Unbequeme Wahrheiten

Unbequeme Wahrheiten

Seit gestern weiß ich, daß eine Schwester meines Vaters „vier Jahre lang“, wahrscheinlich von 1934 bis 1938, als Angestellte der Evangelischen Kirchgemeinde in Gartz an der Oder „Ariernachweise“ beurkundet hat.
Diese „Arier-Nachweise“ wurden ab April 1933 zunächst für Beamte benötigt, um die „arische Abstammung“ nachzuweisen. Die Nazis wollten den „Beamten-Apparat“ von Juden „säubern“. Wer nicht „arisch“ war, konnte nach Ansicht der Nationalsozialisten kein Beamter sein.
Wie aber kann man herausfinden, ob man „arisch“ oder „nichtarisch“ ist?
Man braucht die Kirchenbücher der Kirchgemeinden. Und zwar die der evangelischen und auch der katholischen. Denn dort steht fein säuberlich vermerkt, wer getauft ist und wer nicht.
Manfred Gailus (Hg) hat in dem Band „Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Vandenhoeck&Ruprecht 2008 umfangreiches Material zum Thema zusammengetragen.

Ab 1933 standen durch die neue Gesetzgebung die Kirchgemeinden plötzlich im Zentrum des öffentlichen Interesses, denn ihre Dokumente entschieden nicht nur über berufliches Fortkommen, sondern schon sehr bald über Leben und Tod. Wer „nicht arisch“ war, konnte zunächst bestimmte Berufe nicht ausüben und spätestens nach der Verschärfung der Gesetzgebung 1935 bestand akute Deportations- und damit Todesgefahr, ab 1942 ohnehin.

Wer also in einem Büro einer Kirchgemeinde mit diesen Fragen beschäftigt war, war direkt beteiligt an der Rassenpolitik der Nazis, ob er oder sie nun selber Mitglied der NSDAP war oder nicht. Selbst Menschen, die „in nichts drin gewesen“ waren wurden so zu Mit-Tätern.

Das ist die unbequeme Wahrheit.
Ich muss und will nun herausfinden, was wir über diese Gartzer Angelegenheit exakt dokumentieren und wissen können. Die Schwester meines Vaters hat „vier Jahre lang“, wie mir ihre älteste Tochter am Telefon sagte, solche Arier-Nachweise anhand ihrer Recherche in den Gartzer Kirchenbüchern ausgestellt. Und ihr Vater, mein Großvater also, war der Rendant der Kirchgemeinde, ihr Chef also auch in diesen Dingen. Beide waren folglich direkt involviert in die Rassenpolitik der Nazis und dürften sehr direkt mit der Auswanderung, dem Suizid oder der Deportation von Gartzer Juden befasst gewesen sein. All das gilt es nun zu recherchieren.
Meine Hoffnung ist, daß sich im Archiv der Kirchengemeinde noch Protokolle anfinden lassen von den Sitzungen des Gemeindekirchenrates zwischen 1933 und 38.
Aus meinen Recherchen in Prerow a. Darß weiß ich, daß dort die Frau Pastor Pleß höchstselbst mit diesen Fragen befasst war. Ich habe unter anderem diese Sache in einer kleinen Studie über den Darß zwischen 1933 und 1945 dokumentiert.

Nun also betrifft das Thema meine Familie direkt. Und meine Aufgabe besteht nun darin, aufzudecken, was noch aufgedeckt werden kann.
Wir sind es denen schuldig, die unter der Rassenpolitik der Nationalsozialisten zu leiden hatten.