Tempo!


Etwa 1500 mal schneller als ein Wimpernschlag ist ein Geldgeschäft im internationalen Hochfrenzhandel geworden. Enorme Geldströme werden so im Bruchteil einer Millisekunde ausgelöst – mit entsprechenden Folgen. Ein solches System ist nicht mehr kontrollierbar.
Frank Schirrmacher und andere haben auf die Folgen einer solchen Entwicklung, die ein immer höheres Tempo von den Menschen verlangt, hingewiesen.
Auch der politische Prozess unterliegt einem enormen Termin- und Zeitdruck.
Der hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Qualität der Entscheidungen. Nicht selten, eher zunehmend, werden Entscheidungen getroffen, die mit „heißer Nadel“ genäht sind – und deshalb nicht von Bestand sind.
Da ich lange Jahre meines Lebens diesen Prozessen selbst unterworfen war, kenne ich sie ziemlich gut auch von innen.
Allerdings ist jeder Mensch frei, sich dem zu entziehen und nach Alternativen Ausschau zu halten.
Es gibt mittlerweile eine weltweite Suchbewegung, die nach Alternativen zu diesem „immer schneller“ sucht, um wieder ein menschliches Maß für das Leben zu finden. Denn die zerstörerischen Folgen einer sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft sind ja nicht mehr zu übersehen.
ARTE hat dieses weltweite Suchbewegung im Film „Schluss mit schnell“ kürzlich eindrucksvoll dokumentiert.
Wir sind mit unserem Projekt „Internetgarten“ Teil dieser weltweiten Suchbewegung.

Garten 5.9.140242
Der Garten am 4. September 2014
Garten am 12.4.2012
Die Anlage des Gartens am 12. April 2012

Einer sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft, die möglichst alles jetzt und sofort „haben“ möchte, dabei nicht selten das Leben selbst aus dem Blick verliert und sogar seine Grundlagen zerstört, setzen wir hier einen Lebensentwurf entgegen, der sehr wohl ein klares Ziel verfolgt, aber bei dessen Umsetzung wir das Tempo der Natur beachten, Beharrlichkeit üben, Achtsamkeit trainieren und Kooperation praktizieren.

Es geht uns darum, im Leben wieder ein „menschliches Maß“ zu finden. Eine ausgewogene Balance zwischen Denken und Tun, zwischen Einatmen und Ausatmen, zwischen Tun und Lassen, zwischen actio und contemplatio. Uns zunächst fremd erscheinende Kulturen und Religionen betrachten wir dabei nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung.
Die Resonanz ist überraschend und manchmal auch überwältigend. Wir haben ein sehr großes mediales Interesse erleben können: ZDF, ARD, MDR, NDR, Süddeutsche, Tagesspiegel und andere waren da und haben geschrieben oder darüber Sendungen produziert, was man mit einer Idee und einem Laptop so anfangen kann.
Etwa 35.000 Menschen verfolgen das Projekt via Internet. Über 4.000 Menschen waren schon persönlich zu Besuch.
Wir freuen uns darüber.
Aber wir lassen uns davon nicht aus dem Takt bringen. Bleiben beim ruhigen, konsequenten Wechsel zwischen Tun und Lassen.
Wir lassen uns nicht mehr hetzen.
Offensichtlich hat dieses Garten-Projekt einen Nerv getroffen. Offensichtlich sieht eine zunehmende Anzahl von Menschen, dass ein einfaches „weiter so – aber noch mehr Tempo!“ nicht zielführend ist. Und offensichtlich tut sich etwas. Immer mehr Menschen beginnen konkret, nach Alternativen zu suchen und sie zu entwickeln.
Das ist angesichts der Zerstörungen, die wir weltweit sehen können, eine erfreuliche Entwicklung.

Unausweichlich.


Neue Sanktionen seien „unausweichlich“ sagt der Russlandbeauftragte der Bundesregierung am 29. August 2014.
Ich denke diesem Wort nach.
„Unausweichlich“.
Da kommt man nicht mehr dran vorbei.
Das kriegt man nicht weg.
Das ist so gut wie sicher.
Dem kann man nicht mehr ausweichen, das wird so kommen, egal, was man unternimmt.
Dieses Auto wird an den Baum knallen – das ist unausweichlich bei dem Tempo, mit dem es angerast kommt.
Diese Eskalationsstufe ist unausweichlich – so, wie ein Berg, so, wie eine Betonmauer, so, wie ein Naturereignis.
Sagt er, der Beauftragte.
Und er meint damit: wir werden gemeinsam mit anderen weitere Sanktionen beschließen.
Da tut also einer was.
Was er auch nicht tun könnte.
Was also bedeutet „unausweichlich“? Ist es lediglich eine Behauptung? So, wie dieses seltsame Wort „alternativlos“ eine Behauptung ist, eine schlichte zudem?
Es klingt jedenfalls ähnlich.
So, als gäbe es nichts andres.
Waffenlieferungen in Krisengebiete sind nun auch „alternativlos“ und „unausweichlich“.
Es ginge jetzt nicht mehr anders, wird behauptet.
Nun müsse man sogar in Krisengebiete Waffen liefern, das sei unausweichlich.
Da kann man nun nichts mehr machen.
Der Zug rast mit hohem Tempo auf den Felsen zu und dort wird er zerschellen, das ist unausweichlich.

Oder doch nicht?
Wenn eine Entwicklung wirklich für „unausweichlich“ erklärt wird – dann ist das das Ende von Politik.
Das ist die Kapitulation vor der Eskalation, an der man selber beteiligt war, Schritt für Schritt.
Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, an dem es kein zurück mehr gibt. Point of no return.
Dann knallt es – unausweichlich.
Wenn eine weitere Eskalationsstufe „unausweichlich“ ist, dann kann man auch nach Hause gehen. Dann gibt es ja nichts mehr zu tun.
Es wird knallen.
So ist das dann.

Allerdings ist es nicht wirklich so.
Denn jeder einzelne Schritt wird besprochen, überlegt und dann entschieden. Schritt für Schritt, Stufe um Stufe.
Also gibt es doch Alternativen.
Den nächsten Schritt nicht zu gehen zum Beispiel.
Weil er einen an einen Punkt bringen würde – wo das Brett bricht. Unausweichlich.

Vor dem Ersten und auch vor dem Zweiten Weltkrieg haben Politiker den Menschen erklärt, ein Waffengang sei „nun unausweichlich.“
Wie viele Schritte brauchen wir noch, bis es knallt?
Noch einen? Noch zwei?
Oder sind wir schon den letzten Schritt gegangen, den wir noch frei entscheiden konnten?
Vielleicht ist es so.
Dann wird eine Entwicklung eintreten, die der Welt ganz und gar nicht gefallen kann.
Unausweichlich.

Die Skepsis überwiegt. Eine ungehaltene Neujahrsrede.


Schaue ich mir die erkennbaren langfristig wirkenden Entwicklungen im zurückliegenden Jahr an, überwiegt die Skepsis. Man muss nicht erst Erwin Chargaff lesen, um zum begründeten Skeptiker zu werden.
Fukushima: in San Francisco hat man mittlerweile erhöhte Radioaktivität gemessen. Das, was da tagtäglich in Fukushima ins Meer fließt an hochkontaminiertem Wasser ist durch die Meeresströmungen nun in Amerika angekommen. Und wird sich weiter über die Welt verteilen. 650 Jahre etwa dauert das, wie Meeresforscher wissen. Bei einer Halbwertzeit von 16.000 Jahren kein Problem. „Fukushima ist überall“ haben einige zutreffend formuliert. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass die maßgeblichen Industrienationen das Desaster nicht wirklich begriffen haben. Denn es fehlt an einem wirksamen Ausstieg aus dieser Art der Energiegewinnung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Kraftwerk in die Luft fliegt. Günther Anders hatte Recht: der Mensch steht entsetzt vor den von ihm erschaffenen Maschinen und beherrscht sie schon längst nicht mehr. Fukushima ist längst das Symbol für eine zerstörende Art des des Wirtschaftens geworden.
„Diese Wirtschaft tötet“ hatte Papst Franziskus kürzlich markant formuliert. Sie tötet nicht nur Andere, Schwächere, Marginalisierte. Sie tötet sich selbst.

TTIP. Das geplante Freihandels-Abkommen zwischen der EU und den USA. Streng geheim verhandelt unter Ausschluss der Parlamente. Es sieht einen „Investitionsschutz“ für Multis vor, der es ihnen ermöglichen soll, Staaten auf Schadenersatz zu verklagen, falls deren nationale Gesetzgebung geplante Investitionen – in Kraftwerke beispielsweise – „behindert“. Der Widerstand dagegen formiert sich zwar, ist aber bislang völlig ohne Einfluss. Nicht mal die Berichterstatter im EU-Parlament sind über das Abkommen informiert. Nur weniges sickert an die Öffentlichkeit.
Dieses Abkommen wird zu einer weiteren Beschleunigung der Zerstörung natürlicher Ressourcen führen, denn das durch das Abkommen beabsichtigte Wachstum ist nicht nachhaltig. Es geht im Kern darum, die bestehende Art des Wirtschaftens noch „effektiver“ zu machen. Hauptziel: Gewinnmaximierung. Das zwischen den USA und Europa geplante Abkommen ist ja nicht das einzige seiner Art. Der Prozess der beschleunigten Gewinnmaximierung im Namen des Wachstums wird ja auch durch zahlreiche vergleichbare Abkommen gesichert.

Geheimdienste. Der Chaos-Computer-Club hat nun auf seiner Jahrestagung in Hamburg die schlichte, aber verstehbare Formulierung gefunden: „Der NSA gehört das Internet“.  Totale Überwachung der weltweiten Kommunikation durch die „Dienste“ der reichen Welt. Egon Bahr warnt deshalb vor einem Krieg: „Es wäre das erste Mal, dass eine grundlegend neue Technik nicht für einen Krieg eingesetzt würde“. Hört man solche Stimmen? Nein.
Das Grundgesetz gilt nicht mehr. Die Grundrechte der Bürger, einst streng durch die Verfassung geschützt, sind beliebig geworden. Die Geheimdienste schert das alles nicht. Das Parlament und die Regierung auch nicht. Das ist katastrophal. Denn das Fundament der Demokratie hat keine wirksame Verteidigung mehr. Das Fundament wankt.
Es gibt keinen wirksamen Widerstand gegen diese Entwicklung. Weder in den Parlamenten, noch in den Regierungen, noch in den Bevölkerungen. Das Wort vom „cyber war“ ist längst gängiger Sprachgebrauch. Und die Sprache zeigt wie ein Seismograf, was zu erwarten ist.

Europa. Die Fundamentalismen nehmen zu. Rechtsorientierte Parteien werden stärker. Der bevorstehende Europa-Wahlkampf wird dies überdeutlich zeigen. Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab geworden. Über 20.000 Flüchtlinge sind mittlerweile auf dem Weg nach Europa ertrunken. Und die Union schottet sich immer mehr ab (FRONTEX etc.). Der Widerstand dagegen ist marginal (von einigen Weihnachtsansprachen abgesehen) und völlig folgenlos. Leute wie der unermüdliche Jean Ziegler werden zwar gelesen, man klatscht ihm auch Befall. Aber es bleibt folgenlos.

Der Kampf um die Sicherung der letzten Rohstoffe nimmt weiter an Schärfe zu. Sogar der international eher bedeutungslose deutsche Koalitionsvertrag nimmt das Stichwort von der „Rohstoffsicherung“ auf und verlangt entsprechende „Maßnahmen“, um der „Wirtschaft“ den „Zugang zu den Ressourcen“ zu ermöglichen. Man erwartet von der Politik, „behilflich“ zu sein. In Afrika vor allem. Denn dort lagern die für eine IT-gestützte Wirtschaft die wertvollen seltenen Erden.
Die Spannungen zwischen reicher und armer Welt nehmen zu.
Das Tempo der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens nimmt zu.
Der politische Widerstand gegen solche Zerstörungstendenzen ist minimal, eigentlich gar nicht vorhanden, denn der Glaube an das „Wachstum“ ist ungebrochen.

Demokratie. Politische Stiftungen haben darauf längst hingewiesen: die Skepsis sehr vieler Menschen gegenüber demokratischen Systemen nimmt weltweit ab. Fundamentalismen gewinnen Oberwasser. Die Spannungen steigen weiter an, weil die Ungerechtigkeit wächst. In der stärksten Volkswirtschaft Europas führt die übergroße Koalition zu einer weiteren Entmachtung des Parlaments, ein schon seit längerem zu beobachtender Trend. Die politische Klasse, insbesondere Regierungen und Parlamente haben eine erschreckend geringe Akzeptanz.

Zynismus. Verfolgt man die öffentliche Debatte insbesondere in den Netzwerken, fällt der zunehmende Zynismus, der sich als „Humor“ tarnt, sofort ins Auge. Viele Menschen haben im Grunde ihre Fahne eingezogen, haben „resigniert“, retten sich ins Kabarettistische und in den Zynismus, verkriechen sich in noch verbliebene private Nischen.

Nun ist es zwar auch so, dass ausserparlamentarische Initiativen und Netzwerke durch das Internet an Bedeutung gewinnen. Die Zivilgesellschaft organisiert sich auf diesem Wege weltweit. Das ist eine tröstliche Entwicklung. Ihre politische Wirksamkeit jedoch ist – abgesehen von einigen wenigen Petitionen – marginal.

Nun habe ich nicht wenige Jahre meines Lebens – um genau zu sein, mehr als die Hälfte des bisher gelebten Lebens – als politisch aktiver Mensch verbracht. Während der zweiten deutschen Diktatur und in dem Vierteljahrhundert danach.
Mir sind Abläufe und Gepflogenheiten in Parlament und Regierung aus eigener Arbeit und eigenem Erleben durchaus vertraut.
Vielleicht auch gerade deshalb überwiegt die Skepsis, ob es noch gelingen kann, wirklich umzusteuern.
Das kommende Jahr 2014 wird an die „Schlafwandler“ erinnern. Christopher Clark hat dieses bemerkenswerte Buch 2013 vorgelegt.
Manchmal ist mir, als taumelten die modernen Gesellschaften ähnlich wie 1914 gleichsam „wie Schlafwandler“ in eine erneute, weltweite Katastrophe.
Es sollte mich freuen, wenn ich mich irre.

Das Parlament erübrigt sich selbst.


Man könnte es für eine Petitesse halten: nun hat die Große Koalition ein Gesetz gelesen (1. Lesung), das ab Januar 2014 gelten soll.
Es gibt bis dahin keine Anhörungen, keine Beratungen in den Ausschüssen, keine zweite und dritte Lesung.
Erst im Februar soll es dann „ordentlich verabschiedet“ werden.
Es gilt aber schon ab 1. Januar.
Und steht im Dezember im Bundesanzeiger.
Es geht inhaltlich um Rentenfragen, genauer: ob die erzielten Überschüsse in den Rentenkassen zur Absenkung des Rentenbeitrags oder für anderes (Mütterrenten, Aufstocker etc.) verwendet werden sollen.

Interessant an dem Vorgang ist, wie sich das Parlament selbst kastriert.
Es gibt – von der kleinen Opposition einmal abgesehen – keinen Abgeordneten, der dieses Verfahren kritisiert.
Innerlich ist man ohnehin schon auf Weihnachten eingestellt. Die lange Phase der Regierungsbildung ist abgeschlossen, der Wahlkampf ist überstanden, das Mandat ist nun sicher, weil keine Neuwahlen mehr drohen, was vor wenigen Tagen zumindest noch im Bereich des Denkbaren lag. Weihnachten ist angesagt.
Also lässt man die Sache durchgehen.

Ein Ministerium macht die entsprechende Gesetzesvorlage, formuliert den Text.
Die Koalition führt über etwa eine Stunde ein öffentliches Selbstgespräch im Plenum – von wenigen sehr kurzen Beiträgen der Opposition einmal abgesehen – , dann geht man nach Hause.

Wenn ein solches Verfahren Schule macht – und es gibt keinen wirklichen Grund, weshalb es nicht so sein sollte angesichts der gegebenen Mehrheitsverhältnisse – dann ist das Parlament nur noch „Beiwerk“.
Eigentlich regieren die Ministerialräte, die Referatsleiter, Unterabteilungs- und Abteilungsleiter, die Staatssekretäre.
Natürlich will keiner der Abgeordneten „seinen Minister“ beschädigen, also wird er dem zustimmen, was da aus dem „Hause“ kommt, für das „sein Minister“ die Verantwortung trägt.

Was aber geschieht da im Kern?
Das Parlament verachtet sich selbst. Und es erübrigt sich selbst.
Vollzogen wird, was viele ohnehin denken: was sollen all die parlamentarischen Debatten, Anträge, Anhörungen etc., wenn doch am Ende ohnehin klar ist, „wer hier die Mehrheit“ hat?
Ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren wird sekundär. Es kommt nicht mehr drauf an.
Na und?
Dann steht ein Gesetz eben schon mal im Gesetzblatt, bevor es in dritter Lesung vom Parlament verabschiedet wurde.
Im Grunde ist es doch egal. Am Ende käme ja doch dasselbe heraus. Wozu also die Aufregung?

Was aber geschieht da im Kern?
Die Parlamentarische Demokratie beginnt, sich selbst nicht mehr ernst zu nehmen.
Ordentliche Verfahren werden zur Petitesse. Entscheidend ist, wer die Mehrheit hat. Punkt.
Dieser Krebsschaden im Innern wird weiter wachsen unter den Bedingungen einer 80%-Mehrheit.
Es ist erst der Anfang.
Diesmal ging es „nur“ um Rentenfragen – zwar protestierten nicht wenige auch jetzt schon, das ginge gegen die junge Generation, aber diese Wortmeldungen waren nicht entscheidend.
Was aber, wenn es um die Sicherung der Grundrechte geht, um die Wahrung der Bürgerrechte gegenüber dem Staat? Um die Wahrung der Grundrechte gegenüber den Geheimdiensten?
Was aber, wenn es um das Grundgesetz, die Basis der Demokratie geht?
Will man da künftig etwa ebenso verfahren wie hier mit den Renten?!

Das Parlament hat die Aufgabe, eine Regierung zu kontrollieren.
Das gilt nicht nur für eine Opposition.
Sondern das ist die Aufgabe eines jeden Abgeordneten.
Dazu gehört, dass er zunächst einmal darauf achtet, dass parlamentarische Gepflogenheiten: Anhörungen, Ausschussberatungen, zweite und dritte Lesung – auch beachtet und eingehalten werden.
Was wir zu Beginn dieser Großen Koalition erleben, ist keine Petitesse, sondern eine Ungeheuerlichkeit.
Das Parlament schafft sich selbst ab.

Anwesenheitswahn. Etwas von der politischen Sprache


Sie wolle etwas gegen den „Anwesenheitswahn“ tun, äußerte die Bundesministerin nun öffentlich. Sie meinte damit bestimmte Betriebe. Gesagt hat sie das aber nicht.
Nun ist es ein seit längerem zu beobachtender unguter Trend, dass die öffentlich geäußerte Sprache mehr als zu wünschen übrig lässt. Sie verkommt regelrecht.
Worthülsen, Nichtssagendes werden zum Standard. Das ist eine große Plage unserer Zeit.
Aus unklarem Denken folgt unklare Rede.
Solcherlei Reden sind weit entfernt vom eigentlich notwendigen geschliffenen Wort.
Als ich mir Ausschnitte der Regierungserklärung vom heutigen Tage ansah, wurde mir sehr schnell klar: so etwas werde ich mir künftig ersparen. Anwesenheit ist nicht mehr erforderlich. Denn es gibt keinen argumentativen Schlagabtausch mehr.
Im Parlament wird nur noch verkündet.
Dann ist Mittag.
Der „Anwesenheitswahn“ hat ein Ende. Das Parlament kann nach Hause gehen.
Es kommt nicht mehr drauf an.
Die Mehrheiten sind dermaßen verteilt, dass es nicht mehr erheblich ist, ob ein Abgeordneter da sitzt oder nicht.
Da zeichnet sich eine „bequeme Legislatur“ ab für den einen oder anderen Mandatsträger.
Weit entfernt sind die Zeiten, in denen es auf jede Stimme ankam.
Weit entfernt die Zeiten, in denen man mit Gruppenanträgen quer zu den Fraktionen noch etwas bewegen konnte.
Die präsidierende Kanzlerin hat nun eine dermaßen komfortable Mehrheit, dass ein Streit der Argumente zwischen Koalition und Opposition faktisch nicht mehr vorkommt.
Denn: das knappste Gut heutzutage ist Aufmerksamkeit.
Die kann die Opposition nur noch erreichen, wenn sie besonders plakativ vorträgt.
Deshalb wird auch sie sich vom geschliffenen Argument immer weiter entfernen.
Eine direkte Folge der neuen Mehrheitsverhältnisse.
Wie Mehltau breitet es sich aus.
Gehirnkleister.
„Es kommt nicht mehr drauf an, man hat ja ohnehin die Mehrheit“ – Anwesenheit nicht mehr erforderlich.
Man möchte sich zusammenrollen und die Bitte äußern: „In vier Jahren könnt ihr ja mal wieder anklopfen……“

„Mit breiter Mehrheit….“


Sogar „mit sehr breiter Mehrheit“ kann die neue Regierung regieren, denn die Grünen regieren mit: an nicht unwichtiger Stelle im „Maschinenraum“ der Demokratie sitzen nun grüne Staatssekretäre.
Man wird dies nun als Standardformulierung zu lesen bekommen: Gesetz xy sei „mit breiter Mehrheit“ angenommen worden. Was den Eindruck suggeriert, es habe „keine Alternativen“ gegeben.
Wer darauf hinweist, wird vermutlich ganz fix als „Nörgler“ abgetan. Übliches Verhalten einer großen gegenüber einer kleinen Gruppe, insofern zu vernachlässigen.
Bettina Marx hat in der „Deutschen Welle“ wie folgt kommentiert:

„Langweilige Debatten und routiniertes „Durchregieren“ dürften die nächste Legislaturperiode bestimmen.

Für die Demokratie ist das schlecht. Sie lebt von der Auseinandersetzung und vom Widerstreit der Ideen und der Politikentwürfe. Wenn sich die meisten Deutschen in Umfragen für eine große Koalition aussprechen, zeigt dies vielleicht die Harmoniebedürftigkeit und Konsensorientierung, vielleicht auch die Entpolitisierung der deutschen Gesellschaft. Für den Parlamentarismus, für die Demokratie und damit für unser Land ist dies jedoch die schlechteste aller denkbaren Regierungen.“
Das ist scharf formuliert.
Aber natürlich hat die nun konstituierte sehr breite Mehrheit aus Union, SPD und maßgeblichen grünen Staatssekretären eine gesellschaftliche Wirkung. Mitunter auch eine seltsame, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass sich heute ausgerechnet die BILD zur „APO“ für die Große Koalition ernannt hat.
Ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft neu orientiert und neu sortiert.
Wie wird diese „sehr breite Mehrheit“ in der Gesellschaft wirken?
Wird sie zur politischen Apathie führen, wird sie die in den zurückliegenden Jahren zu beobachtende wachsende Apathie gar verstärken?
Oder wird sie zur Radikalisierung der politischen „Ränder“ links und rechts führen?
Offene Fragen.
Natürlich soll man jedem seine Chance geben und für eine neue Regierung gelten die ersten 100 Tage als „Schonzeit“. Ok.
Auch dürfte durch den neuen Zuschnitt der Ministerien klar sein, dass nicht nur Sach-, sondern auch Machtfragen innerhalb der Regierung eine nicht geringe Rolle gespielt haben – was man exemplarisch am Zuschnitt des Wirtschafts- und Energieministerium, aber auch an der Eingliederung der wichtigen Bauabteilung aus dem BMVBS ins BMU ablesen kann.

Das Kabinett und die gesamte neue Spitze muss sich natürlich erst „einspielen“, insbesondere in der zweiten Reihe sind etliche neue Gesichter zu sehen, die sich an die Abläufe und Rangeleien um „Federführungen“ erst noch werden gewöhnen müssen.
Das braucht seine Zeit.
Wenn der Apparat aber läuft – damit ist im ersten Quartal des kommenden Jahres zu rechnen – , dann wird er Wirkung haben auf die gesamte Gesellschaft.
Welche, das ist noch offen.
Vermuten kann man, dass eine „sehr breite Mehrheit“ im Parlament einem gewissen Harmoniebedürfnis in der Bevölkerung Rechnung trägt. Da mag man nämlich politische Streitereien nicht sonderlich. Sie werden schnell als „unsachlicher Zank“ wahrgenommen.
Andrerseits: hat Frau Marx Recht, wenn sie eine zunehmende Entpolitisierung befürchtet?
Das wäre besorgniserregend, wenn man beispielsweise an die Themen Schutz der Bürgerrechte, Flüchtlings- und Klimapolitik denkt. Denn diese Themen sind dermaßen komplex, dass man die Kreativität der Vielen braucht.

Zu wünschen ist deshalb, daß solcherlei „übergroße Mehrheiten“ nicht zum Normalfall werden. Denn die Sorge ist sicher nicht ganz unberechtigt, dass solche Mehrheiten in der Bevölkerung wie Mehltau wirken, der alles überzieht. Am Ende sagen sich die Leute: „die machen mit ihrer Mehrheit ohnehin, was sie wollen. Weshalb soll ich mich da noch engagieren?.“

Wir werden nun oft zu lesen bekommen, dass ein Gesetz „mit breiter Mehrheit“ angenommen worden sei.
Ich will mich darin nicht gewöhnen.

Die Entscheidung ist gefallen.


Wie es ihre Art ist, trägt Barbara Hendricks nüchtern Zahlen vor:
369.680 Mitglieder der SPD haben sich am Votum beteiligt und ihre Unterlagen zurück geschickt.
31.800 davon konnten wegen Formfehlern nicht gewertet werden.
337.880 Stimmen wurden wirksam, davon waren 316 ungültig.
Mit „Ja“ haben gestimmt: 256.643 (das entspricht 75.96%)
Mit „Nein“ haben gestimmt: 80.921 (das entspricht 23,95%).

Soweit die Fakten.
Ich sehe viele klatschende Menschen, vor allem junge Menschen und erinnere mich an Wahlkampfzeiten, wenn Erfolge zu feiern waren. Engagierte Ehrenamtliche, die getan haben, was zu tun war: auszählen.
Sie haben allen Applaus verdient.
Ich sehe frühere Kollegen in den Saal kommen. Lächelnd. Klatschend. Sehe, wie sie sich kameragerecht aufstellen.
Dann folgt eine Rede, in der die Demokratie gelobt wird. Vor allem die innerparteiliche.
Das ist ein Abschnitt, dem ich sehr zustimmen kann: dieses Mitgliedervotum war eine mutige und richtige Sache.
Allerdings hat es aus meiner Sicht bei seiner Durchführung Fehler gegeben, die sind aber vermeidbar beim nächsten Mal. Auch innerparteiliche Demokratie in diesem Umfang will halt geübt sein und Fehler kommen halt vor. Man kann aus ihnen lernen.

Wozu haben 256.643 Mitglieder der SPD „ja“ gesagt?
Sie wollen, dass die SPD erneut in eine Große Koalition mit der Union eintritt. Als Juniorpartner.
Dadurch entsteht eine übergroße parlamentarische Mehrheit von 80% im Deutschen Bundestag.

Und daher kommt mein Unbehagen, beinahe ein Unwohlsein, trotz der lächelnden Gesichter und klatschenden Hände.

Die Mitglieder werden anfangs genau beobachten, wie die Kabinettsbildung vonstatten geht. Besonders wichtig: wer werden die Leute in der zweiten Reihe sein? Die beamteten und parlamentarischen Staatssekretäre?
Wird es gelingen, sich durchzusetzen innerhalb der Koalitionsdisziplin?
Ich weiß wohl, dass es selbst unter Ministerien die politisch gleichfarbig geführt werden, zu herben Rangeleien kommen kann, wenn es um konkrete Gesetze geht. Die gleiche politische Farbe an der Spitze von zwei Ministerien sagt nichts aus über die Harmonie zwischen den „Häusern“.
Noch schwieriger wird der Kampf zwischen den „Häusern“, wenn sie verschiedenfarbig politisch geführt werden.
Am Ende wird sich die Mehrheit innerhalb der Koalition durchsetzen. Letztlich entscheidet das Kanzleramt, bzw. die Kanzlerin selbst.
Das ist die ernüchternde Erfahrung.
Im Parlament gilt dann die Koalitionsdisziplin: abgestimmt wird gemeinsam. Es gibt keine Opposition innerhalb einer Regierung.

Was aber ist mit der Opposition, dem Grundpfeiler einer parlamentarischen Demokratie?
Sie kann nicht, was sie müsste, weil sie zu klein ist.

Wozu führt das?
Dass die Demokratie Schaden nimmt.
Daher kommt mein Unwohlsein.
Aus der Erfahrung als Parlamentarischer Staatssekretär in zwei Regierungen.

Ein guter Tag für die innerparteiliche Demokratie.
Kein guter Tag für die Demokratie im Parlament.
Ich hoffe sehr, dass diese übergroße parlamentarische Mehrheit nun nicht wie eine Dampfwalze Politik macht.
Ich hoffe sehr, dass der „Druck der Mehrheit“ nicht zu einer Ausgrenzung anderer Meinungen führt. Die Sorge darum ist – gerade in Deutschland – nicht unbegründet.
Die Entscheidung ist gefallen.
Meine Sorge ist stärker geworden.

Ein Dank an Juli Zeh und Illija Trojanow


Juli Zeh und Illija Trojanow ist für die internationale Initiative der Schriftsteller gegen den Überwachungsstaat zu danken.
Die Initiative hat ein breites Medienecho gefunden, die Diskussion geht weiter. Das ist gut und wichtig.
Iris Radisch von der ZEIT kann man zustimmen, wenn sie meint, dieser Aufruf zeige „eine Internationale der Schriftsteller, wie es lange keine mehr gab“. Auch ist ihr Hinweis auf Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Stèphane Hessel berechtigt.
Allerdings weist Iris Radisch zu Recht darauf hin, dass der Aufruf „keinen Adressaten“ habe. Zwar wird an die UN appelliert, eine entsprechende „Konvention“ zu verabschieden, aber selbst dieses bleibt eher im Ungefähren.
Dem Aufruf fehlt die Konkretion.
Im Moment ist die Beobachtung sicher nicht ganz unberechtigt, dass es in den Parlamenten für das Anliegen an wirksamer Unterstützung fehlt. Zwar gibt es hinreichend allgemeine Erklärungen, dass „man“ sich um den Schutz der Bürgerrechte kümmern „müsse“, Konkretionen jedoch fehlen.
Allerdings konnte man im amerikanischen Parlament erleben, dass es davon Ausnahmen gibt. Dort wurde der Versuch unternommen, die „Dienste“ unter eine strenge parlamentarische Kontrolle zu zwingen, indem man ihnen das Geld kürzt.
Nur wenige Stimmen fehlten der notwendigen Mehrheit für diesen Antrag. Ein Achtungserfolg. Immerhin.
Die NSA war dermaßen alarmiert über jenen politischen Angriff aus dem Parlament, dass der Chef der NSA, Keith Alexander, persönlich im Parlament erschien, um das aus seiner Sicht „Schlimmste“ zu verhindern.
Ein Signal dafür, das die Initiative genau richtig war.
Was fehlt, ist ein internationales Bündnis von entschlossenen Abgeordneten, die über die Haushaltsausschüsse ihrer Parlamente die Angelegenheit nun konkret in die Hände nehmen.
Denn die Finanzierung ist das einzige Argument, das die Dienste sofort verstehen.
Allgemeinen Absichtserklärungen gegenüber sind sie immun, wie man in der Vergangenheit oft beobachten konnte.
Bitten um Auskunft über ihre Tätigkeiten wimmeln sie mit allgemeinen Papieren und vernebelnden Erklärungen ab.
Sie rücken an Informationen nur heraus, was sie herauszugeben bereit sind.
Längst dominieren die Dienste die Politik, längst sind die Diener zu Herren geworden.
Die entscheidende Frage ist, wer in der Lage sein könnte, sie wieder in ihre Schranken zu weisen.
Mutige Abgeordnete könnten das, wenn sie von ihrem stärksten Recht Gebrauch machen.
Ihre stärkste Waffe sind die Haushalte, die Parlamente haben das Haushaltsrecht.
Es ist noch ein weiter Weg zu gehen bis dahin, darüber braucht man sich nicht täuschen.
Was aber nicht bedeutet, dass man ihn nicht gehen kann.
Deshalb gebührt Juli Zeh und Illija Trojanow Dank dafür, dass sie gemeinsam mit ihren internationalen Schriftstellerkollegen den ersten Schritt gegangen sind.
Weitere müssen folgen.

Komm, wir gründen eine Partei – Anmerkungen eines silversurfers


Kann sein, dass ich sentimental werde, aber die Bilder dieser Tage von den „Piraten“ lassen doch die eine oder andre Erinnerung wach werden.
Oktober war’s. 1989.
Die Diktatur beherrschte alles.
Und doch gründeten wir damals unsere neue Partei. Was nicht ungefährlich war.
Ibrahim Böhme und Rainer Hartmann wollten mich mitnehmen nach Schwante, aber ich war in Wandlitz beim Kaffee und nicht zu Hause.
Eine Woche später war ich dabei, bei dieser „SDP“, wie sie sich nannte in bewusster Abgrenzung von der westdeutschen „SPD“.
Denn wir wollten „es anders machen“.
Internet hatten wir nicht. Wussten nicht mal, was ein fax ist. Handys – Fehlanzeige. Autos: alte Plastikkutschen. Kopierer? Was’n das?
Die Stasi war dabei, wie wir jetzt wissen und hat uns doch nicht aufhalten können.
Es galt, die Diktatur zu beseitigen und eine parlamentarische Demokratie einzuführen in ein Land, das 40 Jahre Diktatur verwüstet hatten.

Heute kommen die „Piraten“ und entern ein Landes-Parlament.
Junge, engagierte Leute, die den „alten Parteien“ mal ordentlich den Marsch blasen“ wollen. Oder genauer: twittern.
Und ich sehe, wie sie da sitzen bei „Phoenix“ bei ihrer ersten Pressekonferenz nach einer Wahl, die alle 15 ihrer Kandidaten ins Berliner Abgeordnetenhaus gespült hat.
Und erinnere mich.

Mit Handys haben sie’s gemacht, mit Laptops und Computern, tablets und viel „Internetzeugs“.
Spaßig rufen sie den Journalisten zu, es gäbe „nachher noch eine Gelegenheit für eine Nahaufnahme des Internets“.
Wofür sie stehen, ist noch nicht recht deutlich.
Um „mehr Demokratie“ soll es gehen.
Das ist gut.
Und verdammt schwer.
Denn viele Menschen haben „keinen Bock“ auf Demokratie, machen lieber dumme Sprüche oder amüsieren sich auf Kosten der Engagierten.
Das ist einfacher.
Demokratie jedoch macht Mühe.
In der Opposition zumal, denn für keinen einzigen seiner Anträge findet man eine Mehrheit.
Parlament aber funktioniert nach Mehrheiten der Gewählten.
Die jungen Leute werden also unter Druck kommen von denen, die „draußen“ sind, vor den Toren des Parlaments.

Ich erinnere mich an unser „Programm“ an unsere „Ideen“ – und wie sie scheiterten am Realen.
Nicht immer, darauf können wir stolz sein.
Aber doch oft.
Beispielsweise gibt es bis heute keine gesamtdeutsche Verfassung.

Ich erinnere mich gut, wie es war, als die Medien anfingen, sich für uns zu interessieren, denn das war ja das gefundene Fressen für die Neuigkeitsindustrie: ein ganzes Land geht unter!
Das hat was, wenn ein Land zusammenbricht. Das interessiert den Zuschauer.
„Wer sind die Neuen? Was wollen die?“
Auf den Fluren in der Rungestraße stand der NDR und der Spiegel, ZDF und wie sie alle heißen kamen hinterdrein, wir hatten nicht mal Stellplatz in den kleinen Räumen für die Kopierer, die uns Partner aus dem Westen zur Verfügung gestellt hatten.
Die Überschrift beim NDR hieß: „SDP – Hightech steht auf dem Klo“.
Wir lernten die Macht der Medien kennen.
Wie sie einen hochschreiben und wieder fallen lassen.
Wie sie sich einen aufs Korn nehmen oder unterstützen.
Wie sie jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben und einen verrückt machen damit.

Aber das haben wir erst nach und nach gelernt.
Später dann, als etliche von uns im Parlament saßen. Im gesamtdeutschen.
Und Minister wurden und Staatssekretäre, manche gar Ministerpräsidenten.

Das war ein langer Weg.
Wir haben den Unterschied gelernt zwischen Wünschenswertem und Machbarem.
Das war schmerzhaft und manch einer hat es nicht durchgehalten und ist von Bord gegangen.

Man wird sich denken können, dass ich die „Piraten“ deshalb mit besonders großem Interesse und auch großer Sympathie beobachte.
Junge Leute, engagiert, unkonventionell, noch etwas unklar.
Aber „die Grünen vertreten die alte Politik“ kann ich bei twitter lesen. Da ist man sich schon mal sicher.
Das ist der Anspruch einer neuen Generation.
Deshalb wäre es schade, wenn der Gründer der Piraten Recht behielte. „Wir sind nicht gekommen, um zu bleiben“ hat er der WELT gesagt.
Das wäre schade.
Denn die Demokratie braucht frischen Wind, Glasnost und Perestroika, Transparenz!
Das war die Forderung von Gorbatschow, das war unsere Forderung, und, wenn ich richtig höre, fordern es auch die „Piraten“.
„Macht mal einer das Fenster auf! Lasst Luft rein!“

Dieser Ruf ist so alt wie die Demokratie.
Und immer wieder kommen neue, frische junge Leute mit dieser Idee.
Sie wollen es besser machen als die Alten.
Das ist ihr gutes Recht.

Ich wünsche ihnen sehr, dass sie sich nicht blenden lassen von der Aufmerksamkeit der Medien grade in den ersten Tagen nach einem Wahlerfolg.
Das ändert sich.
Und wenn der Wind von vorn bläst, liebe Piraten, wer wüsste es besser als ihr: dann müsst ihr kreuzen!

Willkommen in der Demokratie, für die wir gemeinsam streiten.
(ich war von 1998 bis 2009 MdB und von 2005-2009 Staatssekretär in zwei Bundesministerien).

Das Schweigen der Lämmer


Sie schweigen alle.
Die Sozialdemokraten, die christlich-unierten, die Grünen,die Liberalen, die Linken, die Piraten – alle.
Die Jusos ebenso wie die anderen Jugendorganisationen der Parteien. Die Seniorenvereinigungen der Parteien ebenso wie die Arbeitsgemeinschaften.

Und die Menschen ersaufen. Vor Lampedusa.
FRONTEX wird’s schon richten.

Der „Tatort“ musste sich des Themas annehmen – weil sie alle schweigen.
Stillschweigend tolierieren die Parteien in Europa, das da Menschen zu hunderten einfach absaufen im Mittelmeer.
Wenige Journalisten nur sind es, die auf diesen Skandal aufmerksam machen, wenige blogger helfen mit ihren Möglichkeiten.
Der „Spiegel“ hat dankenswerter Weise das Thema auf dem Schirm und bleibt wach, wenige andere Tageszeitungen greifen das Thema auf.

Und FRONTEX marschiert.
Um Menschen abzuwehren. Sie dürfen auf gar keinen Fall die europäische Küste erreichen.
Der Hunger hat sie getrieben oder die Hoffnung auf ein etwas besseres Leben. Flüchtlinge sind sie geworden.
Und das christliche Europa zeigt sich von seiner wahren Seite: es zeigt das kalte Herz, das es regiert.

Seit Wochen versuche ich hier mit diesem kleinen blog mit zu helfen, daß dieser Skandal ein Ende findet.
Dem Schreiber bleibt das Schreiben. So ist es.
Es ist nicht viel, aber es ist auch viel.

Die Kirchen mahnen, die katholische ebenso wie die evangelische. Die Hilfswerke rufen, nichtstaatliche Organisationen fordern die Politik auf, endlich wirksam zu handeln und den Flüchtlingen zu helfen.

Alles vergebens.

Sie schweigen.
Alle.

Wir schweigen nicht.
Wir weisen hin auf diesen Skandal vor Lampedusa und in den anderen Flüchtlingscamps, die das christliche Europa eingerichtet hat, um Menschen in Not abzuwehren.
Wir verbinden uns mit den Menschen, die diesen Skandal nicht hinnehmen wollen.
Jeder mit seinen Möglichkeiten.

Wo die Demokratie versagt, muss sich der Bürger selbst um die Dinge kümmern, die eigentlich Sache von Parlament und Regierung wären.
Doch die sind offensichtlich nur noch mit sich selbst beschäftigt.
Und lassen die Menschen einfach ertrinken.
Vor Lampedusa.
FRONTEX wird’s richten.

Es ist mehr als höchste Zeit, daß Europa sich öffnet und eine moderne Flüchtlings- und Integrationspolitik betreibt. Dazu gehört es vor allem, den Menschen wirksam zu helfen, damit sie gar nicht erst auf die Flucht müssen.
Deshalb müssen die Ursachen der Flucht endlich bekämpft werden: europäische Agrarsubventionspolitik an erster Stelle.
Solange Europa in Afrika die Märkte zerstört mit billigen Landwirtschaftsprodukten, solange Europa auf diese Weise die Menschen zur Flucht treibt – solange gibt es kein einziges Argument für eine Organisation wie FRONTEX.
Solange an europäischen und anderen Börsen mit Lebensmitteln und ihren Rohstoffen spekuliert werden darf – solange werden die Menschen weiter in die Flucht getrieben, denn sie können ihr täglich Brot nicht mehr bezahlen. Die Spekulation mit Lebensmitteln und ihren Rohstoffen muss verboten werden. Das können Parlamente und Regierung in Form eines Gesetzes beschließen.
Der Text eines solchen Gesetzes ist einfach: „Spekulation mit Lebensmitteln und ihren Rohstoffen ist in Europa verboten.“
FRONTEX ist die falsche Antwort auf die Frage, wie wir in einer gemeinsamen Welt leben könnten.
Abgrenzung hilft niemandem, sondern schadet allen.
Der Geist der Kooperation, des Miteinander, der Geist der UN-Menschenrechtscharta und der UN-Charta – dies muss an erster Stelle stehen und unser Handeln bestimmen.
Der Geist der Ausgrenzung, der Abschottung, der Geist von Mauern und Zäunen gehört in die vergangenen Zeiten des Kalten Krieges, aber er kann niemals Zukunft eröffnen.

Deshalb: wacht auf in den Parteien! Wacht auf in den Redaktionen! Wacht auf in den Arbeitsgemeinschaften! Wacht auf an euren Computern!
Europa versinkt – vor Lampedusa.
Wenn wir den Flüchtlingen nicht wirksam helfen.