Eine Freundin hat mich ermutigt, mit diesem Experiment zu beginnen. „Du hast dreißig Jahre in der Diktatur gelebt, bist von ihr geprägt worden. Du hast lange vor dem Fall der Mauer und besonders in den Jahren der Wende für die Demokratie gekämpft, warst danach in politischen Spitzenämtern engagiert, kennst den Westen nun auch dreißig Jahre – so einen Einblick haben wenige. Schreibe darüber!“ hat sie gemeint.
Ich war unsicher, ob das sinnvoll sein könnte.
Es gibt ein paar Millionen Menschen, die auch in beiden System gelebt haben. In der Diktatur und seit 1990 im wieder größer gewordenen Deutschland. Was also könnte ich beisteuern, was nicht auch andere erzählen können?
Ok, nicht jeder hat den Westen so erfahren wie ich, der als Ostler bis so ziemlich ganz nach „oben“ kam, politisch gesehen. So sehr viele waren und sind das ja nicht. Und, bezogen auf den Osten – auch da gehörte ich zur einer verschwindend geringen Minderheit. Insofern könnte es schon ein unterscheidbarer Beitrag werden.
Vielleicht kann aber ein solches Experiment zusätzlich auch eine Einladung an andere sein, die jeweils „eigene Geschichte“ zu erzählen. Und das wäre viel.
Zunächst ein Doppeltes:
In der Diktatur (schon die Wortwahl zeigt dem Leser, aus welcher „Ecke“ ich komme) gehörte ich nicht zu den Privilegierten und gehörte doch zu ihnen.
Zu den politisch Privilegierten gehörte ich ganz sicher nicht. Ich war, wie meine beiden Brüder, nie Mitglied bei den Pionieren, war nicht in der FDJ, war nicht bei der Armee, hab mich nie an Wahlen beteiligt, die ja keine waren. Das hatte Konsequenzen, wir durften ein staatliche Abitur machen, durften nicht studieren, was wir wollten, obwohl wir zu den Klassenbesten gehörten.
Wir gehörten nicht „zum System“. Wir waren „Kirchenleute“, stammten aus einem Pfarrhaushalt in dem ein klares „Die da draußen“ und „wir hier drinnen“ galt. „Die da draußen“ – das war „der Staat“, vor allem der atheistische Staat, der die Kirche bekämpfte mit allen Möglichkeiten, die er hatte.
Meine Eltern waren ganz bewusst nicht „in den Westen gegangen“, als das noch einfach möglich war, vor dem Bau der Mauer 1961 also. Nein, sie blieben „im roten Osten“, weil sie hier ihre Lebensaufgabe sahen: Christ sein in unchristlichem Umfeld.
Das hat mich natürlich geprägt.
Ich war während der Diktatur, wie meine Brüder, politisch extremer Außenseiter, ich galt als „bürgerlich“, später, so sagt es die Stasi-Akte, galt ich gar als „Staatsfeind“, aber dazu kommen wir noch.
Ich gehörte nicht zu den Privilegierten und war doch sehr privilegiert: wir lernten nämlich von klein auf, was wirkliche Freiheit bedeutet. Eine Freiheit nämlich, die es auch hinter Mauern geben kann und die sehr viel mehr ist als Wahl- oder Reisefreiheit oder die Freiheit, zu kaufen, was das Portmonee erlaubt.
Es ist die Freiheit zum eigenen Weg, zum eigenen Denken und zur eigenen Überzeugung auch zu stehen. Davon wird zu reden sein.
Jetzt, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, nach dem politischen und wirtschaftlichen Tornado, der über das Land fegte, jetzt frage ich mich manchmal: was ist eigentlich aus denen geworden, die damals politisch Privilegierte waren? Es waren ja nicht alles „Scharfmacher“, die meisten waren Mitläufer.
Nicht wenige von ihnen haben mittlerweile eine ganz ordentliche Rente – nicht wenige Stasiopfer beispielsweise bekommen dagegen extrem wenig. Da ist es also ungerecht zugegangen. Ich komme darauf später in einem anderen Beitrag zurück.
Dann gibt es welche, die schwammen damals „oben“ und schwimmen wieder „oben“. Opportunisten. Die gehen immer nach den Mehrheiten, suchen den eigenen Vorteil und fertig ist die Weltanschauung. Die gibt’s überall, in Ost wie West.
Nicht wenige der „Bürgerrechtler“, wie man uns später bezeichnete haben sich mittlerweile enttäuscht zurückgezogen, äußern sich kaum noch öffentlich, stecken nicht selten in Erinnerungen fest. Auch davon wird zu erzählen sein.
Mir ging es anders.
Davon will ich nach und nach erzählen. Anhand von konkreten Themen und Erlebnissen. So mancher Vergleich wird dabei zu Tage treten, denn es ist ja mehr als verstehbar, dass einer wie ich, der beide Systeme gründlich kennt, auch vergleicht, sich erinnert, Schlüsse zieht, Einordnungen versucht. Es wird dabei konsequent persönlich zugehen. Denn ich kann nicht für andere sprechen. Bei einem solchen „Experiment“ schon gar nicht.
Also, ich glaube, ich nehme die Anregung der Freundin auf, will mich einlassen auf dieses Experiment, obwohl ich nicht weiß, wo es mich hinführen wird.
Wenn es gut geht, entsteht ein Gespräch.
Nicht nur eines unter denen, die auch in der Diktatur gelebt haben, sondern auch eines mit denen, die nicht wissen, was eine Diktatur ist.
Vielleicht entsteht so nach und nach ein Beitrag zum besseren wechselseitigen Verständnis. Vielleicht entsteht auf diese Weise eine Art Brücke, über die man gehen kann. Meine Freundin, die viel gesehen hat von der Welt, sagt: es mangelt an solchen Brücken.
Vielleicht hat sie ja Recht. Dann lasst uns also Brücken bauen und beginnen.
Die Texte werden nach und nach entstehen, ich habe im Moment noch gar keine klaren Vorstellungen, wie sich das ungeheuer viele Erinnerungsmaterial einigermaßen sortieren läßt. Wer Interesse hat, abonniert die Sache einfach und kann sich entsprechend auf dem Laufenden halten, wenn er mag.
Wenn durch dieses Experiment Begegnungen oder Gespräche möglich werden, dann ist es gut.