Derzeit katalogisiere ich meine Bibliothek, sortiere aus, ordne neu und nehme deshalb jedes Buch nochmals in die Hände. Dabei fiel mir ein altes Buch von 1891 auf. Genauer: das, was vorn eingestempelt zu lesen ist.

Wir sehen Spuren von zwei Kindern. Der eine zehn, der andere 11 Jahre alt.
Der eine, Gerhard, damals, 1939, wohnte er in Halle, hat das Buch zu seinem zehnten Geburtstag bekommen und unter „Nr. 13“ in seine kleine Kinder-Bibliothek aufgenommen. Er war ordentlich, wie sein Vater, der war Registrator und Rendant in einer großen Kirchgemeinde einer Stadt an der Oder gewesen und dort zuständig für das Ausstellen von Arier-Nachweisen, aber das ist eine sehr eigene, bedrückende Geschichte.
Als Gerhard das Buch zum Geburtstag bekam, war der Zweite Weltkrieg gerade 12 Tage alt, die Wehrmacht war am 1. September 1939 in Polen einmarschiert, unter dem Vorwand übrigens, man sei „dazu gezwungen worden“ und müsse „sich verteidigen“.
Den Adreß-Stempel für seine Kinder-Bibliothek hat sich Gerhard vermutlich in der Druckerei der Franckeschen Stiftung anfertigen können, dort konnten die Schüler ihren Werkunterricht wahrnehmen. Gerhard war ab 1938 Schüler der Knabenschule der Franckeschen Stiftungen. Jene Schule wurde noch 1938 mit großem Tamtam in „Hans Lody Schule“ umbenannt. Der Hallenser SS-Oberganove Reinhard Heydrich schickte ein Grußwort. Der Schulunterricht begann in jenen Jahren mit den „aktuellen Berichten von der Front“. Karten waren aufgebaut, in die Schlachten und Orte von Schlachten eingezeichnet waren. Der tägliche „Frontbericht“ war Schulalltag, schließlich müssen wohlerzogene Volksgenossen im Alter von 10 Jahren wissen, wo die Front verläuft.
Der andere Junge bekam das Buch im Jahr 1968, da war er elf.
Deutschland und Europa waren geteilt. Truppen des Warschauer Paktes waren in diesem Jahr in Prag einmarschiert, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie Dubcek ihn wollte, zu verhindern.
Katalogisiert wurde das Büchlein nun im Februar 2023, da war der russisch-ukrainische Krieg 1 Jahr alt.
Zu diesem Bild gehört eine Geschichte.
Als ich 18 wurde, nahm mich mein Vater, ein Kriegskind, das seine ganze Kindheit und Jugend unter den Nazis verbracht hatte, Mitglied bei den Pimpfen und in der HJ war, der das Schießabzeichen der HJ in Bronze besaß und der am Ende des Krieges als 15-Jähriger Brandschutzhelfer Leichen aus den Trümmern in Ammendorf und Halle ziehen musste, mit auf einen Friedhof.
Wir gingen in eine besondere Abteilung dieses Friedhofes.
„Schau Dir mal genau die Grabsteine an“ sagte mein Vater. „Was fällt Dir auf?“
„Die Geburtsdaten“, sagte ich. „Es sind alles junge Männer zwischen 16 und 25 Jahren.“
„Kannst Du mir sagen, weshalb diese jungen Leute gestorben sind?“ fragte er nach.
„Man hat sie in den Krieg eingezogen, dort wurden sie erschossen. Die jüngsten unter ihnen waren noch Kinder“, sagte ich.
Darauf mein Vater, und diesen Satz hab ich mein Lebtag nicht vergessen: „Kannst Du mir heute, an Deinem achtzehnten Geburtstag versprechen, niemals eine Waffe in die Hand zu nehmen, auch wenn Du dafür massive Probleme bekommen wirst?“
„Ja“, war meine Antwort, „das kann ich versprechen.“
Meinen Vater hat der Krieg Jahre später doch noch geholt, er wurde nur 56 Jahre alt, zehn Jahre jünger, als ich jetzt bin. Die schweren Depressionen, direkte traumatische Folgen einer Jugend im Krieg, haben ihn am Ende doch noch besiegt. Sabine Bode hat in ihren Büchern über Kriegskinder viel über die seelischen Folgen einer Kriegskindheit gearbeitet und publiziert.
Ich bin dem Kriegskind Gerhard, der mein Vater wurde, dankbar für jenes besondere Geburtstagsgeschenk an meinem achtzehnten Geburtstag.
Bis auf den heutigen Tag.