De-invest. Oder: wie Kapitalismus funktioniert. Geld und Klimawandel


Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Heute (7.5.2015) kam wieder so eine dieser guten Nachrichten:
Eine der weltweit größten Banken, die Bank of America zieht ihr Geld aus Kohle-Projekten ab.
Ebenso die Church of England.
Nach und nach greift eine weltweite Kampagne, die ein De-Investment zum Ziel hat.
Zieht das Geld ab aus Investments in klimaschädliche Projekte! Das ist die simple Botschaft.
Es ist nicht unerheblich, was sich gerade in den USA tut.
Gemessen an den gewaltigen Aufgaben sind es zwar immer noch erst kleine Schritte, selbst, wenn nun eine so große Bank wie die Bank of America neue Wege geht.
Aber: die amerikanische Wirtschaft ist nach wie vor wichtig für die Weltwirtschaft. Sie hat nach wie vor Auswirkungen auf andere Wirtschaftsräume.
Und die Amerikaner nutzen die Hebel des Kapitalismus: Investitionen und De-Investments.
Denn: Geld regiert die Welt.
Es ist nicht unerheblich, was Banken mit dem ihnen anvertrauten Geld tun.
Europa glaubt, vor allem mit Förderprogrammen und Verboten, mit Normen und Regelwerk voran zu kommen.
Der stärkere Hebel aber ist das Geld selbst: man kann es abziehen aus schädlichen Projekten.
Und in klimafreundlichere Projekte investieren.

Vielleicht ist es nicht zufällig, dass die De-Invest-Bewegung in den Mutterländern des Kapitalismus, in Großbritannien und den USA beginnt. Man kann den stärksten Hebel dieser Wirtschaftsordnung nutzen, um im Klimaschutz voran zu kommen. Das geht schneller, als Parlamente brauchen, um neue Gesetze erlassen können.

An dieser weltweiten Bewegung können sich nicht nur Kirchen und Gewerkschaften beteiligen, nicht nur einzelne Banken und der Staat selbst, sondern vor allem die Kunden der Banken können sehr Sinnvolles tun:
Sie können klimaschädlichen Projekten das Geld entziehen.
Mehr als 5 Billionen haben allein die Deutschen auf ihren Konten.

Die weltweite Kampagne „De-invest“, die vor allem von 350.org betrieben wird, zeigt erste Wirkungen.
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten.

black out. Etwas vom Versagen


Havanna Februar 2015 Hafenstraße Malecon. Windstärke 3 an einem normalen Tag
Havanna Februar 2015 Hafenstraße Malcon. Windstärke 3 an einem normalen Tag

Unsere gegenwärtigen politischen Systeme sind offensichtlich nicht in der Lage, dieses im Bild sichtbare Problem angemessen zu lösen: Klimawandel. Die wohl größte Herausforderung unseres Jahrhunderts.

Was man hier sehen kann, ist ein „normaler Tag“. Die Prognose beim kompletten Abschmelzen des Grönlandeises sieht einen Anstieg des Meeresspiegels um etwa 6 Meter. Einige Szenarien rechnen gar mit 8 Metern. Noch in diesem Jahrhundert, von dem schon 15 Jahre vergangen sind. Havanna wird im Wasser stehen.
Dieses Bild steht für viel: denn etwa ein Drittel der Menschheit lebt in Hafenstädten in einem Küstenstreifen von ca. 50 Kilometern.
Es besteht dringender Handlungsbedarf. Aber die Klimaverhandlungen kommen nicht voran. Das 2-Grad-Ziel ist ganz offensichtlich nicht mehr zu erreichen. Weil der CO-2-Kreislauf ein träger Kreislauf ist. Selbst wenn man alle Emissionen sofort auf Null stellen würde, würden die Emissionen weiter steigen.
Klaus Töpfer, mit dem ich in Tokyo darüber sprechen konnte, rechnet mit etwa 500 Millionen Umweltflüchtlingen (gegenwärtig hat die Welt etwa 51 Millionen). Deshalb zwingt der Klimawandel zu einer vernünftigen Flüchtlingspolitik. Doch davon ist weltweit nichts zu erkennen. Der Trend heißt: Abschottung. Doch das wird keine Lösung sein.
Wir beobachten weltweit eine Zunahme von Konflikten. Große Länder wie China stecken ein Vielfaches ihrer Umwelt-Ausgaben in Aufrüstung. Auch in Deutschland spricht man über mehr Geld fürs Militär.
Das wird jedoch herzlich wenig helfen, die notwendigen Anpassungen der Infrastruktur nicht nur in den Hafenstädten zu finanzieren…..
Erheblich betroffen ist die Landwirtschaft. Wassermangel auf dem Festland. Wassermangel auf den Inseln. Denn das steigende Salzwasser dringt in die Grundwässer ein und versalzt sie. Dürren verhindern eine Bewässerung der Felder auf dem Festland. Landwirtschaft ist das zentrale Thema für etwa die Hälfte der Weltbevölkerung. Die andere Hälfte lebt bereits in den Mega-Städten dieser Welt.
Ist die Entwicklungszusammenarbeit auf den Klimawandel vorbereitet? Offensichtlich nicht. Wenn, dann nur in ersten Ansätzen. Beispiel: die Gelder, die Mosambique für Entwicklungshilfe erhält, benötigt das Land, um steigende Spritpreise zu finanzieren…..Und ein paar Solaranlagen in ein paar abgelegenen Dörfern werden das Problem auch nicht wirklich lösen – wenn es am Wasser mangelt.
Was wir sehen können: die enorme Herausforderung Klimawandel zeigt ein komplettes Versagen der bestehenden politischen Systeme. Die langsamen Verfahren, denen Politik unterworfen ist; das enge nationalstaatliche Denken – all das verhindert eine sinnvolle und effektive internationale Kooperation, die dringend erforderlich wäre. Weil die Auswirkungen dieser größten Herausforderung unseres Jahrhunderts so hoch komplex sind, dass sie nur in internationaler Arbeitsteilung zu lösen sind. Nationalstaaten allein können das nicht mehr schaffen. Auch die reichsten Länder der Welt können das nicht mehr alleine. Aber von wirklicher, zielgerichteter Kooperation ist weit uns breit nichts oder nur sehr wenig zu entdecken. Was man finden kann zu Hauf: nationalstaatliche Eigeninteressen.
Statt mehr Kooperation erleben wir gegenwärtig mehr Abgrenzung. Exemplarisch zu studieren am Verhältnis Europas zu Russland. Wir erleben also das glatte Gegenteil dessen, was eigentlich erforderlich wäre. Sir Nicolas Stern hat schon vor Jahren eine Zahl genannt: nötig wären Klimaschutz-Investitionen von etwa 5% des BIP.
Wir sind meilenweit davon entfernt.

Gleichzeitig erleben wir, dass neue Handelsabkommen geschlossen werden sollen, die vor allem ein Ziel haben: noch mehr wirtschaftliches Wachstum. Stichworte sind TTIP und andere.
Das bedeutet: noch mehr Emissionen. Denn: eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Emissionen ist bislang nicht gelungen. Der zu erwartende Trend heißt also:
noch schneller steigende und noch mehr Emissionen.
Ökologen sagen uns: wir haben es bei den Zerstörungen mit einem exponentiellen Wachstum zu tun. All das ist seit vielen Jahren bekannt, es ist „nichts neues“ (als ob das ein Kriterium wäre!).
Neu ist die Nachricht vom vergangenen Jahr: das Schmelzen des Eises auf der Südhalbkugel ist offenbar unumkehrbar. Da ist ein weiterer Kipp-Punkt erreicht worden.

Deshalb ist für mich die alles entscheidende, zentrale Frage, um die sich aber alle Parlamente und Regierungen herumdrücken: Wie viel ist genug?

Jede Politik, die auf „mehr Wachstum“ setzt, ist eine zerstörerische, antiquierte Politik und den eigentlichen Herausforderungen unseres Jahrhunderts nicht gewachsen.
Viele Menschen sehen diese Entwicklungen mit großer Sorge. Viele fühlen sich ohnmächtig angesichts der hohen Komplexität der beschriebenen Herausforderung. Viele haben resigniert, weil trotz jahrelanger Klimadiplomatie, trotz Demonstrationen und trotz so mancher sinnvoller Gesetzgebung die Emissionen dennoch weiter stark ansteigen und sich das zerstörerische Rad immer schneller dreht. Ich kann solche Reaktionen verstehen.

Weltweit sind glücklicherweise auch andere Entwicklungen zu beobachten: da finden sich Menschen, die sich vom immerwährenden wirtschaftlichen Wachstum verabschieden. Sie leben in Genossenschaften, entwickeln behutsame Tourismuskonzepte, arbeiten an Modellen von besserer wirtschaftlicher Gerechtigkeit, sorgen für mehr fairen Handel, investieren klug. Zaghafte, winzige, erste Ansätze einer dringend notwendigen neuen Ökonomie. Das Internet gibt die Möglichkeit, sich schnell miteinander zu verbinden. Das ist eine Chance. Immerhin.

Allerdings ist wohl eines abzusehen: die bestehenden politischen Systeme, die von Egoismen, Einzelinteressen und „Denken bis zum eigenen Tellerrand“ geprägt sind, werden weiter an Bedeutung verlieren – wenn sie sich nicht dazu aufraffen, die wirklich großen politischen Themen zu fokussieren und gezielt und in internationaler Kooperation anzugehen.
Ich weiß nicht, wozu diese zu beobachtende Entwicklung führen wird.
Ich gestehe aber: meine Skepsis nimmt zu, je älter ich werde. Gerade weil ich das politische Geschäft von innen kenne. Stephe Hawkins hat kürzlich gemeint: wenn es den Menschen nicht gelingt, ihre Aggression (die sich ja auch im immerwährenden wirtschaftlichen Wachstum zeigt!) in den Griff zu bekommen und lebenserhaltend einzusetzen, dann sieht er wenig Chancen für eine gute Entwicklung.

Bedrückend ist dabei vor allem: diejenigen, die für den Klimawandel am wenigsten können, werden am stärksten seine Folgen spüren.
Manchmal stelle ich mir vor, dass die Generation der kommenden Enkel uns eines Tages fragen wird: ihr habt das alles gewusst. Was habt ihr unternommen?
Und dann werden da Tage sein, da wird man noch lauter als jetzt schon einen Internationalen Umwelt-Straf-Gerichtshof fordern, vielleicht ja auch in Den Haag, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die dafür Verantwortung trugen. Bei genauem Hinsehen wird sich dann aber schnell zeigen: das sind wir alle mit unseren Erwartungen, unseren Zielen, unserem Alltagsverhalten.
Das, was sich abzeichnet, ist ein black out. Ein komplettes Versagen.
Ich weiß, dass diese Zeilen hier „in den Wind geschrieben“ sind.
Das macht aber nichts. Sie mussten geschrieben werden.

Hybris. Oder: etwas vom Brot.


Man muss innehalten in diesen Tagen. Sonst geraten die wichtigen Sachverhalte aus dem Blick.
Nach dem Terror-Anschlag von Paris wird in Europa zwar kräftig und auch ausführlich über die Frage „Was darf Satire?“ diskutiert, jedoch nicht über die viel wesentlichere Frage: „Was sind eigentlich Ursachen für Terror?“
Auch nach dem Attentat vom 11. September 2001 hat man diese wichtigere Frage nicht hinreichend erörtert. Und das hatte schlimme Folgen: einen Krieg zum Beispiel. Man kann aber die Ursachen von Gewalt nicht mit einem Krieg bekämpfen.
Deshalb will ich heute eine von der University of Notre Dame erarbeitete neue Grafik über die Folgen des Klimawandels besprechen.
Aus ihr geht hervor, dass der Klimawandel – der längst stattfindet – vor allem Länder in Afrika und Asien betrifft. Das ist zwar nicht neu, aber ausdifferenzierter als früher. Auffallend ist: etliche dieser besonders stark betroffenen Länder sind eben auch „Quellorte“ für Terroristen.
Was ist der Zusammenhang? Terrorismus rekrutiert sich auch aus Ungerechtigkeit und Armut. Armut ist unter anderem eine Folge des Klimawandels, der wiederum eine seiner Ursachen in den Wirtschaftsbedingungen des reichen Nordens der Erde hat.
Kurz: der Lebensstil des Nordens führt zur Armut im Süden. (Man kann sich unter diesem Aspekt ja mal die Wirkungen des Hochfrequenzhandels an den Börsen betrachten)
Papst Franziskus hat die Folgen des Kapitalismus kurz und prägnant zusammengefasst:
„Dieses Wirtschaftssystem tötet.“
Schon Willy Brandt hat gesehen, dass der Lebensstil des Nordens zur Armut im Süden führt, als er sich für einen stärkeren Nord-Süd- und Süd-Süd-Dialog eingesetzt hat in den siebziger Jahren, dennoch muss es wiederholt werden, weil es im Bewusstsein des Nordens überhaupt noch nicht angekommen und politikwirksam geworden ist. Eher im Gegenteil. Das Thema wird verdrängt. Man redet lieber über „Was darf Satire?“
Schaut man sich die Wirtschaftsgeschichte der maßgeblichen Industriestaaten an, findet man schnell, dass sie ihren Reichtum schon früher aus dem Süden bezogen haben: während der Kolonialzeit.
Jean Ziegler weist in seinem Buch „Der Hass auf den Westen“ deshalb völlig zu Recht darauf hin, dass man durchaus verstehen kann, wenn die Länder des Südens, die von Kolonialismus und Klimawandel besonders betroffen waren und sind, allmählich zornig werden.
Wenn man sich daraufhin nun nocheinmal die oben eingefügte Grafik über die Folgen des Klimawandels anschaut; wenn man dabei zusätzlich bedenkt, dass
1. demnächst etwa 10 Milliarden Menschen die Erde bewohnen werden und
2. über ein Drittel des Menschheit in einem nur etwa 50 km breiten Streifen an den Küsten der Kontinente lebt (vor allem in sogenannten Mega-Citys, die jetzt schon über die Hälfte der Weltbevölkerung beherbergen)
3. die ärmeren Länder besonders unter dem Klimawandel zu leiden haben werden
4. die reicheren Länder vor allem mit Abschottung reagieren (Stichwort: FRONTEX)
dann kann man ermessen, was für ein mächtiges Gewaltpotenzial sich da aufbaut.

Wenn ich mir unter diesem Aspekt die – vor allem in Europa geführte – Debatte über Satire und „freie Meinungsäußerung“ nach dem Anschlag von Paris anschaue, dann finde ich vor allem eins: Hybris.

Denn: scharf formuliert und zugespitzt lautet der Konflikt:
Ein Armer kommt zum Reichen und sagt: „Gib mir Brot, meine Familie verhungert!“
Der schaut den Armen an und antwortet:
„Brot bekommst du nicht. Aber deine Religion taugt nichts. Und ich darf das sagen.“

Wir werden von diesem hohen Ross wohl absteigen müssen.
Wir werden wohl vor allem über die Ursachen der Gewalt sprechen müssen.
Aus einem einfachen Grund.
Wenn wir das wieder nicht tun, dann wird die Gewalt zunehmen.

 

vom Lesen der Zeitungen – Nachrichten von globalen Dorf


Es ist schwer, sich ein Gesamtbild zu verschaffen. Aber der UN-Bericht zur Bevölkerungsentwicklung 2011 gibt Anlass dazu. Einige Trends sind zu erkennen:

1. Die Weltbevölkerung wächst schneller als bislang angenommen. Am stärksten wachsen die ärmsten Länder, währen die reichsten Länder vergreisen

2. Die Meere sind überfischt. Fisch ist neben Getreide das Hauptnahrungsmittel der Menschheit

3. Weit über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Riesenstädten und der Trend beschleunigt sich weiter

4. Die Menschheit lebt von etwa 30 Getreidesorten. Das Artensterben jedoch beschleunigt sich weiter. Damit ist die Ernährung der Menschheit zunehmend gefährdet.

5. Die Folgen von Naturkatastrophen verstärken sich. Wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist die falsche Nutzung von Energie, denn sie beschleunigt den Klimawandel.

6. Der Klimawandel betrifft vor allem die ärmsten Länder der Welt. Er wird aber vor allem von den reichsten Ländern der Welt, sowie von „aufstrebenden“ Schwellenländern verursacht, die einen „Wohlstand“ nach dem Modell der reichsten Länder anstreben.

7. Die eigentlich notwendige Umsteuerung findet nicht statt. Das globale Finanzsystem ist instabiler denn je. Notwendige Gelder für Enwicklungszusammenarbeit, Geburtensteuerung, nachhaltige Energieversorgung, Arten- und Klimaschutz fließen nicht. Die Regierungen der Welt sind weit davon entfernt, ihre selbstgesteckten Ziele einzuhalten (Millenium goals).

8. Die Konfrontationen auf Grund von wachsenden Fundamentalismen zwischen reicher und armer Welt nehmen zu. Vor allem der Kampf um die letzten Rohstoffe treibt diese Konflikte an (Öl, seltene Erden etc.).

9. die politischen Steuerungsmechanismen der Menschheit versagen ganz offensichtlich. Egoismus von Nationalstaaten überwiegt nach wie vor den eigentlich notwendigen Gemeinsinn für die Eine Welt. Die UNO selbst ist nicht in der Lage, die Rolle einer eigentlich notwendigen Weltregierung zu erfüllen, weil der Konkurrenzkampf zwischen reicher und armer Welt, weil die Eigeninteressen vor allem der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates eine solche Rolle verhindern.

10. Das Bewußtsein für die Eine Welt ist sehr unterentwickelt. Vor allem die reiche Welt versucht mit ihren enormen militärischen Ressourcen, ihren Wohlstand zu „sichern“, übersieht dabei aber, daß die Welt ein Gesamtsystem ist, in dem niemand auf Kosten anderer leben kann, weil die Verflechtung der Volkswirtschaften und die globalen Auswirkungen eigenen Handelns soweit fortgeschritten sind, daß ein solches „Sicherungsdenken“ ins Leere läuft.

Man kann den Eindruck gewinnen, daß die Menschheit drauf und dran ist, ihre Lebensgrundlagen und damit sich selbst wissentlich zu zerstören.

Ein kleiner Trost: die Menschen brauchen die Erde, aber die Erde braucht die Menschen nicht.
Sie wird sich nach dem Desaster wieder erholen und in alter Schönheit wie am ersten Tage als blauer Planet durchs Weltall kreisen…..

„20 Jahre“ – ein eher persönliches Kapitel zum Gedenktag


Als ich zwanzig wurde, stand Westdeutschland unter dem Schock der Entführung der „Landshut“; Hanns Martin Schleyer wurde ermordet, die RAF bestimmte die Schlagzeilen.
Für mich war der Alltag in der Diktatur Normalität. Die „Landshut“ oder die RAF erreichten mich nur über den SFB oder den RIAS, den Deutschlandfunk natürlich auch, einen Fernseher besaßen wir nicht.
Mein Alltag bestand darin, Griechisch und Latein zu lernen, Aufsätze über „Jakob der Lügner“ zu schreiben und Studientage vorzubereiten. „Schüler unterrichten Schüler“ – ein neues, gutes Konzept. An einer kleinen kirchlichen Schule in Naumburg, die es noch gab in der Diktatur. Es war ein gutes Jahr: das mittlere von drei anstrengenden Jahren. Wir hatten noch ein wenig Zeit bis zum Abitur. Margot Honecker hatte es nicht zugelassen, daß ich ein staatliches Abitur machen durfte – meine Nichtmitgliedschaft bei Pionieren, FDJ, vormilitärischen Ausbildungslager und anderem, was der Staat erwartete, hatte dies zur Konsequenz.  Wir zahlten den Preis gern, wenn er auch das „Aus“ für bestimmte Berufswünsche bedeutete.

In Ost-Berlin wurden im Oktober 1977 nach einem Rockkonzert Jugendliche verhaftet. Ich finde in meinen Notizen:

Am 7.10.1977 wird ein Rockkonzert vorzeitig beendet, zahlreiche Jugendliche beginnen zu grölen und zu pöbeln. Volkspolizisten schwärmen aus, zücken ihre Gummiknüppel und schlagen auf die jungen Leute ein, die sich jedoch zur Wehr setzen.  ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen berichtet am Tag darauf: „Über die schweren Tumulte, die sich in der letzten Nacht auf dem Alexanderplatz, vermutlich im Zusammenhang mit einer Musikveranstaltung ereigneten, liegen bis zur Stunde widersprüchliche Nachrichten vor. Dass es zu einem massiven Polizeieinsatz gekommen ist, steht außer Frage.“ Bis heute kann nicht genau rekonstruiert werden, was sich damals auf dem Berliner Alex abspielte. Während die DDR-Führung nur von einigen, wenigen Schreihälsen sprach, berichteten Westmedien über drei Todesopfer, davon zwei Polizisten, und etwa 200 Verletzte. Jegliche Berichterstattung wurde brutal unterbunden. Die Schlägerei auf dem Alexanderplatz hatte für die meisten Jugendlichen ein juristisches Nachspiel. Drakonische Strafen wurden verhängt, viele landeten in Jugendwerkhöfen oder im Gefängnis. Die DDR fuhr einen harten Kurs gegen die eigene Jugend, wie FDJ-Chef Egon Krenz öffentlich erklärte:
„Wir messen einen jungen Menschen nicht in erster Linie an Äußerlichkeiten, andererseits treten wir entschieden gegen jene Wenigen auf, die versuchen, durch rowdyhaftes Verhalten, Rechtsverletzungen und Alkoholmissbrauch die kulturvolle Atmosphäre in den Jugendveranstaltungen zu stören.“
Uns ging das nur am Rande an, hatten wir doch mit dem strengen Unterricht, mit Chören und Musik genug um die Ohren.
Thomas Mann war uns wichtiger und Rainer Maria Remarque. Marc Chagall und Stefan Zweig.
Aber diese politischen Dinge beschäftigten uns, wenn wir nachts auf dem Zimmer hockten und diskutierten.
Ich merke heute, wenn ich versuche, mich zu erinnern, daß die Erinnerung unzuverlässig wird. Ich muß im Tagebuch nachschauen.

Was werden wir wissen im Jahr 2053, wenn wir uns an das Jahr 2010 zurückerinnern? An das zwanzigste Jahr der deutschen Einheit?
„Weltwirtschaftskrise“ wird uns vielleicht noch einfallen. „Gescheiterter Klimagipfel von Kopenhagen“ vielleicht auch. „Afghanistan“ vielleicht. Vielleicht werden sich manche erinnern, daß damals eine Ostdeutsche Kanzlerin war.
Mein Tagebuch wird die Notizen über „Stuttgart 21“ ebenso enthalten und jenen neuen Zaun, den man pünktlich zum Tag der Einheit aufgebaut hat, um den Staat vor den Bürgern zu schützen, wie es das „Sabbathjahr“ enthalten wird mit seinen neuen Erfahrungen nach zwanzig Jahren hauptberuflicher Politik, fünf Jahre davon in der Regierung.

Vor zwanzig Jahren stand ich mitten im Getümmel. War von Anfang an dabei, als wir neue Parteien gründeten und versuchten, auf dem Schutt der Diktatur eine Demokratie zu errichten.
Egon Krenz hat es ebenso hinweggefegt wie Ibrahim Böhme, die Stasi ebenso wie den ganzen zerrütteten Staat.
Wir standen mitten im Tornado. Und übernahmen Verantwortung. Als das Alte verging und relativ wenig wirklich Neues wurde.
Diese Erfahrung hat uns geprägt: dass ein politisches System über Nacht verschwinden kann.
Das bringen die Ostdeutschen mit in die Einheit: die Erfahrung, daß ein politisches System verschwinden kann. Über Nacht. Plötzlich und unerwartet, fällt etwas, das man für „ewig“ gehalten hatte….

Gestern sprach ich mit einer Gruppe von angehenden Journalisten der Jahrgänge 1989-92 über die Wechselwirkung von social web und „alten Medien“ und die Veränderung der Demokratie.
Die jungen Leute wissen nichts mehr von der Diktatur, sie wissen Weniges von den Wendejahren, jenen Jahren, in denen sie zur Welt kamen.
Ich komme mir alt vor, wenn ich erzähle.
Die heute etwa Zwanzigjährigen sind in Europa aufgewachsen. Die Mauer gibt’s nur noch in Erzählungen und in Museen. Man twittert aus Singapore oder von den Azoren, aus Indien oder aus dem Sauerland.
Neue Medien verändern Möglichkeiten der Teilhabe. Kostenloses Bürgerfernsehen via Handycam verändert die Demokratie und lässt so manchen Minister zittern.

Seit ich viel von der Welt gesehen habe, kommt mir die Debatte um die Deutsche Einheit noch provinzieller vor, als all die Jahre ohnehin schon.
Ich mag diese deutsche Nabelschau nicht. Schon am ersten Tag der Deutschen Einheit bin ich aus Berlin weggefahren an die See. Da waren mir zuviele Fahnen vor dem Reichstag. Das war mir zu dicke, ich wollte Abstand.
Seit ich den Slum in Nairobi gesehen habe und das gewaltige Technologiezentrum in Seoul, das man, den Klimawandel ignorierend, nur einen Meter über dem Meeresspiegel in den Sand setzt; seit ich in Nordkorea die bittere Not im Lande sah und in Moskau die Ölmagnaten im Ausschuss „Energie“ der Duma – seither sind mir die europäischen und globalen Themen noch wichtiger geworden, als sie schon in der Abiturzeit waren. Jenes „global denken und lokal handeln“, das den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung so sehr prägte, prägt mich heute noch.
Ich mag diese deutsche Nabelschau nicht.
Denn dieses reiche Land hätte eigentlich so gewaltige Aufgaben zu erfüllen – einen wirklich maßgeblichen Anteil zu erbringen für mehr Klimaschutz, für mehr Gerechtigkeit zwischen Reicher und Armer Welt, für eine bessere Europäische Integration, für eine bessere Flüchtlingspolitik.
Aber wir beschäftigen uns mit uns selbst und diskutieren schlechte Bücher von seltsamen Bankern…

Nun gehen solche Jahrestage ja glücklicherweise auch vorüber.
Mich tröstet der Orion am morgen. Er grüßt wie schon immer das Siebengestirn und erlaubt mir, ein wenig Abstand zu nehmen.
Was sind schon zwanzig Jahre, wenn einen der Orion grüßt am Morgen?

20 Jahre Deutsche Einheit – Ein Rückblick von einem, der seit 1990 dabei war


Gerade komme ich von einem Wochenendurlaub aus Hessen.

Vor 20 Jahren wäre diese Selbstverständlichkeit undenkbar gewesen.

Mich ließ man als „Oppositionellen“ zu Zeiten der Diktatur nicht mal zu Dienstreisen in den „Westen“. Die Zeiten haben sich geändert. Ob sie sich radikal geändert haben, steht dahin, denn durch den Zusammenbruch des früheren Ostblock-Systems entfiel zwar ein einfaches Abwehr-Argument für die Verteidiger der alten bundesdeutschen Ordnung, aber ob das nun geeinte Land und sein gesellschaftlich-politisches System tatsächlich besser mit den globalen, Umwelt- und Sozialherausforderungen umgehen kann, wird sich noch erweisen müssen. So jedenfalls sah es Egon Bahr noch im Wendejahr 1989/1990 bei einer Veranstaltung der FES, an die ich mich oft erinnere.

Was ist es mit der „geteilten Wirklichkeit“? Seit dem Fall der Mauer habe ich in deutsch-deutschen Teams gearbeitet. Seit 1990 bei der FES, seit 1998 im Bundestag, seit 2004 in der Regierung.

Die Zeiten der „Besserwessis“ und „Jammerossis“ habe ich nie so erlebt, wie sie in manchem Zeitungsartikel beschrieben waren. Denn beim genauen Zuhören konnte man auch bei denen, die „ein Jahr länger zur Schule gegangen sind, um Selbstdarstellung zu lernen“ (Westlern) das große Engagement erkennen, das Anfang der 90iger Jahre für den Wiederaufbau der Neuen Länder in ihnen war. Es gab auch welche, die im Westen voraussichtlich beruflich nicht mehr weiter gekommen wären. Gewiss. Für sie war der Osten eine berufliche Chance. Zumal mit „Buschzulage“ garniert. Aber bald schon zeigte sich, ob sie ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen waren.

Mittlerweile gibt es eine ganze Generation von Ostlern, die seit fast 20 Jahren im Westen leben und umgekehrt gibt es eine Generation von Westlern, die an maßgeblicher Stelle, als Bürgermeister, Landrat, Abgeordneter, Arbeitgeber oder Vereinsvorsitzender sich um den Aufbau Ostdeutschlands verdient gemacht haben. Die Unterschiede beginnen, sich zu verwischen. Der Westen ist nicht mehr nur „westdeutsch“, der Osten schon lange nicht mehr nur „ostdeutsch“, gerade die Eliten mischten sich schnell. Am schnellsten ging es in den Unternehmen, aber auch in der Politik. Denn durch den Beschluss der Volkskammer, der alten Bundesrepublik „beizutreten“, kamen Inhalte und Personen in den Osten, die Bewährtes und weniger Bewährtes aus dem Westen nun auch hier einführten und praktizierten. Anfangs liefen die Kopierer heiß: Satzungen, Statuten, Gesetze, Geschäftordnungen wurden von West nach Ost übertragen – oft, ohne die Chance für einen Neubeginn zu nutzen. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in der Bildungsfrage hat das im Lissabon-Prozess, aber auch in der Föderalismuskommission I überdeutlich werden lassen: man hätte die Wende nutzen müssen, um dieses große Hindernis für eine moderne europäisch orientierte Bildungspolitik zu beseitigen. In der „FÖKO I“ aber war es schon wieder zu spät dafür….

So war es in der Wendezeit beschlossen worden: Beitritt des Ostens zum Westen.

Nun allerdings zeigt sich, dass Ostdeutschland in etlichen Bereichen zum Vorreiter, zum „Labor“ für gesamtdeutsche Problemlagen geworden ist: im Städtebau angesichts des demografischen Wandels beispielsweise. In Ostdeutschland bewährte Programme werden nun in umgekehrter Richtung „exportiert“: das Programm „Stadtumbau Ost“ fand sein Pendant im Programm „Stadtumbau West“. Die „Modellregionen Demografischer Wandel“ begannen in Ostdeutschland und finden nun ihre Fortsetzung in strukturschwächeren Regionen Westdeutschlands.

Die Zeiten ändern sich.

Deutschland ist im Krieg. In Afghanistan stehen Soldaten aus Ost- und Westdeutschland in derselben Armee und tun gemeinsam die Arbeit, zu der das gesamtdeutsche Parlament sie geschickt hat.

Mit der Wahl 2009 trat eine weitere Zäsur ein: – mit wenigen Ausnahmen – trat die „Wendegeneration“ ostdeutscher Politiker ab, die 1989 angetreten war, um ein demokratisches Gemeinwesen in Ostdeutschland aufzubauen. Eine neue Politikergeneration geht nun in die Verantwortung.

Mir fällt auf, dass etliche politische Freunde aus der „Wendegeneration“, die in den Aufbaujahren sehr schnell in neue Führungsaufgaben hineinwachsen mussten, zu ihrer alten Nachdenklichkeit zurückkehren, die sie schon vor der Wende ausgezeichnet hat. Mancher meint hinter vorgehaltener Hand noch etwas schüchtern: „Wir sollten mal wieder nach Schwante fahren[2]“.

Wer sich mit offenen Augen die großen Zentren der Welt besieht – und wir hatten ausführlich Gelegenheit dazu – der fragt sich zum Beispiel angesichts der ökologischen Herausforderung, angesichts von Klimawandel und zunehmender Ungerechtigkeit, angesichts von Bankenkrise und moralischem Verfall insbesondere der „Wirtschaftseliten“, was denn am neuen System so überragend besser sein soll als das Bekannte? Ist unsere gemeinsame Ordnung tatsächlich in der Lage, diese Herausforderungen besser zu lösen?

Es ist ungewiss.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass zunehmende Umweltzerstörung, sich beschleunigender Klimawandel, zunehmende Ungerechtigkeit Hinweise sind auf ein lediglich höheres Tempo einer Entwicklung, die, wenn sie nicht gestoppt wird, zur Selbstzerstörung führen kann.

Ich gehörte als Ostler nie zu denen, die in den Westen wollten, weil der Umzug in den Westen mir immer so vor kam, als wechsele man auf einem untergehenden Schiff lediglich vom Kellerdeck an die Bar. Man hatte zwar Reise- und Wahlfreiheit, gewiss. Hohe Güter, die viel zu schnell wieder „verschleudert“ wurden – man sieht es an der Wahlbeteiligung. Aber an der grundsätzlichen materialistisch orientierten Ausrichtung des ganzen „Schiffes“ hat sich nicht viel geändert. Der Westen ist ebenso materialistisch wie es der Osten immer war. Nur eben ist er auch darin effizienter.

Es ist ein interessantes Phänomen, dass in Ostdeutschland 20 Jahre nach der „Wende“ bei Wahlen die alte „Nationale Front“ (frühere SED und CDU) wieder politische Mehrheiten erlangt. Das ist mit „Ostalgie“ allein nicht erklärbar, weil ja mittlerweile eine ganze Generation nachgewachsen und eine andre ausgeschieden ist. Die SPD ist seit zwanzig Jahren strukturschwach – die ostdeutschen Landesverbände oszillieren seit 20 Jahren immer so um die 5.000 Mitglieder, je nach Wahlausgang. Das „Bündnis der 90 Grünen“ – wie wir etwas despektierlich von der anderen „Neugründung“ im Osten sprachen – hat ein ähnliches Problem. Die „Blockflötenparteien“, CDU und FDP haben das Problem in etwas gemilderter Form, weil sie die alten Strukturen übernehmen konnten und so Zeit gewannen, dennoch merken auch sie: Die Parteien ändern sich von Mitgliederparteien zu Kampagnenparteien. Ihre Funktion reduziert sich zunehmend auf die eines Bereitstellungsmechanismus für politisches Personal. Auch dies ist eine Entwicklung, die früh gesehen wurde und die nun zunehmend auch im Westen Einzug hält. Die Zeiten der Mitgliederparteien scheinen zu Ende zu gehen. Diese Entwicklung wird sicher auch getrieben und unterstützt durch soziale Netzwerke, Web 2.0 und andere neue Phänomene, die neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen. Die Formen des Engagements ändern sich: man will nicht mehr Dauermitglied sein, wohl aber ist man bereit, für eine begrenzte Zeit ein konkretes Anliegen zu unterstützen. Der Osten musste das schnell begreifen, der Westen lernt es im Moment.

Ostdeutschland musste manches schneller begreifen, denn der fast totale Zusammenbruch des ökonomischen Systems, der beinahe völlige Neubeginn in Forschung und Lehre zwangen dazu: der Wiederaufbau des östlichen Teils Deutschlands gelang in den Ländern am besten, die von Anfang an auf den Ausbau von Forschung und Technologie setzten. Am weitesten vorn ist Sachsen. Diese neuen ostdeutschen Forschungsstandorte mussten nicht nur im innerdeutschen, sondern sofort auch im europäischen Wettbewerb bestehen. Eine doppelte Herausforderung, die aber – mittlerweile kann man es an den Exportquoten und Umsätzen der erfolgreichen forschungsaffinen Unternehmen ablesen, weitgehend gelungen ist. Manch ostdeutscher Forschungsstandort ist moderner als es westdeutsche Zentren sind.

Allerdings: die neue soziale Frage ist weiter ungelöst.

Ostdeutschland wird mit seinen zwei Rentensystemen, angesichts von enormer Dauerarbeitslosigkeit seit 20 Jahren und angesichts des verstärkten demografischen Wandels (junge gut ausgebildete Leute ziehen in die Wachstumsregionen; ältere Menschen ziehen nach Ostdeutschland) in ein großes Problem hineinlaufen: Altersarmut.

„Der demografische Wandel gefährdet den Aufbau Ost“ – so sagten es meine Fachleute im Ministerium. Dieser Trend der Entleerung ganzer Landstriche beginnt im Osten, aber er setzt sich – so zeigen es alle brauchbaren Prognosen – bis weit in den Westen fort. Es bleibt das große „C“ wirtschaftlicher Prosperität in den Regionen von Hamburg über das Ruhrgebiet bis hinunter nach Stuttgart/München und es bleibt der Ballungsraum Berlin. Dann werden die Städte, die über eine Hochschule verfügen, noch mithalten können. Dann, weiter draußen im Lande, wird es schwierig.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Bundesländer, sich selbst zu helfen, werden sich angesichts der stark rückläufigen Steuereinnahmen durch den demografischen Wandel (Mecklenburg rechnet mit minus 40% in den kommenden zwanzig Jahren!) dramatisch verändern. Das Finanzausgleichssystem nach Ländern wird nicht mehr lange standhalten können, weil die Unterschiede innerhalb eines Landes immer größer werden.

Im vereinigten Europa konkurrieren ohnehin längst nicht mehr Länder gegeneinander, sondern Forschungsstandorte mit der sie umgebenden forschungsaffinen Industrie, die Ländergrenzen verwischen sich weiter. Die Partnerschaften der Universitäten sind oft der Beginn für solche „Wachstumsregionen“, die Ländergrenzen überschreiten. In Aachen kann man es besichtigen, in München ebenso. In den übrigen „europäischen Modellregionen“ – 13 haben wir davon in Deutschland – zeigt sich ein vergleichbares Szenario. Die internationale Verflechtung nimmt zu, stark gepusht von europäischer Gesetzgebung.

Zwanzig Jahre des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus liegen hinter uns.

Was wird in den kommenden 20 Jahren gelingen können?

Die europäische Verflechtung wird weiter an Tiefe gewinnen. Wirtschaftsräume entstehen über Ländergrenzen hinweg. Die Universitäten machen oft den Anfang für diese Entwicklung.

Große Bereiche Deutschlands werden mit zunehmender Armut zu kämpfen haben – der demografische Wandel treibt diese Entwicklung in Ost wie West. Die sozialen Sicherungssysteme gelangen ans Ende ihrer Leistungsfähigkeit.

Deshalb wird die Frage nach den „Standards“ neu zu beantworten sein.

So, wie die Stadt- und Regionalentwickler in Ostdeutschland seit längerem über „Mindeststandards“ sprechen, die der Staat unbedingt vorhalten muss, wenn man nicht die völlige Entleerung einer Region zulassen will, so wird man künftig neu über Sozialstandards sprechen müssen.

Die alte Frage, die uns vor zwanzig Jahren schon umtrieb, damals noch auf der östlichen Seite der mittlerweile gefallen Mauer – die alte Frage: „wie viel ist genug?“ werden wir nun gemeinsam neu beantworten müssen. Die Finanz- und Bankenkrise, der Klimawandel, der Umstand, das mitten in Europa Staaten vor einem Staatsbankrott bewahrt werden müssen – alles dies zwingt mit neuer Energie zu neuen Antworten.

Denn die gravierenden zerstörerischen Folgen einer in allen gesellschaftlichen Bereichen auf ein einfaches, oft auch zweistelliges „Wachstum“ ausgerichteten Gesellschaftsordnung sind unübersehbar geworden und gefährden mittlerweile auch die ökonomische Basis unseres Landes[3].

Hier liegen neue Aufgaben für eine neue Generation.

Wir haben unseren Beitrag dafür geleistet, dass auf dem Gebiet einer Diktatur eine neue demokratische Ordnung wachsen konnte. Vieles ist erreicht, vieles ist noch zu tun.

Nun aber müssen die jungen Europäer, die in Ost- und Westdeutschland in der neuen Generation heranwachsen, ihre Verantwortung tragen.

[1] Ulrich Kasparick war bis 1989 Stadtjugendpfarrer in Jena, 1990 Geschäftsführer des Vereins für Politische Bildung und Soziale Demokratie e.V., dem Vorläufer der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ostdeutschland; seit 1990 stv. Leiter des Landesbüros Brandenburg in Potsdam, seit 1992 Leiter des Landesbüros in Magdeburg; seit 1998 dreimal direkt gewählter Bundestagsabgeordneter, seit 2004 Parl. Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, seit 2005 in selber Funktion im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. 2009 hat er nicht erneut kandidiert und gestattet sich nach zwanzig Jahren Aufbauarbeit nun ein Sabbatical.

[2] Im Pfarrhaus in Schwante wurde am 7. Oktober 1989 die ostdeutsche Sozialdemokratie neu gegründet.

[3] Am Beispiel des Klimawandels am klarsten dargelegt im Stern-Report.