Etwas von Büchern

Etwas von Büchern

Derzeit katalogisiere ich meine Bibliothek, sortiere aus, ordne neu und nehme deshalb jedes Buch nochmals in die Hände. Dabei fiel mir ein altes Buch von 1891 auf. Genauer: das, was vorn eingestempelt zu lesen ist.


Wir sehen Spuren von zwei Kindern. Der eine zehn, der andere 11 Jahre alt.
Der eine, Gerhard, damals, 1939, wohnte er in Halle, hat das Buch zu seinem zehnten Geburtstag bekommen und unter „Nr. 13“ in seine kleine Kinder-Bibliothek aufgenommen. Er war ordentlich, wie sein Vater, der war Registrator und Rendant in einer großen Kirchgemeinde einer Stadt an der Oder gewesen und dort zuständig für das Ausstellen von Arier-Nachweisen, aber das ist eine sehr eigene, bedrückende Geschichte.

Als Gerhard das Buch zum Geburtstag bekam, war der Zweite Weltkrieg gerade 12 Tage alt, die Wehrmacht war am 1. September 1939 in Polen einmarschiert, unter dem Vorwand übrigens, man sei „dazu gezwungen worden“ und müsse „sich verteidigen“.

Den Adreß-Stempel für seine Kinder-Bibliothek hat sich Gerhard vermutlich in der Druckerei der Franckeschen Stiftung anfertigen können, dort konnten die Schüler ihren Werkunterricht wahrnehmen. Gerhard war ab 1938 Schüler der Knabenschule der Franckeschen Stiftungen. Jene Schule wurde noch 1938 mit großem Tamtam in „Hans Lody Schule“ umbenannt. Der Hallenser SS-Oberganove Reinhard Heydrich schickte ein Grußwort. Der Schulunterricht begann in jenen Jahren mit den „aktuellen Berichten von der Front“. Karten waren aufgebaut, in die Schlachten und Orte von Schlachten eingezeichnet waren. Der tägliche „Frontbericht“ war Schulalltag, schließlich müssen wohlerzogene Volksgenossen im Alter von 10 Jahren wissen, wo die Front verläuft.

Der andere Junge bekam das Buch im Jahr 1968, da war er elf.
Deutschland und Europa waren geteilt. Truppen des Warschauer Paktes waren in diesem Jahr in Prag einmarschiert, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie Dubcek ihn wollte, zu verhindern.
Katalogisiert wurde das Büchlein nun im Februar 2023, da war der russisch-ukrainische Krieg 1 Jahr alt.

Zu diesem Bild gehört eine Geschichte.
Als ich 18 wurde, nahm mich mein Vater, ein Kriegskind, das seine ganze Kindheit und Jugend unter den Nazis verbracht hatte, Mitglied bei den Pimpfen und in der HJ war, der das Schießabzeichen der HJ in Bronze besaß und der am Ende des Krieges als 15-Jähriger Brandschutzhelfer Leichen aus den Trümmern in Ammendorf und Halle ziehen musste, mit auf einen Friedhof.

Wir gingen in eine besondere Abteilung dieses Friedhofes.
„Schau Dir mal genau die Grabsteine an“ sagte mein Vater. „Was fällt Dir auf?“
„Die Geburtsdaten“, sagte ich. „Es sind alles junge Männer zwischen 16 und 25 Jahren.“
„Kannst Du mir sagen, weshalb diese jungen Leute gestorben sind?“ fragte er nach.
„Man hat sie in den Krieg eingezogen, dort wurden sie erschossen. Die jüngsten unter ihnen waren noch Kinder“, sagte ich.
Darauf mein Vater, und diesen Satz hab ich mein Lebtag nicht vergessen: „Kannst Du mir heute, an Deinem achtzehnten Geburtstag versprechen, niemals eine Waffe in die Hand zu nehmen, auch wenn Du dafür massive Probleme bekommen wirst?“

„Ja“, war meine Antwort, „das kann ich versprechen.“

Meinen Vater hat der Krieg Jahre später doch noch geholt, er wurde nur 56 Jahre alt, zehn Jahre jünger, als ich jetzt bin. Die schweren Depressionen, direkte traumatische Folgen einer Jugend im Krieg, haben ihn am Ende doch noch besiegt. Sabine Bode hat in ihren Büchern über Kriegskinder viel über die seelischen Folgen einer Kriegskindheit gearbeitet und publiziert.

Ich bin dem Kriegskind Gerhard, der mein Vater wurde, dankbar für jenes besondere Geburtstagsgeschenk an meinem achtzehnten Geburtstag.
Bis auf den heutigen Tag.

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Ihr Programm „Der Klang der Erde ist Friede“ hatte sie zuletzt im November 2022 im Naumburger Dom aufgeführt. Als ich Veronika Otto anrief, fragte ich gleich, ob das denn hinzukriegen wäre mit der Akustik, der Naumburger Dom habe doch nun mal eine ziemlich andere Akustik als unser Musikzimmer. „Ach, das kriege ich hin“, war ihre fröhliche Antwort, „ich spiele ja nicht linear, sondern ich kreire Klang-Räume. Das klappt auch in Deinem Musikzimmer.“ Na, ich war neugierig. Und dann kam sie, bepackt mit ihren Instrumenten. Cello, mongolische Pferdekopfgeige und kasachisches Kobyz. Veronika Otto ist ausgebildete Cellistin, seit 1995 selbständig. Wenn sie spielt, spielt sie nicht irgendein „ein Stück“, sondern sie selbst tritt sofort als Person in den Raum. Sie spielt. Sie spielt nicht nach Noten (das kann sie selbstverständlich), sondern sie spielt mit Naturtönen.

Dafür sind Cello, Pferdekopfgeige und Kobyz ideale Instrumente, denn es sind „singende Instrumente“. Das Spiel mit den Naturtönen – zum Beispiel mit dem „Klang der Erde“, einem Ton, der unserem „G“ sehr nahe kommt – setzt sich fort im Obertongesang.

Veronika Otto begann ihren Abend mit einem Lied, genauer, mit einem gesungenen Gedicht aus dem Jahre 1915

„Lied der Mütter gegen den Krieg“

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen,

Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage.

Wer wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken,

Damit er einer andern Mutter teures Kind erschiesst?

Es ist die höchste Zeit, die Waffen fortzuwerfen.

Es könnte niemals einen Krieg mehr geben,

Wenn alle Mütter in die Welt es schreien würden:

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!

Zum Hintergrund dieses Liedes weiß man: es war in Amerika aufgekommen (I didn’t raise my boy to be a soldier). Am 23. Februar 1915 wurde es in der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“ abgedruckt. Die erklärende Notiz dazu lautete: „Das Lied der Mütter gegen den Krieg. In New York wird jetzt in allen Varietés, Musikhallen, auf der Strasse und im Salon ein Protestlied gegen den Krieg gesungen, das in deutscher Übersetzung lautet…“

In seiner Nummer vom 2. März 1915 druckte der Brünner „Volksfreund die Notiz ab.
Aus dem Brünner Blatt übernahm sie die „Volkswacht“ in Mährisch-Schönberg in ihre Nummer vom 5. März. Die Notiz wurde nirgendwo beanstandet.
Der Beamte der Bezirkskrankenkasse Freiwalden, Karl Langer, schrieb das Gedicht ab, machte auf der Schreibmaschine acht bis zehn Abzüge, von denen er an Frauen, die in die Bezirkskrankenkasse kamen, einige verteilte.

Die Behörde erfuhr davon. Karl Langer wurde sofort verhaftet und wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe vor das Landwehrdivisionsgericht Krakau in Mährisch-Ostrau gestellt. Nach diesem Paragraphen macht sich der Störung der öffentlichen Ruhe schuldig, wer „zum Ungehorsam, zur Auflehnung oder zum Widerstande gegen Gesetze, Verordnungen (…) auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht.“ Das Landwehrdivisionsgericht erkannte Langer für schuldig und verurteilte ihn zur Strafe des Todes durch den Strang! Im Gnadenweg wurde vom zuständigen Kommandanten die Strafe auf fünf Jahre schweren Kerkers herabgesetzt. (Wiener Arbeiterzeitung vom 26. Mai 1917.) Dies Zeitzeugnis fand sich im Band: „So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch“ Herausgegeben von S. D. Steinberg, Raschers Jugendbücher, Band 5, Zürich 1919.“

Damit war der „Rahmen“ für den Abend gesetzt, denn Veronika Ottos Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ entstand, als der Ukraine-Krieg begann. Ihre innere Frage lautete in jenen Tagen: „Gibt es denn angesichts von immer neuen Kriegen und Konflikten nicht etwas, das alle Menschen eint?“ Ihre Antwort als Musikerin: es ist der Klang der Erde.
Denn die rotierende Erde (eine Rotation ist nichts anderes als eine Schwingung) kann man hörbar machen. Wenn man die ursprüngliche Schwingung mehrfach oktaviert, wird sie hörbar. Es erklingt beinahe exakt ein Ton, den wir „G“ nennen. Die Erdbewohner „baden“ sozusagen – ohne dass ihnen das bewusst wäre – in einem Klang, im Ton „G“ nämlich. Der Jazz-Musiker Joachim-Ernst Berendt hat auf diese Zusammenhänge ebenfalls hingewiesen.
Das Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ ist deshalb und konsequenterweise eine Improvisation über den Ton G, vorgetragen auf dem Cello.

Die Hörerfahrung – von vielen Teilnehmern des Abends bestätigt – war: diese Musik „packt sofort zu“. Man kann sich ihr gar nicht entziehen. Und, es geht eine starke Ruhe von ihr aus, selbst im ersten Satz, der ja eher unruhig beginnt. Diese Hörerfahrung unterscheidet sich fundamental von der Hörerfahrung in einem „normalen“ Konzertsaal. Eben, weil da nicht „ein Stück“ vorgetragen wird, sondern weil da ein „Klangraum“ ganz neu entsteht, der nicht in Noten notiert ist, sondern spontan und im Augenblick entwickelt wird, besser noch: sich entfaltet.

Verstärkt wurde diese neue Hörerfahrung nach dem Vortrag von „Der Klang der Erde ist Friede“, als Veronika die Mongolische Pferdekopfgeige und dann das kasachische Kobyz zur Hand nahm, beides auch Streichinstrumente mit einem unglaublich wirkungsvollen Klang-Raum, obwohl beide Instrumente nur zwei Saiten haben. Die Bögen sind aus Pferdehaar gefertigt und so gespannt, dass der Spielende die Spannung des Bogens mit dem Daumen feinsteuern kann. Ergänzt wird das alles durch begleitenden Oberton-Gesang.

Wir haben hinterher geredet. Wir hatten Gäste aus der Ukraine und Italien, Musiker von der Komischen Oper Berlin waren da, ein interessiertes Völkchen hatte sich da bei uns im Musikzimmer versammelt und berichtete von ihren Hörerfahrungen mit der Musik von Veronika Otto. Es gab sehr sehr viel Zustimmung und Be-Geisterung (das Wort wird ihr gefallen).

Wer sich einmal auf ein „ganz anderes“ Hör-Erlebnis einlassen will, wer einmal einen „erfrischend anderen Konzertabend“ erleben will, wie sich eine Französisch-Lehrerin nach dem Abend in einer Mail an uns ausdrückte, dem sei Veronika Otto empfohlen. Man erreicht sie über ihre Homepage oder über Ihre Mail: ottonica@gmx.de


Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Musik erschließt sich manchmal nicht allein durch Hören, besser noch, durch vorbereitetes Hören, sondern auch durch persönliche Kontakte.
Wenn man – wie im vorliegenden Falle – den Bratschisten des anstehenden Konzertes aus früheren Begegnungen kennt, dann ist man – mir jedenfalls geht es so – neugieriger auf den Abend, als bei einem anderen Konzertbesuch. Das gilt besonders in diesem Falle, denn zu hören war am 16.1.2023 im Foyer der Komischen Oper Berlin Musik von Rezö Kokai (1906-1962); Juro Metsk (1954-2022) und Paul Hindemith (1895-1963). Zu meiner Schande muss ich gestehen, daß ich die zeitgenössische Musik nur äußerst lückenhaft kenne, „kurz hinter Hindemith“ hört die genauere Kenntnis schon auf, insofern war der Abend auch ein gutes Stück Erkenntnisgewinn.

Fünf Musikerinnen und Musiker, allesamt aus dem Orchester der Komischen Oper Berlin hatten sich für dieses Konzert zusammengetan. Zu hören waren:
Violine: Daniela Braun (im Bild ganz links) und Anastasia Tsvetkova (ehemals Kiew) (im Bild in der Mitte);
Martin Flade, Viola (zweiter von rechts)(Spezialist für Neue Musik); Rebekka Markowski, Violoncello (zweite von links); Sebastian Lehne, Klarinette, (rechts im Titelfoto).

Martin Flade hatte uns bei einem Privatbesuch von dem bevorstehenden Konzert erzählt und damit war klar, daß wir kommen würden. Eine freundliche, beinahe heitere Atmosphäre vor Beginn des Konzerts oben im Foyer, man versorgte sich mit einer Kleinigkeit an Getränken und studierte schon mal den kleinen Programm-Flyer. Dann begann es mit dem Qartettino für Klarinette und Streichtrio von Retsö Kokai. Juro Metsk folgte. Martin Flade hatte eine hilfreiche kleine Einführung gegeben.
Vieles wäre zum Gehörten zu sagen, ich will mich auf eines beschränken, das mich besonders berührt hat.

Der sehr langsame zweite Satz aus dem Klarinettenquintett op. 30 von Paul Hindemith, den man hier in einer anderen Aufnahme ab Minute 7.17 hören kann, hat mich – und, wie sich später zeigte auch andere -, besonders „angesprochen“. Das Stück wurde 1923 fertig und zum ersten mal aufgeführt – ein Jubiläum also. 100 Jahre opus 30 von Hindemith.
100 Jahre alte Musik – aber sie klingt in unseren von seltsamen Hörgewohnheiten übertölpelten Ohren immer noch „modern“, obwohl diese Musik inzwischen schon zu den klassischen Stücken der Musik nach der Jahrhundertwende gehört. Was also ist los mit unseren Hörgewohnheiten? Wollen oder können wir nicht wahrnehmen, was da seit der Jahrhundertwende im Reich der Musik vor sich gegangen ist?
1923. Der Erste Weltkrieg war erst vor Kurzem mit der Kapitulation der Deutschen zu Ende gegangen, Millionen von toten Menschen waren zu beklagen; in der jungen Weimarer Republik grassierte eine Hyperinflation. Von den „Goldenen Zwanzigern“ konnte nur reden, wer Dollars hatte. Die Not war groß im Lande.
Und dann diese Klänge.
Wer genau hört, kann das alles hören: den Krieg, die Not, die Klage. Und – die kommenden Braunen Horden. 10 Jahre später wird Hitler ´mit Hilfe konservativer politischer Kräfte die Macht an sich reißen.

Musik als Ausdruck der Zeit; als Verarbeitung von Erlebtem und Vorahnung von Kommendem. Joachim-Ernst Behrendt hat vor langen Jahren für den WDR Musikstücke großer Komponisten unter dem Fokus „Das Wunder des Spätwerks“ besprochen und ist der Frage nachgegangen, „was die Großen Meister wohl hören mögen“, wenn sie ihre Stücke, insbesondere letzte Stücke schreiben.
Nach dem Ersten Krieg war die Musiziererei im „alten Stil“ für Männer wie Hindemith, Berg, Schönberg, für die Musiker der Zweiten Wiener Schule zerbrochen; tanzte man in der Jahrhundertwende noch nach dem Klang riesiger Orchester Walzer – dann hört man nun bei Hindemith zwar auch noch „Walzer“ – aber eben zerbrochene, in Klangstücke zerborstene.
Die Katastrophe des Weltkrieges hatte zertrümmert, was da war, man musste neu beginnen. Nicht nur in der Literatur und Malerei, auch in der Musik. Langsam tastete man sich vor, probierte aus, suchte nach dem passenden Klang, der in der Lage war auszudrücken, was zu sagen war.

Nach dem Konzert saßen wir zusammen. Unten im Casino der Komischen Oper. Und ich hatte Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ich wollte mehr wissen von diesem Hindemith und erfuhr: Hindemith war Militärmusiker als Soldat. Er hat unter anderem in Lazaretten gespielt. Er hat sehr genau gesehen, was da geschehen war. Er sah die Männer ohne Beine; die amputierten Arme; er sah die sterbenden jungen Männer, wie sie im Buch „Im Westen nichts Neues“ eindrücklich beschrieben worden sind. Alle diese Bilder und Eindrücke hat er in sich aufgenommen und „zur Sprache gebracht“. Zu seiner Sprache, der Sprache der Musik.

Ich hab den fünf Musikerinnen und Musikern sehr zu danken für den Abend. Mit dem einen oder anderen sind wir nun verabredet und sehen uns hoffentlich wieder. Es ist noch viel zu lernen über die „neue Musik“. Denn eine Frage drängte sich nach dem Abend ja geradezu auf: Wenn Männer wie Hindemith, Kokai und Metsk versucht haben, ihre jeweilige Zeit-Erfahrung in ihre persönliche Klang-Sprache zu bringen – wie klingt dann eigentlich unsere jetzige Zeit? Wie klingt denn das Jahr 2023 – hundert Jahre nach opus 30 von Paul Hindemith?

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Es ist schön in Bansin und in diesem Jahr wollten wir uns mal wieder etwas ausführlicher mit dem wohl berühmtesten Sohn des kleinen Ortes, Hans Werner Richter, befassen, weshalb wir uns ausgiebig mit ihm sowohl im kleinen Museum im „Hans Werner Richter Haus“ (einem ehemaligen Haus der Feuerwehr) als auch mit seinen Büchern beschäftigen, insbesondere mit denen über die von ihm geleitete „Gruppe 47“, zu der so wichtige Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann, Walter Jens und viele andere gehörten, die für die literarischen Neuanfänge nach dem Ende des Hitlerschen „Reiches“ so ungemein wichtig geworden sind.

Hans Werner Richter hat in seinen autobiografischen Büchern (etwa in „Spuren im Sand“, auch in „Geschichten aus Bansin“ und „Die Stunde der falschen Triumphe“) nachdrücklich aufgezeigt, wo er politisch stand. Eher im „linken Milieu“, der Sozialdemokratie nahestehend, heute würde man vielleicht etikettieren „links-liberal“. Richter hat sich mit der Gründung der „Gruppe 47“ sehr um die deutsche Literatur-Sprache verdient gemacht, denn diese Sprache war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört. Worte wie „Treue“, „Vaterland“, „Gehorsam“, „Heimat“, „Volk“ etc. waren unbrauchbar geworden, es galt, neu zu beginnen, weshalb bei den Treffen der „Gruppe 47“ vor allem scharfe Wort-Kritik geübt wurde. Der Nachkriegs-Literatur hat das sehr gut getan.

Hans Werner Richter starb zwar in München, liegt aber – seinem Wunsch entsprechend – in Bansin begraben. Wir haben ihn besucht; auch das Haus, in dem er mit seiner Familie ab 1908 gelebt hat, „Villa Paula“ in der Seestraße 68 in Bansin, wollten wir sehen. Heute beherbergt das Haus eine Buchhandlung.

Seestraße 68 in Bansin. Hier hat Hans Werner Richter mit seiner Familie lange Jahre gewohnt.

Um das Haus auch von innen sehen zu können, mussten wir bis zum nächsten Tage warten, da war die Buchhandlung geöffnet.
Was ich vorfand, hat mich erschreckt: sehr prominent, gleich unter Büchern zur „Gruppe 47“ präsentiert, der Kopp-Verlag. Der nun gehört zu den umstrittensten Verlagen überhaupt, DeutschlandradioKultur hat mehrfach umfänglich recherchiert und gesendet, u.a. in dem hier verlinkten Beitrag.
Selbst Wikipedia widmet sich dem Verlag überaus kritisch. Man kann erfahren, der Verlag führe  „rechtsesoterischegrenz- und pseudowissenschaftlicheverschwörungstheoretische sowie rechtspopulistische und rechtsextreme Titel.“

Soweit der Befund.
Ich fand, der Verlag habe im ehemaligen Wohnhaus der Gründers der Gruppe 47 nichts zu suchen und schrieb deshalb an den Buchhändler: „Der Kopp-Verlag ist der führende Verlag der organisierten Rechtsextremisten nicht nur in Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz. Er munitioniert die AfD und gehört zu denen, die gern „Verschwörungsmythen“ verbreiten. Es wäre sicher nicht im Sinne von Hans Werner Richter, derlei Verlagsaktivitäten zu unterstützen.
Meine Frau und ich haben deshalb darauf verzichtet, bei Ihnen zu kaufen“.

Dann kam eine Antwortmail, die mich nachdenklich gestimmt hat, denn darin war nicht nur das in solchen Fällen Übliche zu lesen, die Bücher seien nicht indiziert, sie seien auch nicht verboten, und was nicht verboten sei, könne gehandelt werden, sondern in der Antwortmail kam eine Verteidigungsrede. Darin heißt es u.a.:

„….vielen Dank für Ihre Mail.

In unserer Buchhandlung ist nicht nur der Kopp-Verlag vertreten, sondern eine große Auswahl von Verlagen mit unendlich vielen verschiedenen Titeln.
Unsere Kundschaft wünscht auch diese Abwechslung, denn die gleiche Literatur, wie in vielen anderen Buchhandlungen Deutschlands ist für uns nicht ausreichend.
Das ist ein Ausdruck von Vielfalt und Toleranz gegenüber verschiedener Standpunkte.
Keines der Bücher in unserem Laden ist indiziert und so viel wir wissen, besteht in unserem Land immer noch Meinungs- und Pressefreiheit. …
Wenn Sie der Meinung sind, dass der Kopp-Verlag rechtsextremes Gedankengut verbreitet, geben Sie uns doch bitte nur ein einziges Beispiel dafür.
Der Zusammenhang mit einer Bundestagspartei und angeblichen Verschwörungsmythen erschließt sich uns nicht.
Hans Werner Richter schätzen wir aus Darstellungen seiner Familie als einen weltoffenen, systemkritischen aber vor allem selbstdenkenden Autoren ein.
Offenbar beziehen Sie allerdings Ihre sehr einseitigen und eingeschränkten Informationen immer noch aus den Massenmedien.
Das tut uns sehr leid.
Denn es gibt in der Zwischenzeit genügend Literatur, für Menschen, die der Wahrheit näher kommen wollen.“

Das ist AfD-Jargon. Da weiß jemand um „die Wahrheit“; da bezieht man seine Informationen nicht mehr „aus den Massenmedien“, Menschen, die das tun (zum Beispiel DeutschlandradioKultur zitieren), gelten als „sehr einseitig und eingeschränkt informiert“ etc. etc.

Schade.
Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, der alte Hans Werner Richter wäre aus seinem Grabe aufgestanden, um in seinem ehemaligen Wohnhaus mal nach dem Rechten zu sehen.
Ich glaube, er hätte dem Buchhändler mit einem kurzen pommernschen Satze die Gedanken grade gerückt: „Lass den Schiet“. Dann wäre er grummelnd wieder die Seestraße hinauf gegangen und hätte sich wieder dort zur Ruhe gelegt, wo er nun schon seit 1993 liegt.
In diesem Jahr übrigens feiert Bansin den 30. Todestag seines berühmtesten Sohnes. Zahlreiche Lesungen sind zu erwarten.
Ich wünsche diesen besonderen Veranstaltungen viele Besucher.

Aufbrechen zu einem neuen Lebensstil. Die evangelische Kirche und der Klimaschutz. Ein Beitrag aus Österreich

Aufbrechen zu einem neuen Lebensstil. Die evangelische Kirche und der Klimaschutz. Ein Beitrag aus Österreich

19 Monate Arbeit stecken in dem nun vorgelegten und von der Generalsynode der Evangelischen Kirche in Österreich beschlossenen 13 seitigen Grundsatzpapier. Worum geht es? Es geht darum, eine klar verständliche theologische Begründung für konkretes Handeln der Kirche beim Klimaschutz zu formulieren. Das ist auch notwendig, denn in Zeiten, in denen Klimaschützer überall auf der Welt zunehmend kriminalisiert werden, werden auch in so mancher Kirchgemeinde Stimmen laut, das alles ginge die Kirchen nix an, das sei politisch und habe „mit dem Glauben nix zu tun“. Das Gegenteil ist richtig. Schöpfungsglaube führt zwingend zum Einsatz für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit und ist nicht ein „nice to have“, dem man folgen kann oder eben nicht.

Dieser Zusammenhang wird im vorgelegten theologischen Grundsatzpapier durchdekliniert, erklärt und zur Grundlage für Teil zwei der großen Bemühungen: die Evangelische Kirche in Österreich arbeitet an einem eigenen, sehr konkreten Klimaschutzkonzept, das etwa im Juni des kommenden Jahres verabschiedet werden soll. Denn: man will nicht nur reden, was andere tun sollen, sondern man will selber, im eigenen Verantwortungsbereich, konkret und engagiert voran gehen. Das alles ist ein überaus löbliches Unterfangen. Bischof Michael Chalupka hat mich nun gebeten, mir das von der Generalsynode gerade beschlossene paper etwas genauer anzuschauen und meine Eindrücke zu schildern, das will ich in wenigen Strichen gern tun.

  1. Das papier stellt die Evangelische Kirche in Österreich und ihre Bemühungen um Klimaschutz klar in einen internationalen Kontext. Der Hinweis auf ein zentrales Dokument zum Klimaschutz vom Ökumenischen Weltrat der Kirchen bei seiner Tagung in Seoul 1990 stellt den Zusammenhang ebenso her wie der Hinweis auf den Beschluss des ÖRK vom September diesen Jahres unter dem Titel „Der lebendige Planet: Streben nach einer gerechten und zunkunftsfähigen weltweiten Gemeinschaft.“ Wer beide international abgestimmten Papiere aufmerksam liest, erkennt den großen Vorteil, der in der ökumenischen Arbeit möglich wird: der Blick über den engen eigenen „Tellerrand“.
  2. Es ist ein ehrliches, zunächst „nach innen gerichtetes“ Papier, das sich an die eigenen Mitglieds-Gemeinden wendet. Diese Ehrlichkeit sagt mir sehr zu, weil im Kontext von Forderungen zum Klimaschutz zu gern zu viel geheuchelt wird. Man liest Sätze wie: „Als europäische Kirche müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir zu jenem Teil der Weltbevölkerung gehören, der seit langer Zeit mehr natürliche Ressourcen in Anspruch nimmt, als ihm zustehen, und undankbar verschwendet, was doch gerecht zu teilen wäre.“ (S. 4). Oder man liest: „Wir wollen aus der Hoffnung leben. Aber die von uns selbst als Menschheit verursachte Lage der Welt macht es schwer, Hoffnung zu finden.“ (S. 5). Nun allerdings kommt den Evangelischen in Österreich ihre eigene Geschichte zu Hilfe. „In Gestalt von Beharrlichkeit war die Hoffnung ein besonderer Schatz in der Geschichte unserer Kirche ohne den wir heute gar nicht da wären: Evangelische haben in den Jahrhunderten des Geheimprotestantismus an ihrem Glauben festgehalten, obwohl sie äußerlich durch nichts dazu ermutigt wurden.“ Das ist gut biblisch, das entspricht alttestamentlicher Erfahrung. Das trägt. Beharrlichkeit ist der Auftrag. Beharrlichkeit ist der Anfang der Hoffnung. Tue, was dir aufgetragen ist.
  3. Nach 6 Seiten lesenswerter theologischer Begründung wird es schon sehr konkret, auch das gefällt mir sehr.
    Haben doch derlei Papiere nicht selten den Nachteil, daß man die Konkretion im Bezug auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten vergeblich sucht. Anders hier. Hier kann man Ehrgeiziges lesen, ganz offensichtlich schon mal ein kleiner Vorgriff auf das für den Juni erwartete Klimaschutzkonzept der Evangelischen Kirche. Man liest: „Umkehr tut not. Wir sind gefordert, in eine neue Lebensweise aufzubrechen“. (S. 7)
    Was heißt das konkret?
    „Wir wollen nach Kräften die Arbeit am Klimaschutzkonzept unserer Kirche unterstützen und mittragen. Mit aller Kraft wollen wir unsere selbst gesetzten Ziele verfolgen – also möglichst bis 2035 klimaneutral sein, bis 2030 alle Ölheizungen ersetzt haben, bis 2035 alle Gasheizungen, bis 2025 auf 100% Ökostrom umgestiegen sein sowie die Energiebuchhaltung und Energieberatung vorantreiben.“ (S. 7/8).
  4. Das lässt sich hören. An dieser Stelle aber eine kleine nachdenkliche Anmerkung zum Begriff der „Klimaneutralität„. Prof. Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und seine Kollegen machen immer wieder deutlich, daß dieser Begriff irreführend und riskant ist. Weil CO2 sich in der Atmosphäre summiert, gibt es keine echte Klimaneutralität. Worum es gehen muss, ist, die Emissionen auf NULL zu senken, das ist häufig nicht im Blick. Man rechnet sich stattdessen lieber „klimaneutral“ etwa nach dem Motto: die Emissionen, die ich nicht vermeiden kann, die muss ich kompensieren (in dem ich z.B. eine Summe X für Aufforstungen zur Verfügung stelle), die Emissionen bleiben der Atmosphäre bei solchem Denken aber dennoch „erhalten“. Deshalb ist das Ziel einer „Klimaneutralität“ bis wann auch immer kein gutes Ziel. Besser und klarer wäre es zu sagen: wir wollen mit unseren eigenen Emissionen bis dann und dann auf NULL sein. (Ein „Rest“ wird immer „kompensiert“ werden müssen. Levermann und andere fordern deshalb auch CO2-entziehende Technologien).
  5. Implementierung.
    Papiere wie das vorgelegte haben nicht selten ein schweres Schicksal: sie werden mühsam erarbeitet (in unserem Falle über 19 lange Monate) – und verschwinden dann in einem Regal. Dem vorgelegten und von der Synode der Evangelischen in Österreich beschlossenen Papier möge ein solches Schicksal erspart bleiben. Deshalb muss man jetzt genau schauen, wie man es gut und dauerhaft in den Kirchgemeinden und Superintendenturen und Kirchlichen Werken so implementiert, daß es angesichts der immer anstehenden Tagesaufgaben nicht gleich wieder aus dem Blick gerät. Ein etwa halbjähriger Implementierungsprozess (Regionalveranstaltungen) bis zur Verabschiedung des in Arbeit befindlichen Klimaschutzkonzepts könnte da eventuell sinnvoll sein.
  6. Summa: Glückwunsch an die Evangelischen in Österreich! Da ist ein gutes Stück Arbeit gelungen. Man darf gespannt sein auf Teil 2.

Als Radiohören lebensgefährlich war. Gartzer Geschichten. Clip 6. Etwas von der „Gartzer Zeitung“ und von Telefunken

Als Radiohören lebensgefährlich war. Gartzer Geschichten. Clip 6. Etwas von der „Gartzer Zeitung“ und von Telefunken

Beinahe beiläufig erwähnt Martha Dähn (*1902) im aufgezeichneten Gespräch von 1980, daß man zu Hause „mit nem Kissen drüber“ Radio gehört habe. Sie war gefragt worden, ob sie sich an das erste Radio in der Familie Engelmann noch erinnern könne?
Ihre Antwort:

„Und denn ham wir Radio anjemacht und denn durften wir doch nicht hören! Westen und so, also „England“. „England“ hat ja immer durchjesendet.
Und denn ham wir so’n Kissen drüberjemacht und denn ham wir immer so jehorcht[1].“

Damit gehörte Familie Engelmann zu den etwa 14 Millionen Deutschen, die trotz Verbot dennoch BBC gehört haben. Der Deutschlandfunk hat sich mit der Sache in einem kleinen Beitrag ausführlicher befasst.

Familie Dähn jedenfalls hatte schon vor 1933 diesen „schönen Telefunken“, von dem die Rede ist und war gut informiert. Und dann war zusätzlich ja noch die „Gartzer Zeitung“. Die kommt in der Erzählung von Martha Dähn öfter vor, meist im Zusammenhang mit irgendwelchen uckermärkischen Schnurren wie der von Frau Hahn. Sie erzählt:

Ach ja, dat wer ick dir noch erzähln:
Also, bei uns hat die öfter jeholfen. Frau Heifelder.
Und Frau Heifelder ihr erster Mann hieß Hahn.
Und die konnten sich nicht verstehn. Und denn ham sich[1] scheiden lassen.
Und denn hat der Hahn in der Zeitung setzen lassen, in der „Gartzer Zeitung“, da stand denn immer alles drin: wenn eener eine Beleidung hatte: „ich nehme die Beleidung zurück“
Und denn steht drin: „Wenn meine Frau wat borcht, Jeld borcht[2], ich komme für nichts auf. Hahn“
Und nächste Mal steht drin: „Mein Hahn is mir entlaufen. Wer ihn findet, kann ihn behalten!“
Dat stand alles drin in „Gartzer Zeitung[3]“. Du kannst dir denken, wie die Leut jelacht ham! Und eener kannt’n andern!
Der hatte so viel Sommersprossen und sie hat jesacht: „Och, du bist ja mit Brotsupp bebroken[4]“ . Also, die Brotsupp, die war so schwarz. Und er hatte so viel Sommersprossen.
Und so stand dat denn immer in‘ Zeitung. Und, na, dat war ja wat.

„Und dann kam irgendwann Radio. Wann habt ihr Radio gekriegt?“
„Du, wir hatten eigentlich jar nich so spät Radio. Wir hatten einen großen „Telefunken[5]“ uns jekauft, da lebte mein Willem[6] noch. Da hatten wir schon nen „Telefunken“. Dat war – wann war denn dat….,
Dat ham uns nachher die Russen, da waren doch die Paulus-Russen, also die Russen, die überjejangen[7] waren zu den andern, die gegen die Russen kämpften[8], und da hat uns eener den abjekauft. Wann war’n dat…,
Na, denk dir mal an, 33 is er jestorben[9], und da hatt’n wir’n ja schon!
Ja, den ham wir schon früh jehabt. Schön großet „Telefunken“.
Dat war ja nu wat Schönet, dat wir Radio hatten.
Und denn ham wir Radio anjemacht und denn durften wir doch nicht hören! Westen und so, also „England“. „England“ hat ja immer durchjesendet.
Und denn ham wir so’n Kissen drüberjemacht und denn ham wir immer so jehorcht[10].“

Im Zusammenhang des aufgezeichneten Gesprächs von 1980 hört sich die heutige Episode so an:


[1] Hochdeutsch: „haben sie sich“

[2] Geld borgt

[3] Im Archiv erhalten geblieben sind die Ausgaben bis 1926.

[4] Mit Brotsuppe bebrochen

[5] Als Markenfirma – nicht aber als Herstellerin – dominiert Telefunken für Deutschland in Sachen Radios bereits ab Mitte der 20er Jahre den Markt und erreicht 1933 einen Marktanteil von 17,4%, gefolgt von Saba mit 10,9 und Mende mit 10,1% [503]. Der Anteil fällt 1934 auf 12,1%.

[6] Wilhelm Dähn

[7] übergelaufen

[8] Die größte Spur bei der Verteidigung von Stalingrad hinterließen in diesem dramatischsten Moment – in der letzten Periode der Verteidigung, im Moment der Kapitulation und danach, die russischen Freiwilligen. 
Kurz vor dem Ausgang der Schlacht, wurde aus einem Teil der russischen Kämpfer eine Division gebildet, die in die Geschichte unter dem Namen «Von Stumpfeld“ nach dem Namen ihres Kommandeurs, General- Leutnant Hans Joachim von Stumpfeld eingegangen ist.. Die Division beteiligte sich aktiv an den Kämpfen, wurde von ehemaligen Rotarmisten aufgestellt, und ist allmählich zahlenmäßig gewachsen, die Offiziers- Stellungen wurden durch freiwillige ehemaligen Offiziere der roten Armee aufgefüllt. Aufgestellt am 12. Dezember 1942 in Stalingrad aus russischen Freiwilligen, Kosaken, Ukrainern und russischen Polizisten sowie deutschen Kommandeuren. Die Division war mit russischen Beutewaffen ausgestattet, die Panzerabwehr-Waffen stammten von der 9. Flak-Division. Die Division wurde im Februar 1943 in Stalingrad vernichtet.
Die ungeklärte Frage bleibt, wie solche „Überläufer“ nach Gartz kamen, um von Martha Dähn den „Telefunken“ zu kaufen.

[9] Da war Ilse Dähn sieben Jahre alt, als ihr Vater starb

[10] Während der Nazizeit war das Abhören von ausländischen „Feind“-Sendern streng verboten und wurde hart bestraft. Seit Kriegsbeginn, aber speziell als der Krieg die entscheidende Wende zu Ungunsten Deutschlands genommen hatte, war das Abhören ”feindlicher” Sender wie zum Beispiel der englischen BBC lebensgefährlich, denn es wurde als Landesverrat betrachtet und mit sofortiger Erschießung geahndet. Ein von Joseph Goebbels vorgelegter Entwurf für ein Gesetz über das Abhören kommunistischer Sender, das „Geldstrafen und Gefängnisstrafen nicht unter zwei Jahren“ vorsah, wurde 1937 auf Geheiß Adolf Hitlers nicht umgesetzt.[3]

In einem Monatsbericht aus Bayern, der zur Information der Gestapo angefertigt wurde, wird im April 1939 gemeldet:

„Bedenklich ist die immer größer werdende Sucht, die in deutscher Sprache ausgehenden Meldungen ausländischer Rundfunksender abzuhören. Das führt dazu, dass auch auf dem Lande von weniger begüterten Volksgenossen anstelle der einfachen billigen Volksempfänger die teuren und leistungsfähigen Rundfunkgeräte bevorzugt werden, mit denen auch die Sendungen aus dem Ausland gut abgehört werden können.“[4]

Hitler billigte später eine mehrfach veränderte Vorlage, bei der Goebbels das ablehnende Votum des Ministerrates durch vorzeitige Veröffentlichung überspielt hatte, und die Verordnung wurde am 7. September 1939 im Reichsgesetzblatt verkündet.


[1] Während des Krieges war das Abhören von ausländischen „Feind“-Sendern streng verboten und wurde hart bestraft. Seit Kriegsbeginn, aber speziell als der Krieg die entscheidende Wende zu Ungunsten Deutschlands genommen hatte, war das Abhören ”feindlicher” Sender wie zum Beispiel der englischen BBC lebensgefährlich, denn es wurde als Landesverrat betrachtet und mit sofortiger Erschießung geahndet. Ein von Joseph Goebbels vorgelegter Entwurf für ein Gesetz über das Abhören kommunistischer Sender, das „Geldstrafen und Gefängnisstrafen nicht unter zwei Jahren“ vorsah, wurde 1937 auf Geheiß Adolf Hitlers nicht umgesetzt.[3]

In einem Monatsbericht aus Bayern, der zur Information der Gestapo angefertigt wurde, wird im April 1939 gemeldet:

„Bedenklich ist die immer größer werdende Sucht, die in deutscher Sprache ausgehenden Meldungen ausländischer Rundfunksender abzuhören. Das führt dazu, dass auch auf dem Lande von weniger begüterten Volksgenossen anstelle der einfachen billigen Volksempfänger die teuren und leistungsfähigen Rundfunkgeräte bevorzugt werden, mit denen auch die Sendungen aus dem Ausland gut abgehört werden können.“[4]

Hitler billigte später eine mehrfach veränderte Vorlage, bei der Goebbels das ablehnende Votum des Ministerrates durch vorzeitige Veröffentlichung überspielt hatte, und die Verordnung wurde am 7. September 1939 im Reichsgesetzblatt verkündet.

Der Einsturz der Gartzer Brücke am 19. 9. 1926. Gartzer Geschichten. Clip 5

Der Einsturz der Gartzer Brücke am 19. 9. 1926. Gartzer Geschichten. Clip 5

„1926 is unsre Brücke jebaut und gleich einjestürzt. Da sind drei Mann mit umm’t Leben jekomm. 1926, wie Ilse jeboren is“ erzählt Martha Dähn, geborene Engelmann etwa im Jahre 1980.

Das war ein einschneidendes Ereignis für das Ackerbauernstädtchen und hat sich tief ins Ortsgedächtnis eingebrannt. Die alten Gartzer datieren ihre Erinnerungen nicht selten in die Zeit „vor der Brücke“ und in die Zeit „nach dem Einsturz der Brücke“. Und für die damals knapp 24-jährige Martha Dähn verbindet sich diese Erinnerung mit der Erinnerung an die Geburt ihrer Tochter Ilse am 22. Mai 1926.

Man kann heute noch recht gut recherchieren, was damals vor sich gegangen ist, einige Zeitungen aus jenen Jahren stehen ja inzwischen online zur Verfügung. Eine alte Holzbrücke über die Oder hatte es über Jahrhunderte gegeben, die Gartzer Landwirte hatten ja ihre Felder und Wiesen auf der anderen Seite der Oder und mussten oft über den Strom. Allerdings war die Holzbrücke eingestürzt und lange gab es keinen Ersatz, weshalb man Kühe und anderes Vieh mit einem Kahn über die Oder bringen musste. Martha Dähn wird an anderer Stelle davon erzählen.
Der Wunsch der Gartzer nach einer „neuen Brücke“ führte dann im Jahre 1925 zum Beginn des Baus. Ausgeführt wurde sie mit einer in Deutschland damals noch weitgehend neuen Brückenbau-Technologie: Stahlbeton.

Zehn Tage vor der Eröffnung der neuen Brücke, am 19. September 1926, stürzte diese neue Brücke ein. Das „Schwedter Tageblatt“, das ich hier der Einfachheit halber einlese und akustisch dokumentiere, berichtet folgendermaßen von den Ereignissen.
„Schwedter Tageblatt“ vom 21. 09. 1926:

Man kann sich die Aufregung in dem kleinen Ackerbauernstädtchen an jenem Wochenende lebhaft vorstellen. Das oben im Beitrag wiedergegebene Foto hat noch etwas von der Atmosphäre eingefangen. Und findige Unternehmer aus der Umgebung wussten die Sache auch zu nutzen, wie diese Anzeige im „Schwedter Tageblatt“ vom 21.09. 1926 belegt.

Die Sache zog natürlich Kreise und wurde untersucht. Im „Schwedter Tageblatt“ vom 21. 9. stand zu lesen, daß der für den Bau verantwortliche Betonmeister aus Berlin verhaftet worden sei. Weiter ist zu erfahren:

Allerdings wurde Betonmeister Firch schon bald wieder aus der Haft entlassen. Das „Schwedter Tageblatt“ weiß am 22. 9. 1926 in einem längeren Text inzwischen Folgendes:

Die Gartzer Stadtverwaltung hatte sich in jenen Tagen entschieden, trotz allem Unglück eine neue Brücke errichten zu lassen. Diese wurde – nach aufwändiger Beseitigung der Reste der Betonbrücke, große Teile mussten gesprengt werden – als Stahlkonstruktion ausgeführt. Diese Stahlbrücke konnte 1928 eröffnet werden und hielt bis zum April 1945, als sie von deutschen Pionieren gesprengt wurde, um den Vormarsch der Sowjetarmee, die schon breit aufgestellt am Ostufer der Oder lag, aufzuhalten. Auch zu diesem Abschnitt in der Ortsgeschichte kommen wir noch.

Wenn die mündliche Erinnerung in der Familie bis 1840 zurückreicht – als die Bahn von Berlin nach Stettin gebaut wurde….clip 4

Wenn die mündliche Erinnerung in der Familie bis 1840 zurückreicht – als die Bahn von Berlin nach Stettin gebaut wurde….clip 4

Martha Dähn (*1902) hatte im Jahre 1980 noch Erinnerungen an ihre Großmutter. Die war nämlich Zeitzeugin, als die Bahn von Berlin nach Stettin gebaut wurde. Die Berlin-Stettiner Eisenbahn-Gesellschaft war ein privates preußisches Eisenbahnunternehmen, das von 1840 bis 1885 bestand. Die Hauptstrecke der Gesellschaft war die 1842 bis 1843 eröffnete Bahnstrecke Berlin-Stettin. Bis 1877 erweiterte die Gesellschaft ihr Netz um weitere Strecken in Vor- und Hinterpommern auf eine Gesamtlänge von rund 960 Kilometern; sie gehörte damit zu den größten deutschen Privatbahnen. Am 13. Juni 1879 kaufte der preußische Staat die Gesellschaft zum 1. Februar 1880 auf.

Gartz/Oder war in den Anfangsjahren nicht an die Berlin-Stettiner Bahn angeschlossen, man musste mit der Kutsche zur Bahn fahren. Erst im Jahre 1913 wurde Gartz selbst mit einer kleinen Nebenbahn an die Hauptstrecke Berlin-Stettin angeschlossen.

Diese Großmutter wird in der Familienerinnerung mit einem Satz zitiert: „Wenn die Bahn erst ohne Ross kommt, dann jeht die Welt nach ihrem Ende.“
Wir sind nun angekommen in der ackerbäuerlichen Umgebung von Gartz an der Oder etwa im Jahre 1840, genauer in Hohenselchow, wo die Großmutter von Martha Dähn herstammte, genauer: die Mutter ihres Mannes Wilhelm Dähn. So mancher konnte sich damals in den Dörfern an der Oder nicht vorstellen, daß eine Bahn „ohne Ross“ bewegt werden könnte und befürchtete das Ende der Welt.

Die Großmutter von Martha Dähn galt als „sehr belesen“. Das meinte konkret: sie hatte vor allem die Bibel gelesen, denn – so die Auskunft von Martha Dähn im Jahre 1980, als die hier zu besprechende Tonbandaufzeichnung entstand: „Wir hatten ja nüscht außer Bibel und Zeitung. „Gartzer Zeitung“. Da die Großmutter von Martha Dähn aber nun „sehr belesen“ war, hatte sie für jede Lebenslage „einen Spruch“ parat. Zum Beispiel, wenn die jungen Mädchen mit 14 (nach dem Abschluss der Acht-Klassen-Schule) aufs Feld mussten zur schweren Arbeit.

Im hier besprochenen Textabschnitt der Tonbandaufzeichnung erfahren wir nicht nur etwas über die verschiedene Aussprache in den Dörfern und Städten der Uckermark – in Hohenselchow sprach man „allet so’n bißchen auf „a“ – , sondern es taucht auch eine Schwester von Martha Dähns späterem Mann auf: Mariechen. Die beiden Geschwister verstanden sich gut, machten Musik zusammen und „amüsierten“ sich über die Aussprache der Großmutter aus Hohenselchow.

Wir erfahren außerdem etwas von der „Gartzer Zeitung“ und von der „Parole„. „Parole“ war eine deutsch-national ausgerichtete Zeitung, die sich vor allem an Kriegsveteranen wandte.

Die „Parole“, so erfahren wir auch im Text, „jing immer rum“ – wurde also von Haus zu Haus weitergereicht. Man sparte sich so ein teures Abonnement. Die „Kriegervereine“ und ihre Zeitung werden Ende der Zwanziger Jahre am Ende der Weimarer Republik eine zentrale Rolle spielen, denn sie waren – gerade in den ländlichen Regionen Pommerns – mit wahlentscheidend zugunsten der Nationalsozialisten.

Heute aber soll es um die Bahn Berlin-Stettin gehen. Wir stoßen auf die Erinnerung an den Bau der Bahn, die einfachen Bauern im Jahre 1840 befürchteten nun „das Ende der Welt“, wenn die Bahn „ohne Ross“ gefahren käme.
Heutzutage bemüht man sich wieder, die Bahnverbindung von Berlin nach Stettin so zu ertüchtigen, daß beide Metropolregionen besser miteinander verbunden werden können, allerdings war die Beziehung zwischen Szeczin und Berlin auch nach dem Kriege nie ohne Probleme, wie ein Beitrag anlässlich der Schienenverkehrswochen 2003 ausführlich darlegt.

Und nun Text und Original-Aufnahme des Gesprächsabschnittes der Tonbandaufzeichnung von 1980, die auf all die beschriebenen Details hinweisen:


„Und da hat die Großmutter, die alte, die war sehr belesen, die konnte die Bibel bald auswendig. Und denn war 1800 in der Sechziger (um 1860), da ham sie die Bahn jekricht Berlin-Stettin und da hat sie gesagt:
„Wenn die Bahn erst ohne Ross kommt, dann jeht die Welt nach ihren Ende.“
Und auch so: immer Sprüche!

Denn hat dat Dienstmädel jesacht, dat erzählte mir mein Mann immer, wat dein Großvadder is, da war dat so heiß, und die Mädels kamen mit vierzehn aus der Schule und denn gleich auf’n Acker und denn eine Hitze auf’n Kopp und denn dat Hacken, nich. Ach und dat fiel ihnen so sauer.
Und denn haben se jesacht:
„Großmutter, Großmutter, nu sach uns noch eens nen schönen Spruch!“
Und denn sacht se:
„So dir sauer wird um deine Arbeit, lass dir’s nicht verdrießen, denn Gott hat es so gewollt.“
Für allet hat se’n Spruch jehabt!
Und wenn se denn so öfter Hohenselchowsch[2] jesprochen hat, die sprechen allet so’n bisschen auf „a“, so sprechen die, denn jeder Ort hat seine andere Sprache.
Und denn ham’s bede[3] jelacht, er und Mariechen, er hat sich mit seine Schwester jut verstanden, die haben immer beide musiziert, also die haben sich wunderbar verstanden, und dann haben sich immer beide anjeguckt, wenn Großmutter denn immer so auf „a“ Hohenselchowsch jesprochen hat, denn ham se jelacht.  
Wie hat se immer noch jesacht:  „Da wird das Lachen werden teuer, wenn alles wird verjehn in Feuer“
Also, für allet hatte se nen Bibelspruch!
Ja. Weißt du, die haben doch früher jar nüscht weiter jehabt wie die Bibel.
Bibel und bisschen Zeitung.
Wir hatten bloß „Gartzer Zeitung“, wir hatten jar keene[4] andre Zeitung.
Und Vater hatte politisch noch „Parole[5]“. „Parole“, dat war von Deutsch-National, det jing immer rum[6].
Aber sonst jabt nischt[7] weiter wie „Gartzer Zeitung“.
Denn wusst‘ all’s[8], wat neu is, wat passiert.“

Im Originalton klingt der Abschnitt so:



[2] Hohenselchow ist ein Dorf in der Nähe von Gartz

[3] Beide

[4] Gar keine

[5] „Parole“ war die „Krieger-Zeitung“, also ein Blatt, das sich an ehemalige Kriegs-Teilnehmer wandte.

[6] Wurde von Haus zu Haus weiter gegeben

[7] Gab es nichts

[8] Dann wusstest du alles

Geschichten von der Oder. Clip 3. Von der Nachbarschaft, dem Gesangsverein und dem 5. Pommerschen Infanterie-Regiment „Prinz Moritz von Anhalt-Dessau“ Nr. 42, stationiert in Stralsund

Geschichten von der Oder. Clip 3. Von der Nachbarschaft, dem Gesangsverein und dem 5. Pommerschen Infanterie-Regiment „Prinz Moritz von Anhalt-Dessau“ Nr. 42, stationiert in Stralsund

Heute erinnert sich Martha Dähn, geborene Engelmann an ihre unmittelbaren Nachbarn in Gartz an der Oder. Sie denkt an die vielen Vereine, die es im Städtchen vor dem Ersten Weltkrieg gab; auch kommt ihr ältester Bruder Fritz Engelmann in die Erinnerung, weil der „als Infantrist“ im 5. Pommerschen Infanterie-Regiment „Prinz Moritz von Anhalt-Dessau“ Nr. 42, stationiert in Stralsund, deshalb nicht befördert wurde, weil er mal ohne Jagdschein erwischt worden war.

Das hier im Auszug dokumentierte Gespräch fand etwa im Jahre 1980 statt, Martha Dähn, geborene Engelmann, überblickte da schon fast achtzig Jahre. Am Ende ihres Lebens wird es beinahe ein Jahrhundert sein, das sie erlebt hat und erinnert. Immer wieder interessant: ihre persönliche Erzählperspektive. Sie erinnert nur authentisch Erlebtes. Da taucht der Nachbar auf, „Wilhelm Kohlmeier“, der Zigarrenmacher war. Ein Hinweis darauf, daß in Gartz (und Umgebung) Tabak angebaut und auch gleich vor Ort verarbeitet wurde. Der 11 Jahre ältere Bruder Fritz taucht auf, der beim Militär nicht befördert wurde; die vielen Vereine im Ort sind auch in lebendiger Erinnerung. Wir sehen das Städtchen Gartz aus der Perspektive eines Bauern-Kindes und einer Schülerin. Die alt gewordene Martha Dähn erinnert sich in diesem clip an ihre Kinder- und Jugendzeit, an die Jahre zwischen 1902 und etwa 1920, an ein gemütliches Ackerbauerstädtchen, das lange schon im Kriege untergegangen ist.

In der Transkription (der O-Ton folgt weiter unten) liest sich der heutige Abschnitt so:

„Wilhelm Kohlmeier war nicht reich, der Junggeselle. Der war Zigarrenmacher[1]. Wenn ich zu dem kam, dann lag der ganze Tisch schon voll mit Heringsabfällen und all so was. Ich hab ihm immer Essen hingetragen[2].
Morgens kam er an und holte sich Milch von uns, aber umsonst natürlich. Er hatte ja auch nicht mehr als die Rente. Und dann hat er uns öfter geholfen, und dann sagt er: „Ach singen….“ Er war früher im Gesangverein, aber nun waren ihm die Zähne rausgefallen[3] und nun blubberte das immer über.
„Nee“ sagt er, „dat is ja keen Singen“ und dann sang er:
„Der liebe Herrgott geht durch den Wald, der liebe Herrgott geht durch den Wald“.



Das haben sie im Gesangverein gesungen.
Und dann war’s so: die Vereine alle: Turnerverein rechts, Turnerverein links; Feuerwehr-Verein, landwirtschaftlicher Verein, Bürger-Verein, Krieger-Verein, was war’s denn noch, Bildungs-Verein, ach, was gab das alles für Vereine!
Ach ja, Schützen-Verein gab’s auch. Die waren im Schützenhaus hier bei uns. Und da waren die Schrey-Schützen alle mit Zylinder und schwarze Röcke, das waren all die studierten Schützen[4]. Die gab’s im Gartzer Schrey[5].
Und immer war wat los. All[6] Sonntag.

Und denn hatten’s noch nebenan ne Jagd. Wie die Jungs so jung waren, sonntags ganz früh um drei, um zwei gings schon zur Jagd.
Der älteste Bruder, der Fritz, der war ja elf Jahre älter wie ich, dann haben sie sich da oben anjebammelt[7] mit ne Schnur nen großen Wecker, denn musste der den wecken, nich.
Wenn’t denn zur Jagd ging, dass sie auch zeitig hinkamen. Unser Fritz war ja ein ruhiger Mann, so eine ruhige Art wie du.
Und denn secht Vadder: „Jeh du nich up Jagd! Dein Jagdschein is abjelaufen.“
„Ach, wird nich jrad eener kommen“.
Da kam ja die Schandarmerie[8]!
Wir hatten Polizei, aber dann kam noch die Schandarmerie.
Und mit eenmal kommt der Reimann, der war überhaupt so schabbig[9], und da kriegt er 20 Mark Strafe, weil er keinen Jagdschein hatte!
Und nachher dient er bei die Zweiundvierziger, nee, in Stralsund hat er jedient, stimmt. In Stralsund hat er jedient bei die Zweiundvierziger, als Infantrist[10].
Und denn gratuliern ihm die andern all und seggn (sagen): „Fritz, Mensch, du wirst wohl dit ma (diesmal) Jefreiter wern und wirst wohl irgendwat wern.“
Und denn kommt der Offzier uns secht:
„Engelmann, wir wollten Sie avangsiern[11], aber dat geht nich, Sie ham mal 20 Mark Strafe jehabt.“
So war dat.
Da kannst du sehen, wat für’n Umschwung dat all’s jewesen is. Wie dat heute aussieht!
Heut is eener froh, der jar nich Soldat wird! Und früher: ach, furchtbar!
Ja, 20 Mark Straf hat er müssen jem[12].“

Im Orginal-Ton hört sich das dann so an:

Soweit heute. Den nächsten Clip gibt’s in etwa einer Woche. Oral History – erzählte Geschichte.


[1] Man erfährt in diesem Gespräch eben auch etwas über die damals üblichen Berufe. In Gartz wurde unter anderem Tabak verarbeitet. Es gab Zigarrenmacher. Und wer arm war wie Wilhelm Kohlmeier, dem „fielen die Zähne aus“.

[2] Martha Engelmann (später Dähn) war noch Schulkind. Die Erinnerungen wechseln immer mal wieder die Zeiten. Hier also die Zeit etwa zwischen 1906 (sie ist 1902 geboren) und 1916/1920.

[3] Ein Hinweis auf die schlechte medizinische Versorgung für arme Leute in jenen Jahren

[4] Soziale Schichten unterschieden sich offenbar auch nach ihrer Kleidung.

[5] Der Gartzer Schrey ist ein Waldgebiet am westlichen Hohen Ufer der Oder. Der Oder-Neiße-Radweg führt heutzutage durch den Gartzer Schrey.

[6] Jeden Sonntag

[7] angebunden

[8] Gendarmerie, die war für die Dörfer zuständig. Sie war beritten.

[9] Ein jiddisches Wort. „schabbig“. Gemeint ist etwa „schäbig, häßlich, streng“.

[10]  5. Pommersches Infanterie-Regiment „Prinz Moritz von Anhalt-Dessau“ Nr. 42, stationiert in Stralsund.

[11] Avancieren, also befördern

[12] Gesprochene Abkürzung für „geben“

Geschichten von der Oder. Clip 2. Vom Zeppelin über der Uckermark und vom Untergang der Titanic

Geschichten von der Oder. Clip 2. Vom Zeppelin über der Uckermark und vom Untergang der Titanic

Das vorliegende Tonband ist vor etwa vierzig Jahren aufgenommen worden. Martha Dähn (*1902) erinnert sich an ihre Zeit in Gartz an der Oder am Ostrand der Uckermark. .“Schön am Strom gelegen“, wie Johannes Bobrowski vielleicht sagen würde. Dieses etwa einstündige Band teile ich in kleine Abschnitte auf und kombiniere Tondokument und Transskription, um es als Quelle für die Ortsgeschichte zur Verfügung zu stellen, solche alten „oral history“ Dokumente sind ja eher selten.

Martha Dähn, geborene Engelmann wohnte beinahe ihr ganzes Leben in Gartz an der Oder in der Großen Mönchenstraße 360. Von dort aus hat sie die Welt kennengelernt. Die Welt kurz nach der Jahrhundertwende im kleinen Ackerbürgerstädtchen Gartz mit etwa 3.500 Einwohnern. Man kannte sich. Bauern, Fischer, Handwerker, ein Gymnasium, ein Gericht, einen „Supperndenten“ von der Kirche, einen „Paster“ auch. Und dann natürlich das eine oder andere „Original“, wie es sich gehört für einen uckermärkisch-pommernschen Ort.

Im heutigen clip erinnert sich Martha Dähn an den Zeppelin und an die Titanic. Vom Untergang der Titanic erfuhren die Menschen aus der Zeitung oder, wie man damals sagte, von den „Zigeunern“, denn, wenn die „zum Volksfest“ nach Gartz kamen, hatten sie die neuesten Nachrichten „auf die Planen gemalt“, Fernsehen und Radio gabs ja noch nicht. Wir hören auch von Zauberern und „Hipnotisierern“, erahnen etwas von der Stimmung bei einem Gartzer Volksfest kurz nach der Jahrhundertwende, so, wie es sich in der Erinnerung der mittlerweile Achtzigjährigen eingegraben hat. Im Originalton klingt das so:

Zepplin[1], ja! So 1911 muss et jewesen sind. 1910 oder 1911. Da warick noch’n klein Mädchen. Und da haben se lauter Zettel runterjeschmissen.  Wees ick noch janz jenau. Wie die Zijarre[2] so rüber kam so janz langsam. Ja.“

Wann war dat, 1910 oder 1911, wo die Titanic[1] unterjejang is?
Da kam se bei uns: so’n großen Wagen, mit lauter Leinen bespannt ringsrum und da war dat all’s jezeichnet. Der janze Untergang der Titanic.

Da ist so’n Zauberer jewesen, eener, der hat denen wat vorjemacht, und da hat er jesacht: „Bei mir jehen die Leute durch’n Baumstamm!“ Er ginge jetzt durch’n Baumstamm.
Und da ham die jesacht: „Nee, dat is nich wahr!“
Und dann isser, ham auch wirklich jedacht, er jeht durch’n Baumstamm, und eene Frau hat jesacht: „Nee, der is nich durch’n Baumstamm, der is gleich nebenbei jejang.“  Die hat dat jesehn.
„Huh, Wasser, Wasser!“ hat er jesacht und da hat sie janz und jar die Röcke hat se hoch jenomm.
Und die Leute haben jelacht, und wie! Du, früher war dat überhaupt, wo dat allet frei war, da kam so ne, na, die so hipnotisiert[2] ham. Und dat war, wie hieß er denn noch, Mensch, siehste, ick hab den Nam‘ verjessen.
Die sagen, der is früh jestorben.
Da hat er se immer hipnotisiert, da war’n Leute bei uns, der hatte die Gasanstalt, und wir jingen ja immer da hin, wenn wat los war. Bei uns war ja wenig und denn jing[3] wir da hin.
Und da sacht er zu ihm, er soll uffen Tisch, nee, ein Flugzeug fährt über, nich, und er soll winken und so jelenkig und denn hopst er aufen[4] Tisch und hat jewunken, als ob er richtig da dem Flugzeug zuwinkt, haha, dabei war jar nüscht.
Und erst sacht er, wir mussten alle so machen, guck mal, so. Und die dat so nich auseinander krichten, ob er damit wat bezweckt, die hat er wohl, die hat er auch meist hoch[5] jeholt. Und denn hat er allet versteckt bei die Leut und denn immer wieder rausjeholt, ach, wie hieß denn dieser Kerl noch, dat war so ein Schwarzer. Da zogen sie ja all mit sowat rumher.
Und denn nachher, da waren welche da, die ham solche Ringkämpfe jemacht. Und denn mussten welche vom Publikum ruff komm‘, wer da mitmacht, nich. Und denn da ruff[6]. Und denn nachher, ach, dat war immer ein Gaudium! Da war immer wat los.“


[1] Die „Titanic“ galt damals als das schnellste und sicherste Passagierschiff der Welt. Auf seiner ersten Fahrt ist das Schiff am 14. April 1912 auf einen Eisberg gefahren und untergegangen.

[2] Ein Hypnotiseur also

[3] Gingen

[4] Auf den

[5] Auf dem Markt war wohl eine kleine Bühne aufgebaut. Und die ausgesuchten Leute mussten dann „hoch“ auf die Bühne für die Kunststückchen beim Jahrmarkt.

[6] Rauf auf die Bühne. Den einfachen Bauersleuten ist das nicht leicht gefallen. Jetzt konnte einen ja jeder sehen…..



[1] Zeppelin. Ein mit Wasserstoff gefülltes, riesiges Luftschiff

[2] „Zigarre“ sagten die Leute, weil das Luftschiff wie eine große Zigarre aussah