden“ sozusagen – ohne dass ihnen das bewusst wäre – in einem Klang, im Ton „G“ nämlich. Der Jazz-Musiker Joachim-Ernst Berendt hat auf diese Zusammenhänge ebenfalls hingewiesen.
Das Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ ist deshalb und konsequenterweise eine Improvisation über den Ton G, vorgetragen auf dem Cello.

Die Hörerfahrung – von vielen Teilnehmern des Abends bestätigt – war: diese Musik „packt sofort zu“. Man kann sich ihr gar nicht entziehen. Und, es geht eine starke Ruhe von ihr aus, selbst im ersten Satz, der ja eher unruhig beginnt. Diese Hörerfahrung unterscheidet sich fundamental von der Hörerfahrung in einem „normalen“ Konzertsaal. Eben, weil da nicht „ein Stück“ vorgetragen wird, sondern weil da ein „Klangraum“ ganz neu entsteht, der nicht in Noten notiert ist, sondern spontan und im Augenblick entwickelt wird, besser noch: sich entfaltet.

Verstärkt wurde diese neue Hörerfahrung nach dem Vortrag von „Der Klang der Erde ist Friede“, als Veronika die Mongolische Pferdekopfgeige und dann das kasachische Kobyz zur Hand nahm, beides auch Streichinstrumente mit einem unglaublich wirkungsvollen Klang-Raum, obwohl beide Instrumente nur zwei Saiten haben. Die Bögen sind aus Pferdehaar gefertigt und so gespannt, dass der Spielende die Spannung des Bogens mit dem Daumen feinsteuern kann. Ergänzt wird das alles durch begleitenden Oberton-Gesang.

Wir haben hinterher geredet. Wir hatten Gäste aus der Ukraine und Italien, Musiker von der Komischen Oper Berlin waren da, ein interessiertes Völkchen hatte sich da bei uns im Musikzimmer versammelt und berichtete von ihren Hörerfahrungen mit der Musik von Veronika Otto. Es gab sehr sehr viel Zustimmung und Be-Geisterung (das Wort wird ihr gefallen).

Wer sich einmal auf ein „ganz anderes“ Hör-Erlebnis einlassen will, wer einmal einen „erfrischend anderen Konzertabend“ erleben will, wie sich eine Französisch-Lehrerin nach dem Abend in einer Mail an uns ausdrückte, dem sei Veronika Otto empfohlen. Man erreicht sie über ihre Homepage oder über Ihre Mail: ottonica@gmx.de


Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Es ist schön in Bansin und in diesem Jahr wollten wir uns mal wieder etwas ausführlicher mit dem wohl berühmtesten Sohn des kleinen Ortes, Hans Werner Richter, befassen, weshalb wir uns ausgiebig mit ihm sowohl im kleinen Museum im „Hans Werner Richter Haus“ (einem ehemaligen Haus der Feuerwehr) als auch mit seinen Büchern beschäftigen, insbesondere mit denen über die von ihm geleitete „Gruppe 47“, zu der so wichtige Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann, Walter Jens und viele andere gehörten, die für die literarischen Neuanfänge nach dem Ende des Hitlerschen „Reiches“ so ungemein wichtig geworden sind.

Hans Werner Richter hat in seinen autobiografischen Büchern (etwa in „Spuren im Sand“, auch in „Geschichten aus Bansin“ und „Die Stunde der falschen Triumphe“) nachdrücklich aufgezeigt, wo er politisch stand. Eher im „linken Milieu“, der Sozialdemokratie nahestehend, heute würde man vielleicht etikettieren „links-liberal“. Richter hat sich mit der Gründung der „Gruppe 47“ sehr um die deutsche Literatur-Sprache verdient gemacht, denn diese Sprache war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört. Worte wie „Treue“, „Vaterland“, „Gehorsam“, „Heimat“, „Volk“ etc. waren unbrauchbar geworden, es galt, neu zu beginnen, weshalb bei den Treffen der „Gruppe 47“ vor allem scharfe Wort-Kritik geübt wurde. Der Nachkriegs-Literatur hat das sehr gut getan.

Hans Werner Richter starb zwar in München, liegt aber – seinem Wunsch entsprechend – in Bansin begraben. Wir haben ihn besucht; auch das Haus, in dem er mit seiner Familie ab 1908 gelebt hat, „Villa Paula“ in der Seestraße 68 in Bansin, wollten wir sehen. Heute beherbergt das Haus eine Buchhandlung.

Seestraße 68 in Bansin. Hier hat Hans Werner Richter mit seiner Familie lange Jahre gewohnt.

Um das Haus auch von innen sehen zu können, mussten wir bis zum nächsten Tage warten, da war die Buchhandlung geöffnet.
Was ich vorfand, hat mich erschreckt: sehr prominent, gleich unter Büchern zur „Gruppe 47“ präsentiert, der Kopp-Verlag. Der nun gehört zu den umstrittensten Verlagen überhaupt, DeutschlandradioKultur hat mehrfach umfänglich recherchiert und gesendet, u.a. in dem hier verlinkten Beitrag.
Selbst Wikipedia widmet sich dem Verlag überaus kritisch. Man kann erfahren, der Verlag führe  „rechtsesoterischegrenz- und pseudowissenschaftlicheverschwörungstheoretische sowie rechtspopulistische und rechtsextreme Titel.“

Soweit der Befund.
Ich fand, der Verlag habe im ehemaligen Wohnhaus der Gründers der Gruppe 47 nichts zu suchen und schrieb deshalb an den Buchhändler: „Der Kopp-Verlag ist der führende Verlag der organisierten Rechtsextremisten nicht nur in Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz. Er munitioniert die AfD und gehört zu denen, die gern „Verschwörungsmythen“ verbreiten. Es wäre sicher nicht im Sinne von Hans Werner Richter, derlei Verlagsaktivitäten zu unterstützen.
Meine Frau und ich haben deshalb darauf verzichtet, bei Ihnen zu kaufen“.

Dann kam eine Antwortmail, die mich nachdenklich gestimmt hat, denn darin war nicht nur das in solchen Fällen Übliche zu lesen, die Bücher seien nicht indiziert, sie seien auch nicht verboten, und was nicht verboten sei, könne gehandelt werden, sondern in der Antwortmail kam eine Verteidigungsrede. Darin heißt es u.a.:

„….vielen Dank für Ihre Mail.

In unserer Buchhandlung ist nicht nur der Kopp-Verlag vertreten, sondern eine große Auswahl von Verlagen mit unendlich vielen verschiedenen Titeln.
Unsere Kundschaft wünscht auch diese Abwechslung, denn die gleiche Literatur, wie in vielen anderen Buchhandlungen Deutschlands ist für uns nicht ausreichend.
Das ist ein Ausdruck von Vielfalt und Toleranz gegenüber verschiedener Standpunkte.
Keines der Bücher in unserem Laden ist indiziert und so viel wir wissen, besteht in unserem Land immer noch Meinungs- und Pressefreiheit. …
Wenn Sie der Meinung sind, dass der Kopp-Verlag rechtsextremes Gedankengut verbreitet, geben Sie uns doch bitte nur ein einziges Beispiel dafür.
Der Zusammenhang mit einer Bundestagspartei und angeblichen Verschwörungsmythen erschließt sich uns nicht.
Hans Werner Richter schätzen wir aus Darstellungen seiner Familie als einen weltoffenen, systemkritischen aber vor allem selbstdenkenden Autoren ein.
Offenbar beziehen Sie allerdings Ihre sehr einseitigen und eingeschränkten Informationen immer noch aus den Massenmedien.
Das tut uns sehr leid.
Denn es gibt in der Zwischenzeit genügend Literatur, für Menschen, die der Wahrheit näher kommen wollen.“

Das ist AfD-Jargon. Da weiß jemand um „die Wahrheit“; da bezieht man seine Informationen nicht mehr „aus den Massenmedien“, Menschen, die das tun (zum Beispiel DeutschlandradioKultur zitieren), gelten als „sehr einseitig und eingeschränkt informiert“ etc. etc.

Schade.
Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, der alte Hans Werner Richter wäre aus seinem Grabe aufgestanden, um in seinem ehemaligen Wohnhaus mal nach dem Rechten zu sehen.
Ich glaube, er hätte dem Buchhändler mit einem kurzen pommernschen Satze die Gedanken grade gerückt: „Lass den Schiet“. Dann wäre er grummelnd wieder die Seestraße hinauf gegangen und hätte sich wieder dort zur Ruhe gelegt, wo er nun schon seit 1993 liegt.
In diesem Jahr übrigens feiert Bansin den 30. Todestag seines berühmtesten Sohnes. Zahlreiche Lesungen sind zu erwarten.
Ich wünsche diesen besonderen Veranstaltungen viele Besucher.

Jochen Klepper und Herr Kubitschek. Oder, weshalb die Neue Rechte versucht, den Kirchenlieddichter Klepper „als einen von uns“ zu reklamieren

Jochen Klepper und Herr Kubitschek. Oder, weshalb die Neue Rechte versucht, den Kirchenlieddichter Klepper „als einen von uns“ zu reklamieren

Götz Kubitschek unterhält sich mit Erik Lehnert über Jochen Klepper. Man kann das auf dem youtube-Kanal von Schnellroda unter dem Datum 3. 2. 2021 sehen. Die Sache dauert etwa 1 Stunde und 45 Minuten.
Worum es geht, erfährt man im letzten Satz des Videos: „Es ging uns mit diesem Beitrag darum, Klepper als einen von uns zu reklamieren“ sagt Erik Lehnert, der Geschäftsführer vom „Institut für Staatspolitik“, das seit 2020 vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft ist und entsprechend beobachtet wird.

Die Sache hat mich interessiert, weil ich gerade über Jochen Klepper, dessen Lieder mir seit Kindertagen vertraut sind, recherchiere und ein literarisch-musikalisches Programm vorbereite, das auch jüngeren Zeitgenossen diesen wichtigen Dichter nahebringen soll. Also hab ich mir die knapp zwei Stunden Video aus Schnellroda angetan. Und hab mich hinter gefragt, was die Sache soll? Man gibt sich belesen beim Schnaps aus Wilthen, hält das eine oder andere Buch in die Kameras; wenn es um Kriegstagebücher geht, gleich mehrere – und man endet damit, das Ganze habe deshalb stattgefunden, um Jochen Klepper „als einen von uns zu reklamieren“. Das kommt zwar erst als exakt letzter Satz, war aber von Anfang an klar. Was also soll das Ganze?


Denn Klepper war sicher national eingestellt, auch hatte er eine „Achtung vor dem Heer“, auch er hielt „Versailles“ für erniedrigend, wie es bei vielen insbesondere unter den Protestanten damals war, selbst bei solchen, die aktiv am Attentat gegen Hitler gearbeitet haben, anfangs sogar bei deutschen Juden, insbesondere bei den Weltkriegsteilnehmern.
Aber eines war der Jochen Klepper ganz gewiss nicht: ein völkisch denkender, rassistisch argumentierender Mensch. Ganz gewiss war er kein Kumpan von Herrn Kubitschek und Herrn Lehnert, davon zeugt seine Biografie mehr als überdeutlich.
Vielmehr hat sich Klepper das Schicksal der Juden zu eigen gemacht, er war verheiratet mit einer deutschen Jüdin, hatte deren Töchter Brigitte (geb. 1920) und Renate (geb. 1922) als Stieftöchter angenommen. Er hat, als die Repressionen gegen ihn zunahmen, abgelehnt, als seine Frau sich von ihm scheiden lassen wollte, „um seine Arbeit nicht weiter zu behindern“ und ist sehr bewusst bei ihr geblieben, bis in den Tod übrigens.
Nein, Klepper ist das Gegenteil eines rassistisch und völkisch denkenden Menschen, dazu war er viel zu unpolitisch, wie er selber ja immer wieder betont hat. Aber er war ein sehr wacher Geist.
Als die Olympiade im August 1936 in Berlin stattfand, hat der hochsensible Dichter Klepper statt der kraftstrotzenden Sportlerinnen und Sportler der Völkisch-Nationalen „Tote durch das Brandenburger Tor“ laufen sehen, wie es sein Freund Reinhold Schneider betroffen bemerkte, als er Kleppers „Olympische Sonette“ las. (vgl. dazu die ausgezeichnete Dissertation von Martin Wecht „Jochen Klepper. Ein christlicher Schriftsteller im jüdischen Schicksal. Düsseldorf und Görlitz 1986, S. 107 ff).
Und als die Olympiaglocke Mitte August 1936 zum Ende der Olympiade läutete, hörte Klepper „die Totenglocke Europas“ läuten, weil er sah, worauf das Ganze hinauslaufen würde, auf einen totalen Krieg nämlich, den hat er schon 1935 sehr wach kommen sehen.

Es kann auch überhaupt keine Rede davon sein, dass Klepper im „Vater“ „das Preußentum“ schlechthin verherrlicht habe, wie Lehnert und Kubitschek suggerieren, „Lieber Himmel, des „Vaters“ Regierung ist Kritik, nicht Verherrlichung des Heutigen“ notiert er in sein Tagebuch am 16. 1. 1934 (vgl. Wecht 83).

Was die beiden mit ihrem Schnapsglas in der Hand zum Verhältnis Kleppers zur „Bekennenden Kirche“ zu sagen haben, trifft ebenfalls nicht zu. Klepper hat die „Bekennende Kirche“ nicht bekämpft; er hat sie nicht zum eigenen Anliegen gemacht, er war kein Mann der „Bekennenden Kirche“, weil er einzelne Repräsentanten dieser innerkirchlichen Bewegung als zu laut und zu „aktivistisch“ fand, das war seine Sache nie; er las allerdings ihre Zeitschrift „Junge Kirche“. Seine Kritik an der BK war, sie käme „über den politischen Impetus nicht hinaus“ und wisse „wenig von der Bibel“. Das wars dann aber auch schon so ziemlich mit der Kritik. Nein, Klepper hielt sich für einen unpolitischen Menschen, wie im Tagebuch mehrfach bezeugt ist; er hielt nichts von lauten und „aktivistischen“ Menschen. Er war ein stiller, sehr wacher und aufmerksamer Mensch.
Einen, den die „aktivistischen Menschen“ von der national-sozialistischen Ecke auf der Liste hatten. Sie haben ihn schikaniert, haben ihm gekündigt, haben seine Arbeit behindert und haben ihn und seine Familie schließlich in den Tod getrieben.

Bleibt also die Frage, was die Herren Kubitschek und Lehnert mit ihrem seltsamen Video bezwecken?
Sie versuchen, Menschen, die in ihrem Denken dem Denken von Kubitschek/Lehnert diametral entgegengesetzt waren, „als einen von uns“ zu reklamieren. So hat man es schon unverschämterweise mit den Geschwistern Scholl getan, so hat man es mit der Kommunistin Rosa Luxemburg getan (man zitiert von ihr immer gern „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“).
Und nebenher will man vor allem Kriegstagebücher verkaufen, die man deshalb im Video auch ausführlich und breit in die Kamera hält; der Herr Kubitschek betreibt ja schließlich eine „Versandbuchhandlung“.

Interessanter Weise gehen die beiden Herren mitsamt ihren Schnapsgläsern auf den eigentlichen Kern der Klepperschen Dichtung, die Lieder nämlich, nur ganz zum Schluß und eher am Rande ein. Sie können einfach nichts anfangen mit Versen wie

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Etwas aus meiner Werkstatt


Internet bedeutet für mich: täglich dazu lernen. Ich bemühe mich schon etliche Jahre, so einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, aber die Möglichkeiten des Netzes sind so enorm gewachsen, dass ich gar nicht mehr hinterher komme.
Selbstverständlich nutze ich schon seit langen Jahren facebook, twitter, früher auch mal google+, instagram und pinterest, blogge, nutze soundcloud, youtube und all die neuen Möglichkeiten.
Aber dass ich jetzt meine Manuskripte von zu Hause aus sowohl als print als auch als ebook zur Verfügung stellen und dafür e-publishing samt seiner interessanten Vertriebswege nutzen kann, das ist schon eine prima Sache, dass muss ich schon sagen. Ich bin ja schließlich mal in einem Land auf die Welt gekommen, in dem man sich alles was länger als 20 Zeilen war, vom Staat genehmigen lassen musste – das bedeutet allerdings auch tägliches Weiterlernen. Learning by doing. Formatieren, layouten, produzieren lassen – all das.  Aber was für großartige Möglichkeiten gerade für ehrenamtlich Engagierte, für Vereine, für Kirchgemeinde, für Kulturinitiativen sich dadurch ergeben! Ich bin immer noch begeistert.

Diejenigen, die beruflich in der Branche epublishing arbeiten, werden müde lächeln, wenn sie meine Zeilen lesen, ich bitte um Nachsicht, aber für mich sind das schon wichtige Entdeckungen, wenn ich zum Beispiel die Autorenseite bei #amazon entdecke. Oder wenn ich sehe, mit welchem großen Vertrieb #epubli arbeitet. Schließlich mache ich diese Sachen nicht beruflich.

Jedenfalls geht es mir immer noch so, daß ich mich täglich daran freue, was das Internet für überaus praktische Dinge für einen bereit hält und nutze sie gern.  Und: dazulernen hat noch niemandem geschadet.

Besondere Menschen. Eine Erinnerung an Klaus-Peter Hertzsch


Für mich ist er einer dieser wenigen besonderen Menschen, die einem im Leben begegnen.
Dieser zierliche, beinahe blinde kleine Mann mit den von Krankheit gezeichneten Händen und der zarten Jungen-Stimme.
Als mich gestern die Nachricht von seinem Tode erreichte – tauchten sofort Bilder auf. Bilder aus vergangenen Tagen, über ein Vierteljahrhundert liegen sie zurück und sind doch so gegenwärtig. Das Studium an der Friedrich-Schiller-Universität im schönen thüringischen Städtchen Jena unter den Bedingungen der Diktatur. Ich war von Naumburg gekommen, um bei ihm zu lernen.
Er hatte „etwas zu sagen“, etwas von der Sprache und etwas von der Hoffnung.
Als erstes kam die Erinnerung an seine zierliche Gestalt und die große Brille, die er brauchte, wenn er mal – was selten vorkam – etwas ablesen musste. Meistens sprach er auswendig. Sein phänomenales Gedächtnis habe ich immer bewundert. Egal, welches Lied angestimmt wurde – er konnte es auswendig. Früh schon hatte ihn seine Augenkrankheit gezwungen, zu improvisieren. Lesen war schlecht – aber auswendig lernen, das war möglich.
Und dann war da seine Stimme. Diese stets lächelnde, beinahe verschmitzte, oft hintergründige, zarte Stimme.
Wenn er ans einfache Pult trat im größten Raum der „Sektion Theologie“, wie das damals noch hieß, der überfüllt war von Menschen, die die Professor-Ibrahim-Straße aus der dunklen Stadt hinaufgestiegen waren, um ihm zu lauschen, wenn er vortrug. Ging da ans Pult, rückte mit der linken Hand die große Brille zurecht, schwieg einen Moment und begann. Und vom ersten Moment an hatte er uns gepackt, ergriffen, angefasst, berührt.
Vorlesungen über Literatur, die selbst Literatur waren. Gesprochenes Wort, Rede. Ja. Und doch druckreif. Erzählend, packend auch, heiter nicht selten und immer eröffnend. Eine Welt ging mir auf und nicht nur mir, das weiß ich von vielen, die bei ihm auch gelernt haben.
„Schattenland. Ströme“. Johannes Bobrowski und Max Frisch, Christa Wolf und andere. „Unsere Sprache ist klüger als wir“. „LTI“ von Klemperer haben wir gelesen – und daneben lag das „Neue Deutschland“. „Achtet auf die Sprache!“
Die Welt des in Verantwortung gesprochenen Wortes, die er hat er zugänglich gemacht, hat die Türen dahin geöffnet und die Ohren aufgeschlossen für DAS WORT, um das es ihm in allem, was er schrieb und sprach, immer zu tun war.
Erzählkurse gehörten zur Ausbildung. Wir sollten erzählen lernen. Ins gemütliche Dörfchen Tautenburg sind wir gefahren, um zu wandern, gemeinsam zu essen und – erzählen zu lernen.
Und: „Wenn es Ihnen schon möglich ist: legen Sie ihr Manuskript beiseite. Predigt ist Rede, nicht Lese……“
Weshalb wir erzählen lernen sollten?
Seine Antwort: „die angemessene Form, sich dem Geheimnis zu nähern, ist die Erzählung“.
Das war eine Theologie, die mich im Kern berührt hat, dazu hatte ich unmittelbaren Zugang. Das Buch der Bücher erschloss sich auf ganz neue Weise, wurde zum Lehrmeister, zum begehrten Studienobjekt.
Vielen anderen ging es ebenso.

Nun ist er gestorben. Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch. Ein großer Lehrer. Ein Stiller im Lande, auf den man aber gehört hat, der geprägt hat, der Hoffnung gegeben hat, der uns hingewiesen hat auf die Große Hoffnung, auf die wir zugehen. Nicht nur im kleinen Thüringen, sondern in ganz Deutschland und weit darüber hinaus.

Bei youtube gibt es eine kleine Dokumentation über Ausschnitte aus seinem Leben. Darin sagt Klaus-Peter Hertzsch: „Es ist schön, wenn man einem sterbenden Menschen sagen kann: Auf Wiedersehen. Das ist tragender Glaube.“

Ich sage das nun: „Lieber Professor Hertzsch, ich bin sehr dankbar, dass wir uns begegnet sind. Und ich bin dankbar dafür, dass wir einen für mich sehr wichtigen Abschnitt unserer Lebenswege gemeinsam gegangen sind. Auf Wiedersehen.“

Die Weisheit der Sprache


Sonnenaufgang in der Uckermark
Sonnenaufgang in der Uckermark

Die Sprache, die ich nutze, ist älter als ich. Sie ist reich, birgt altes Wissen der Generationen, die vor mir gelebt haben. Diese Erfahrungen sind in Worte geronnen. Manche sind sehr alt.
Die Sprache beherbergt Erfahrungen, auf die ich neugierig bin.
Deshalb denke ich ihr nach, höre ihr nach, spüre ihr nach, bin auf Entdeckungsreise.
In aller Herrgottsfrühe“ war da heute einer aufgestanden, so stand es bei facebook zu lesen.
Ich sehe nach und finde: „Die Bezeichnung „Herrgottsfrühe“ kann sich auf Gott als dem Geber und Herrn der Zeit beziehen, oder aber es handelt sich um einen Hinweis auf das Läuten der Glocke zur Frühmesse „. (www.redensarten-index.de).
Gott als der Geber und Herr der Zeit.
Altes Wissen birgt sich da im Wort.
Alte Erfahrung.
Weitergegeben von Generation. Eingewurzelt nun in unserer Sprache. Damit diese Erfahrung nicht verloren geht.
Das Wort „Gott“ ist selbst eher eine Verdunkelung, denn eine Erklärung, weshalb ich es hier unerklärt stehen lasse, wie einst die Hebräer das Wort JHW. Wichtiger ist mir, was von ihm ausgesagt ist:
nicht wir, sondern „er“ (oder „es“, oder „sie“) ist Geber der Zeit.
Das ist die alte Erfahrung: ich kann meinem Leben nicht eine Sekunde hinzufügen. Leben ist Geschenk.
Alle, die glauben, man könne Leben „verlängern“, irren grundsätzlich.
Wir sind nicht die Herren der Zeit, die uns gegeben ist.
Wer sich morgens, in einem Urlaub vielleicht, die Freude bereitet, einen Sonnenaufgang still zu beobachten, den Moment, in dem ein neuer Tag geboren wird, kann eine Ahnung vom Gemeinten ergattern.
Wenn man ganz still nur beobachtet.
Nicht kommentiert.
Nur wahrnimmt.
Es lohnt sich, hinterher einmal aufzuschreiben, was man da eigentlich genau wahrgenommen hat.
Geschenkte Zeit.
Jochen Klepper dichtet 1937, die Nazis waren schon 4 Jahre an der Macht und glaubten, sie seien nun die Herren:

Der du die Zeit in Händen hast

1. Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ die Mitte fest gewiesen ist, führ uns dem Ziel entgegen.

2. Da alles, was der Mensch beginnt, / vor seinen Augen noch zerrinnt, / sei du selbst der Vollender. / Die Jahre, die du uns geschenkt, / wenn deine Güte uns nicht lenkt, / veralten wie Gewänder.

3. Wer ist hier, der vor dir besteht? / Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht: / Nur du allein wirst bleiben. / Nur Gottes Jahr währt für und für, / drum kehre jeden Tag zu dir, / weil wir im Winde treiben.

4. Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist. / Du aber bleibest, der du bist, / in Jahren ohne Ende. / Wir fahren hin durch deinen Zorn, / und doch strömt deiner Gnade Born / in unsre leeren Hände.

5. Und diese Gaben, Herr, allein / lass Wert und Maß der Tage sein, / die wir in Schuld verbringen. / Nach ihnen sei die Zeit gezählt; / was wir versäumt, was wir verfehlt, / darf nicht mehr vor dich dringen.

6. Der du allein der Ewge heißt / und Anfang, Ziel und Mitte weißt / im Fluge unsrer Zeiten: / bleib du uns gnädig zugewandt / und führe uns an deiner Hand, / damit wir sicher schreiten.

Lebenszeit.
Geschenkte Zeit.
Ich bin dankbar für jeden neuen Tag, der mir geschenkt wird.
Am klarsten fühle ich diese Dankbarkeit in aller Herrgottsfrühe, wenn der Tag noch klar und jung und unbenutzt vor mir liegt.

Ein Dank an Juli Zeh und Illija Trojanow


Juli Zeh und Illija Trojanow ist für die internationale Initiative der Schriftsteller gegen den Überwachungsstaat zu danken.
Die Initiative hat ein breites Medienecho gefunden, die Diskussion geht weiter. Das ist gut und wichtig.
Iris Radisch von der ZEIT kann man zustimmen, wenn sie meint, dieser Aufruf zeige „eine Internationale der Schriftsteller, wie es lange keine mehr gab“. Auch ist ihr Hinweis auf Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Stèphane Hessel berechtigt.
Allerdings weist Iris Radisch zu Recht darauf hin, dass der Aufruf „keinen Adressaten“ habe. Zwar wird an die UN appelliert, eine entsprechende „Konvention“ zu verabschieden, aber selbst dieses bleibt eher im Ungefähren.
Dem Aufruf fehlt die Konkretion.
Im Moment ist die Beobachtung sicher nicht ganz unberechtigt, dass es in den Parlamenten für das Anliegen an wirksamer Unterstützung fehlt. Zwar gibt es hinreichend allgemeine Erklärungen, dass „man“ sich um den Schutz der Bürgerrechte kümmern „müsse“, Konkretionen jedoch fehlen.
Allerdings konnte man im amerikanischen Parlament erleben, dass es davon Ausnahmen gibt. Dort wurde der Versuch unternommen, die „Dienste“ unter eine strenge parlamentarische Kontrolle zu zwingen, indem man ihnen das Geld kürzt.
Nur wenige Stimmen fehlten der notwendigen Mehrheit für diesen Antrag. Ein Achtungserfolg. Immerhin.
Die NSA war dermaßen alarmiert über jenen politischen Angriff aus dem Parlament, dass der Chef der NSA, Keith Alexander, persönlich im Parlament erschien, um das aus seiner Sicht „Schlimmste“ zu verhindern.
Ein Signal dafür, das die Initiative genau richtig war.
Was fehlt, ist ein internationales Bündnis von entschlossenen Abgeordneten, die über die Haushaltsausschüsse ihrer Parlamente die Angelegenheit nun konkret in die Hände nehmen.
Denn die Finanzierung ist das einzige Argument, das die Dienste sofort verstehen.
Allgemeinen Absichtserklärungen gegenüber sind sie immun, wie man in der Vergangenheit oft beobachten konnte.
Bitten um Auskunft über ihre Tätigkeiten wimmeln sie mit allgemeinen Papieren und vernebelnden Erklärungen ab.
Sie rücken an Informationen nur heraus, was sie herauszugeben bereit sind.
Längst dominieren die Dienste die Politik, längst sind die Diener zu Herren geworden.
Die entscheidende Frage ist, wer in der Lage sein könnte, sie wieder in ihre Schranken zu weisen.
Mutige Abgeordnete könnten das, wenn sie von ihrem stärksten Recht Gebrauch machen.
Ihre stärkste Waffe sind die Haushalte, die Parlamente haben das Haushaltsrecht.
Es ist noch ein weiter Weg zu gehen bis dahin, darüber braucht man sich nicht täuschen.
Was aber nicht bedeutet, dass man ihn nicht gehen kann.
Deshalb gebührt Juli Zeh und Illija Trojanow Dank dafür, dass sie gemeinsam mit ihren internationalen Schriftstellerkollegen den ersten Schritt gegangen sind.
Weitere müssen folgen.

Glut unter der Asche – etwas vom 17. Juni


Vom 17. Juni 1953 weiß ich aus Erzählungen. Ich kam erst vier Jahre später zur Welt, wurde hineingeboren in die Diktatur.
Mein Vater war ein junger Mann damals 1953 und lebte in Halle an der Saale. Er erzählte oft, wie am 17. Juni die „Genossen“ ihre Parteiausweise und andere Dokumente aus den Fenstern der SED-Kreisleitung warfen, weil sie Angst hatten. Angst vor dem Volk, als dessen Vertreter sie sich doch immer ausgaben.
„Mit Panzern kannst du nicht diskutieren“. Diesen Satz lernten wir Kinder von den Eltern. Jene Panzer, die am 17. Juni einen Aufstand niederschlugen, der mit einer Demonstration um bessere Löhne im Baugewerbe begonnen hatte. „Mit Panzern kannst du nicht diskutieren“ – aber du kannst dennoch einen anderen Weg gehen, als den, den sie mit ihren Panzern erzwingen wollen.
Diesen Weg gingen wir: weder bei den Pionieren, noch bei der FDJ, in keinem Armeelager, bei keiner Wahl.
Wir beteiligten uns nicht.
Dieser Weg war möglich, wenn er auch einen hohen Preis verlangte.
Wenn die Kanzlerin heute vor laufenden Kameras meint, es habe keinen anderen Weg gegeben, als in der FDJ zu sein, dann ist das falsch.
Es gab einen anderen Weg.
Allerdings gehörte ein wenig Mut dazu, ihn zu gehen. Die Stärkung durch Gleichgesinnte und der Schutz der Familie waren ebenso nötig.
1953 schien es, als seien nun die letzten Hoffnungen auf ein demokratisches Gemeinwesen im Osten Deutschlands begraben worden unter den Ketten der russischen Panzer.
Aber es schien nur so.
Denn da war Glut unter der Asche.
1968 kam der Prager Frühling. Dubcek versuchte den „dritten Weg“. Hoffnung keimte auf.
Wieder schickte die „Diktatur des Proletariats“ die Panzer und begrub die Hoffnung unter ihren Ketten.
Es wollte scheinen, als wenn die Diktatur ewig wären und ziviler Ungehorsam erfolglos bleiben würde.
Aber es schien nur so.
Denn im Januar 1988 gab es da diese Demonstration in Berlin, bei der einige wenige an die „Freiheit der Andersdenkenden“ erinnerten und dabei ausgerechnet Rosa Luxemburg zitierten, jene Unangepasste, die von der Obrigkeit doch so gern vereinnahmt und für ihre Zwecke benutzt wurde. ….
Die Verhaftungen jener Demonstranten führten zu „Fürbittandachten für die zu Unrecht Inhaftierten“, ich war schon Jugendpfarrer damals in der schönen Universitätsstadt Jena.
Wir waren mit die Ersten, die mit jenen Andachten anfingen, aus denen später die „Friedensandachten“ wurden. Wir saßen in der kleinen Sakristei der Jenaer Stadtkirche anfangs und ich lies Wolf Biermanns „Du lass dich nicht verhärten“ singen – draußen stand die Polizei vor der Kirche und registrierte jeden Besucher. Als Qelle für den Text hatte ich „volkstümlich“ drunter geschrieben…..
Auch hatte die Staatssicherheit etliche Beobachter in die Andachten geschickt, bei denen wir die neuesten Informationen aus Berlin auswerteten und uns überlegten, wie wir handeln könnten. Diverse umfängliche Akten zeugen davon.

Da war Glut unter der Asche.
Eine neue Generation war herangewachsen.
Die Kinder derer vom 17. Juni 1953.
Viele von ihnen wollten das Land verlassen. Oft waren es die Aktivsten, die sich der Diktatur nicht beugen wollten. Viele wollten „raus“, weil sie Freiheit und persönlichen materiellen Wohlstand wollten. Wir haben das kritisiert, empfanden es als Flucht vor der Verantwortung.
Es gab aber auch jene, die ans Schwarze Brett der Universität schrieben: „Ich bleibe hier. Du auch?“ Wir gehörten zu denen, die blieben, weil sie im Lande ihre eigentliche Aufgabe sahen.
Wir wollten einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, einen „dritten Weg“ zwischen dem zerstörerischen Kapitalismus des Westens, seinem billigen Materialismus und jener Diktatur in der wir groß geworden waren. Wenn man die Programme der Reformgruppen der Wendejahre heute liest fällt dieses auf: alle wollten sie einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, einen „dritten Weg“.
Glut unter der Asche.
Später hat ein Kollege mal sarkastisch gemeint, als wir über diesen Fakt sprachen: „Das Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung sammelt auch Illusionen……“

Aus den „Friedensandachten“ wurden Demonstrationen. Denn die Menschen mussten ja nach den Andachten irgendwie wieder nach Hause kommen.
Die Zahlen der Menschen in den Andachten stiegen rapide, denn die Andachten waren der einzige Ort, wo man seine Fragen, Sorgen und seine Kritik loswerden und aussprechen konnte.
Auf ihrem Weg nach Hause wurden die Menschen mutiger, schrieben eigene Transparente, wurden politischer, wurden lauter.
Aus Friedensandachten wurden Demonstrationen.
Am Ende fiel das System in sich zusammen.
Ein Stasi-Offizier brachte es auf den Satz: „Wir hatten mit allem gerechnet, aber nicht mit euren Kerzen…..“

Das bringen die Ostdeutschen mit: die Erfahrung, daß eine ewig geglaubte Staatsform über Nacht verschwinden kann.
Als die Diktatur begann, ihre innere Hohlheit mit religiöser Sprache zu verbrämen – man sprach von „ewiger Freundschaft zur Sowjetunion“ – machten uns wache Menschen wie Professor Klaus-Peter Hertzsch auf diese wichtige Änderung in der Alltagssprache aufmerksam und deutete sie als Zeichen des Verfalls. In Erinnerung an die LTI, die „Sprache des Dritten Reiches“, die von Victor Klemperer so ausgezeichnet untersucht worden ist.
Wir waren vorbereitet.
Die Sprache zeigte, daß das System fallen würde.
Wir wußten nicht, wann, aber wir wußten: es würde fallen. Denn es war innerlich ausgebrannt und hohl. Den Gerontokraten, wie man die Mitglieder des ZK in jenen Tagen nannte, ging es nur noch um Machterhalt. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Dann ging alles ziemlich schnell in jenen verrückten Tagen im Herbst 89.
Und am Ende war da eine Flamme zu sehen, angeblasen von einem frischen Wind, der durch das Land zog.
Die Glut unter der Asche flammte neu auf, wurde zum Signal, das die Diktatur hinwegfegte.
Die Panzer blieben in den Kasernen…..

Es hat mehr als eine Generation gedauert vom Juni 1953 bis zum Herbst 1989.
Auch das ist eine Erfahrung, die Ostdeutsche mitbringen: manches dauert – und führt doch zum Ziel.
Und dann, eines Tages, wenn „die Zeit reif“ ist, wie wir damals sagten, dann kann es sehr schnell gehen.
Wir haben erlebt, wie die Regierung zusammenbrach und sich auflöste, wie die Ministerien verschwanden, sogar das für allmächtig gehaltene Ministerium für Staatssicherheit.
Wir haben erlebt, wie die, die noch vor wenigen Stunden in Staatskarossen unter strengem Schutz durch’s Land reisten, um sich bejubeln zu lassen, verschwanden wir ein Schatten an der Wand.

Ich sehe seither Regierungsprogramme, Vorhaben, das Land zu erneuern, nun endlich „alles ganz anders zu machen“ unter dem Blickwinkel dieser Erfahrung: Politik ist vorläufig.
Über Nacht können sich Bedingungen radikal verändern, die man für „ewig“ gehalten hatte.

Deshalb ist es hilfreich, sich an den 17. Juni und sein Ende im Herbst 89 zu erinnern.
Denn die Mächtigen sind, so lehren es jene Tage, nur „ein Schatten an der Wand“.
Manchmal genügen ein paar Kerzen und sie sind nicht mehr…..

Gelassenheit. Eine Erinnerung


Der Erfurter Meister Ekkehart (1260-1328) hat das Wort von der Gelassenheit geprägt und die deutsche Sprache um dieses schöne Wort bereichert.
Gemeint ist: Gegründet sein. Seinen Ort gefunden haben, ein-gelassen sein. Verbunden sein mit dem Grund, der alles trägt.
Gelassenheit ist eine rare Tugend in Zeiten wie unseren, die von täglich neuer Aufregung geprägt sind.

Meine Erinnerung geht an einen Ort, an dem Gelassenheit anschaulich geworden ist. Volkenroda bei Meiningen.
1131 wurde jener Ort von ein paar Männern gegründet, die ihrem Zeitgeist widersprochen und Mönche geworden waren – Zisterzienser.
Sie wollten nicht länger vom Ertrag des Zinses, von der Rendite des Geldes, sondern von ihrer Hände Arbeit leben.
Deshalb gründeten sie die Klöster ihrer Lebensgemeinschaft abseits von den aufstrebenden Städten, in denen die reichen Händler lebten; weit draußen auf dem Lande, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Jene Orte des Protestes gegen den Zeitgeist wurden jedoch über die Jahrhunderte Stätten der Kultur, der Gelassenheit, der Gesundheit.
Denn die Wurzeln, die sie tief in die Erde trieben und die Äste, die sie dem Himmel entgegenstreckten waren so kräftig und gesund, daß über die Jahrhunderte hinweg Menschen in ihnen Orientierung und Halt fanden.
Die Menschen kamen und suchten diese besonderen Orte auf. Denn es waren Kraft-Orte. Orte der Orientierung in orientierungsloser Zeit.
Orte der Verwurzelung in einer entwurzelten Gesellschaft.
Orte, an denen Gelassenheit erfahrbar wurde.

Thomas Müntzer hat 1525 mit seinen kriegerischen Bauern jenen alten Ort weitgehend zerstört.
Alle Versuche, den Ort wieder herzurichten, blieben erfolglos.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Ort praktisch nur noch eine vermüllte Ruine.

Heute jedoch, zwanzig Jahre später, lebt der Ort, der auf der EXPO 2000, der Weltausstellung, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenkte.
Denn auf der EXPO wurde jener „Christus-Pavillon“ zum ersten mal gezeigt, der nun in Volkenroda neben der alten Kirche der Zisterzienser ein Zentrum der ganzen Anlage geworden ist.
Gelassenheit.
An diesem Ort kann man sie finden.
Der Ort selbst spricht mit seiner Geschichte das Wort aus.

1000jährige Eiche in Volkenroda/Thüringen

In Volkenroda fand ich heute am Morgen auch einen alten Baum.
Etwa 1000 Jahre alt ist er.
Auch er ein Zeichen von tief gegründeter Gelassenheit.

Ich war an jenen Ort gekommen, weil mich jemand eingeladen hatte. Dr. Schoedl, den Leiter des europäischen Jugendbegegnungszentrums Volkenroda hatte ich bei einer Gesprächsrunde im Mitteldeutschen Rundfunk kennen gelernt. Wir sprachen damals über die Stille. Über unsere schnelle, laute und oftmals krankmachende Gesellschaft; wir dachten nach über die Not-Wendigkeit, in aller Hektik und Betriebsamkeit die Orientierung und vor allem, eine gute Verwurzelung zu behalten. Zuviele Entwurzelte leben in unserer Gesellschaft, die sich immer schneller nur noch um sich selber dreht.

Nun kamen da vier zusammen an jenem Ort in Thüringen: der Computerfachmann und Fotograf Markus Spingler, der mit wundervollen schwarz-weiß Fotografien und einfühlsamen Texten dem Thema „Stille“ nachspürt.
Der Saxophonist Rainer Schwander und der Gitarrist Bernhard von der Goltz, die beide seit über dreißig Jahren der Musik nachspüren, jener Brückenbauerin zwischen Himmel und Erde. Wer den Jan Garbarek einmal gehört hat, der hat eine Vorstellung, wie das Sopransaxophon von Rainer Schwander im abendlichen Pavillon in Volkenroda gestern geklungen hat.

Ich hatte ein paar Texte mitgebracht, die vom Hören sprechen, von der Not-Wendigkeit einer wirklichen Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Einen Text hatte ich auch, der handelt von der Musik, vom „sound of silence“, den nicht nur Simon&Garfunkel kannten.
Und siehe da: es fügte sich ein wundervoller Abend in uraltem Gelände.
Männer, die sich nie vorher gesehen, geschweige denn, je etwas gemeinsam gemacht hatten, fügten ihre Arbeiten zu einem sehr schönen Ganzen zusammen: Bild, Wort, Musik.
Und: sie „verstanden“ sich.
Jeder in seiner Sprache, in der Sprache der Musik, des Bildes, des Wortes – und doch sprachen wir von gemeinsamer Erfahrung.

Spät noch am Abend standen wir draußen im Hof der alten Klosteranlage bei einem Gläschen Rotwein und spürten dem nach, was da gerade geschehen war:
eine Erfahrung von Gelassenheit.

Das wird bleiben: die Erinnerung
an  denkwürdigen Ort, der scheinbar hoffnungslos verlassen war – und doch neu aufgeblüht ist.
Die Erinnerung an den Baum – der so viel mehr gesehen hat als eine Menschengeneration sehen kann.
Die Erinnerung an die Klänge des Abends und die Bilder, die eine Brücke schaffen zwischen Himmel und Erde.

Ein guter Ort.
Uralt.
Gut verwurzelt.
Ein Ort der Gelassenheit.

Alte Texte


Ich lebe in Worten. Worte sind Heimat und Fremde seit Jugendtagen. Worte bergen und zerstören. Worte halten und lassen.
In diesen Tagen, in denen die Erde wankt, lese ich alte Worte. Denn die Worte meiner Zeit erweisen ihr Unvermögen.
Seit Jahrtausenden wurden diese alten Worte weitergegeben von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter.
Es sind hebräische Worte.
Der große „Steller der Schrift“ Martin Buber hat sie verdeutscht, hat ihre Sperrigkeit und Vorzüglichkeit  in Worte unserer Sprache umgegossen, ihre Form und Gestalt, ihr Inneres bewahrend, damit sie auch bei uns und in unserer Sprache funkeln wie Edelsteine.
Ich lese sie am Morgen nachdem man gestern den Tod gefunden hatte. Man fand ihn in Pfützen. Man fand ihn im Rauch. Man fand ihn in der Erde. Man fand ihn im Meer.
Gestern erfuhr die Welt, dass im fernen Japan, das uns doch so nah ist, der Tod gefunden wurde in Fukushima. 10.000fach seien die Grenzwerte überschritten in jenen Pfützen von Kühlwasser, die man in Kellerräumen fand unter den Reaktoren. Unsere Vorstellungskraft wird gesprengt. Da liegt ein Material in den Kellern, daß noch nach 340.000 Jahren den Tod bringt. Nun tritt es an den Tag.
Behälter bersten und geben den Tod frei.
Er kommt still.
Man findet ihn in Pfützen, man findet ihm im Rauch, man findet ihn im Meer.
Nur der Ticker des Zählers zeigt ihn an.
Unsere Kraft, sich vorzustellen, was das bedeutet für die vielen Millionen Menschen, die in der Umgebung leben, reicht nicht aus.
Dafür haben wir keine Bilder, keine Sprache. Dunkle Ahnungen vielleicht. Annäherungen an das Unvorstellbare. Mehr nicht. 1 Kilogramm dieses Materials genüge, so sagen es Physiker, die Menschheit zu zerstören. Man weiß aber, daß in jenen feuchten Kellern mehrere Kraftwerksladungen lagern….

Die Erde bebte. Und das Meer erhob sich.
Nur eine Welle kam.
Gemessen an der Größe des Ozeans eine winzige. Gemessen an der Größe unserer Zivilisation eine gewaltige.
Sie spülte einfach hinweg, was wir „Zivilisation“ nennen. Ganze Orte. Ganze Häuser. Viele zehntausend Menschen mitsamt ihren Autos und Fernsehern, Kühlschränken und Computern.
Die Zerbrechlichkeit unserer „stolzen Zivilisation“ stand uns plötzlich vor Augen.
Das Menetekel an der Wand. Die Schrift, die der König nicht zu lesen verstand.
In diesen Stunden, in denen das Unvorstellbare Realität wird Stunde um Stunde, Tag um Tag, lese ich alte Worte.
Man hat sie weitergegeben von Generation zu Generation, von Jahrtausend zu Jahrtausend.

Das Menschlein, wie des Grases sind seine Tage,
wie die Blume des Feldes, so blühts:
wenn der Wind drüber fährt, ist sie weg,
und ihr Ort kennt sie nicht mehr.
Aber SEINE Huld,
von Weltzeit her und für Weltzeit
ist über den ihn Fürchtenden sie,
seine Bewährung für Kinder der Kinder
denen, die seinen Bund hüten,
denen, die seiner Verordnungen gedenken,
sie auszuwirken.
ER hat seinen Stuhl im Himmel errichtet,
und sein Königtum waltet des Alls.
Segnet IHN, ihr seine Boten
-starke Helden, Werker seiner Rede-,
im Horchen auf den Schall seiner Rede!
Segnet IHN, ihr all seine Scharen,
die ihm amten, Werker seines Gefallens!
Segnet IHN, ihr all seine Werke
an allen Orten seines Waltens!
Segne, meine Seele, IHN!

(aus Psalm 8, verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Stuttgart 1976).