Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. (3) Die Akte ELAB 35/5155

Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. (3) Die Akte ELAB 35/5155

ELAB 35/5155 ist die Personalakte des Konsistoriums zu Pfarrer Neuberg der zwischen 1935 und 1945 Pastor in Hohenschönhausen war. Er war Mitglied bei den „Deutschen Christen“ und aller Wahrscheinlichkeit nach auch „P.g.“, „Parteigenosse“, also Mitglied der NSDAP (das lasse ich momentan im Bundesarchiv prüfen). Ein Hinweis von Kurt Scharf in der Akte, Neuberg sei „P.g.“ gewesen und könne deshalb (nach dem Krieg) nicht wieder in Hohenschönhausen anfangen, nehme ich ernst. Neuberg galt auch in Gesprächen, die ich vor einiger Zeit mit älteren Gemeindemitgliedern in Hohenschönhausen führen konnte, als „besonders scharfer Hitler-Unterstützer“. Ich habe die Akte am 8.5.2023 eingesehen.
Im Folgenden gebe ich die wesentlichen Stationen von Neuberg zunächst weitgehend unkommentiert wieder, die sich aus der Lektüre der Akte ELAB 35/5155 ergeben.


Emil Hugo Albrecht Neuberg,
Geb. 24.3.1901 in Zwickau (Sachsen)
getauft am 28. April 1901
1905 Umzug nach Berlin
Ostern 1907“ kam er in die Schule, zunächst die drei Klassen der Dorfschule des Helmholtz-Realgymnasiums zu Berlin-Schöneberg,
„bis ich Ostern 1910 umgeschult wurde, da meine Eltern nach Berlin-Steglitz verzogen. Ich wurde in die Sexta des dortigen Gymnasiums aufgenommen“.

konfirmiert am 19. März 1916 in der Kirche Berlin-Steglitz.
Reifezeugnis („aufgrund des Ministerialerlasses vom 1. August 1914 – U II 1955 – wurde er der Notreifeprüfung unterzogen“ am 23. August 1918.
„Er hat sich im landwirtschaftlichen Hilfsdienst als Jungmannenführer vorzüglich bewährt.“
Das Turn-Zeugnis vermerkt: „Er hat sich als Mitglied der Jugendkompagnie gut bewährt“.
Neuberg verlässt nun das Gymnasium Steglitz, „um sich zunächst dem Vaterländischen Hilfsdienst zu widmen und späterhin Theologie zu studieren“. Im Namen der Königlichen Prüfungskommission unterzeichnet Direktor Dr. Lück, Königlicher Kommissar i.V. und Dr. Kroymann als Direktor des Gymnasiums.
30. 1. 1919 Immatrikulation an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin
4.5.1919 Neuberg meldet sich als „Freiwilliger“ (obwohl der Krieg zu Ende ist!). Scheidet „auf eigenen Wunsch“ am 12.8.1919 wieder aus.
7. März 1921 Abgangszeugnis der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin
(„gez. Seeberg“) Mit Vorlesungsverzeichnis. Alte Geschichte hat er bei von Harnack gehört, neuere Kirchengeschichte bei Holl; Genesis bei Kurt Eissfeld; Neutestamentliche Theologie bei Seeberg;
1. März 1922 Abgangszeugnis der Universität Greifswald mit Vorlesungsverzeichnis
19. April 1922. Immatrikulation an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin mit Vorlesungsverzeichnis und Abschlusszeugnis.
27. – 30. Oktober 1923. Erste Theologische Prüfung Berlin „im Ganzen gut“
(eine schriftliche Arbeit hatte er über „die katholische Lehre vom Bußsakrament“ abzuliefern). Das Fach Philosophie hat er mit „nicht völlig genügend“ absolviert, deutsche Sprache: im Ganzen gut; Exegese des AT „im Ganzen gut“; Exegese des NT „im Ganzen gut“; Kirchen und Dogmengeschichte „bestanden“, Dogmatik und Symbolik „bestanden“, Ethik „bestanden“, Praktische Theologie „im ganzen gut“.
„Der Kandidat hat sich zur zweiten Prüfung nicht vor dem 30. April 1925 und spätestens an dem 30. Oktober 1927 zu melden.“

1.12.1923 – 30.11.1924 Lehrvikar in Berlin-Friedenau bei Pfarrer Vetter. Dort bekommt er am
29. Dezember 1924 von seinem Lehrpastor ein handschriftliches Zeugnis. „Der cand. theol. Albrecht Neuberg aus Steglitz, Beymestr. 3 ist vom 1. Dezember 1923 bis 30. November 1924 Lehrvikar in Friedenau gewesen. Er wohnte bei seinen Eltern in Friedenau, kam aber jede Woche 5 mal, dann 4 mal, ….außer sonnabends zu mir“. „Cand. theol. Neuberg ist überdurchschnittlich begabt, dabei sehr fleißig und von großem Eifer….“

1.12.1924 – 15.5.1925 Mitarbeit im Evangelischen Pressverband

6. Juni 1925 „Zeugnis“ vom Evangelischen Pressverband für Deutschland e.V., für den ja auch Jochen Klepper in Breslau gearbeitet hat. Dort steht zu lesen:
„Herr Vikar Neuberg war vom 1. Dezember 1924 bis 15. Mai 1925 im Evangelischen Pressverband für Deutschland tätig. Er sich überraschend schnell in die mancherlei Aufgaben kirchlicher Redaktionsarbeit eingelebt und insbesondere bei der Herausgabe der Berliner Beilage des „Evangelischen Deutschland“ wertvolle von uns dankbar geschätzte Hilfe geleistet. Sein Austritt erfolgte auf eigenen Wunsch zum Zwecke der Ableistung des 2. Theologischen Examens.“ Unterschrieben von Direktor Hinderer.

9.- 12. Januar 1926 Zweite Theologische Prüfung in Berlin „im Ganzen gut“.
(Die Akte 35/5155 enthält alle Prüfungsarbeiten aus dem Ersten und Zweiten Theologischen Examen in handschriftlicher Form; das macht die Akte sehr umfänglich, ist aber im Zusammenhang wenig ergiebig.)

14. Februar 1926 Ordination in Berlin-Schöneberg, Kirche zum Heilsbronnen“. (Heute hier: https://heilsbronnen.de/page/1828/impressum)

Urlaub vom 5. – 18. Juli 1926.
18. Juli bis 14. August 1927 Urlaub.

seit 15.4. 1928 Pfarrer in Neuhardenberg
Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg. Berlin SW, 26. April 1928 (maschinenschriftlich) an „Herrn Stadtvikar Neuberg, Hochehrwürden zu Berlin-Steglitz, Beymestraße 3“:

„Wir haben Ihre Berufung zum Inhaber der Pfarrstelle in Neuhardenberg
[1], Kirchenkreis Müncheberg, bestätigt und Herrn Superintendenten Beckmann in Müncheberg mit Ihrer Einführung beauftragt. …..Abschrift der von dem Patronat unter dem 15. April 1928 ausgestellten Berufung liegt bei. Tunlichst bald nach Ihrem Dienstantritt wollen Sie sich Ihrem zuständigen Herrn Generalsuperintendenten persönlich vorstellen“

Als Gehalt bezieht er 391,67 RM monatlich (Grundgehalt jährlich 4700 RM).

12. Juni 1928 Heirat mit Herta Neuberg, geb. Gaedtke (geb. 1. 11. 1905).

23. 6. 1936 Berufung in die Pfarrstelle Hohenschönhausen

21. April 1937 „Dem Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg teile ich mit, daß ich eine Kriegsbeorderung für den 6. Mobilmachungstag vom Wehrbezirksamt Berlin-Weissensee erhalten habe. Heil Hitler! Neuberg“

30.5.1941  „Hierdurch zeige ich an, dass ich heute einen Einberufungsbefehl zum 7. Juni d. J. erhalten habe. Heil Hitler!“ Vertretung ist an Herrn Pfarrer Knick übertragen.

5.6.1941 „Hierdurch zeige ich an, dass mein am 8. Mai d. J. geborener Sohn Wolfgang am 24. Mai gestorben ist. Geburts- und Sterbeurkunde liegen bei. Bemerken darf ich, dass das Sterbedatum auf der Sterbeurkunde – 25. Mai – auf Grund eines Versehens des Paul-Reyher-Krankenhauses in Berlin-Weissensee nicht richtig ist. Zur Berichtigung des Sterbedatums soll ich demnächst vor das zuständige Standesamt geladen werden. Heil Hitler! Neuberg“

17. 12. 1942 Anzeige der Geburt einer Tochter Christa.
Neuberg dient da als „Gefreiter Neuberg“ in Teltow bei Berlin. (Kopie).

Die Geburtsurkunde vom Standesamt Berlin-Wedding Nr. 6256 besagt:
Christa Renate Neuberg ist am 4. Dezember 1942 in Berlin im Rudolf-Virchow-Krankenhause geboren.
Vater: Pfarrer Emil Hugo Albrecht Neuberg, evangelisch; Mutter: Herta Viktoria Neuberg, geborene Gaedtke, evangelisch. Berlin, 8. Dezember 1942, der Standesbeamte. Gebühren bezahlt.

In der Akte ELAB 15/5156 findet sich ein weiterer Personalbogen, aus dem hervorgeht, daß Neuberg weitere Kinder hatte:
1. Brigitte * 12 November 1932
2. Gertraud *9. September 1936
3. Wolfgang * 8. Mai 1941; + 24. Mai 1941
4. Christa *4. Dezember 1942

Wehrdienst: 7. Juni 1941 bis 22. Juli 1945: Entlassung aus sowj. Kriegsgefangenschaft (eine für russische Verhältnisse sehr kurze Kriegsgefangenschaft!).  

Neuberg tastet nach dem Kriege beim Konsistorium vor, ob er wieder als Pfarrer in Hohenschönhausen arbeiten könne, aber das Konsistorium bedeutet ihm, es sei wohl besser, wenn er sich woanders umsähe.

Schreiben 29. August 1945 Konsistorium an Pfarrer Neuberg in Blönsdorf Krs. Wittenberg
„Wir übertragen Ihnen bis auf weiteres kommissarisch die Verwaltung der Pfarrstelle Niedergörsdorf (über Jüterbog 2). Tag des Dienstantritts soll 1. August 1946 sein.

24. Februar 1950 Brief Neuberg an Konsistorium
„Als ich Ende Juli 1945 aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, stand ich vor der Tatsache, dass all mein äusseres Hab und Gut durch die Ereignisse der letzten Kriegstage in Berlin-Hohenschönhausen so gut wie vollständig verloren gegangen war[2]. Bei meinem Einzug in Kaltenborn wurde mir ein Schlafzimmer zur Verfügung gestellt. Nach der Währungsreform[3] musste ich dieses Schlafzimmer für 800 DM kaufen, da die bisherige Besitzerin Geld brauchte und es sonst anderweitig verkauft hätte. Die letzten Raten von 200 DM habe ich noch nicht bezahlt. Ausserdem habe ich in Jüterbog durch Vermittlung des Herrn Superintendenten und des Herrn Pfarrer Berzer alte, aber brauchbare Möbel kaufen können im Betrage von 490 DM, die teilweise auch noch nicht bezahlt sind. Natürlich bin ich jetzt nicht etwa luxuriös, sondern äusserst einfach eingerichtet. Jetzt wird in nächster Zeit der Fall eintreten, dass ich die wenigen Möbelstücke meines Amtszimmers, die von 1939 – 1946 unbenutzt und verkommend in einem Schuppen standen, kaufen muss. Die Möbelstücke, die ich vor der Währungsreform kaufen konnte, erwähne ich nicht. Alle diese Möbelkäufe nach der Währungsreform – bisher ca. 1300 DM – wollte ich gern mit meinem Gehalt bestreiten. Ich muss jetzt einsehen, dass das leider nicht geht und sehe mich daher genötigt, das Evangelische Konsistorium zu bitten, mir eine entsprechende Unterstützung gütigst gewähren zu wollen. Gehorsamst Neuberg, Pfarrer“.
(Neuberg bekommt daraufhin 350 DM einmalige Beihilfe).

Am 6. Juni 1950 bekommt Neuberg eine neue Gehaltsbescheinigung, aus der hervorgeht, daß er nun 597,10 DM bekommt.  

1. Januar 1952 Dienstantritt als Pfarrer einer Pfarrstelle in Bad Freienwalde/Oder, Kirchenkreis Bad Freienwalde.

21. April 1952 neue Gehaltsbescheinigung: 710 DM.
Aus einer Erklärung gegenüber dem Konsistorium für das Rechnungsjahr 1952 (Kindergeld) geht hervor, daß Tochter Brigitte, (geb. 12. 11. 1932) seit 1. 10. 1950 am Seminar für kirchlichen Dienst in Dahme/Mark in Ausbildung ist.

Am 22. November 1952 fragt Neuberg beim Konsistorium an, ob er Beihilfe bekommen kann, denn: „Meine Frau und ich tragen sich mit dem Gedanken von einer Witwe aus einer meiner früheren Gemeinden, die 8 Kinder hat, von denen ich 3 konfirmiert habe, ein Kind in Pflege zu nehmen. Die 3 Mädchen dieser Witwe, die ich konfirmiert habe, wollen sämtlich Diakonisse oder Katechetin werden und wir möchten gern, daß wenigstens eines von diesen Kindern einige Jahre in einem evangelischen Pfarrhaus zubringt, bevor die eigentliche Ausbildung beginnt. …..Für den Fall, daß diese Pläne sich verdichten sollten, darf ich anfragen, ob mir dann auch für eins dieser Kinder Kinderbeihilfe und Lohnsteuerermäßigung zustehen würde……“
Das Konsistorium antwortet, die Voraussetzungen dafür seien „nicht gegeben“.

Neuberg wohnt 1952 in Bad Freienwalde, Uchtenhagenstraße 4/5

Dann taucht ein Zeitungsartikel in der Personalakte auf, der dem Konsistorium „zugesandt“ worden war, aus dem hervor geht, daß „Herr Pfarrer Neuberg“ kräftig geholfen habe, ein völlig verunkrautetes Rübenfeld wieder zu säubern.
„Herr Pfarrer Neuberg aus Bad Freienwalde erklärte, daß es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, die in Bedrängnis geratenen Staatsorgane durch seinen persönlichen Einsatz zu unterstützen[4]. Etwas unverständlich ist ihm jedoch die Zurückhaltung vieler Freienwalder Einwohner, von denen einige lieber einen Ausflug gemacht haben, als der Landwirtschaft in der Notlage zu helfen……..“ (im Konsistorium eingegangen am 14. Juli 1953)

Konsistorium an Neuberg in Bad Freienwalde: die Tochter Brigitte ist nun Katechetin und bekommt ab 1.9.1954 ein eigenes Gehalt, weshalb der Kinderzuschlag für sie entfällt

Im Januar 1955 beantragt er „zusätzlichen Urlaub“, den der Superintendent Dr. von Arnim genehmigt.

28.1.1955
Antrag des Konsistoriums auf eine „Erholungsmöglichkeit in einem Ihrer westdeutschen Heime“ an das „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland Hauptbüro Brandenburg zu Händen von Frau Dr. Urban, Berlin-Zehlendorf, Teltower Damm 93“ Es geht um Neuberg, der „vor Jahren eine inaktive Tbc durchgemacht“ habe und nun prophylaktisch eine 6-8wöchentliche Kur benötige.

1. Juli 1956
Der Bischof zu Greifswald (Krummacher) schreibt an den „lieben Bruder Scharf“ in Berlin:
„….Nun macht mich Bruder Rieck auf einen Bruder Neuberg aus Bad Freienwalde aufmerksam, der in Ahlbeck als Kurpfarrer gewesen ist und vielleicht für das Pfarramt in Ahlbeck in Frage käme. Würden Sie mir freundlichst – zunächst vertraulich und persönlich – ein Urteil über Bruder Neuberg geben? …..“
Im Mai 1958 jedenfalls ist Neuberg immer noch in Bad Freienwalde und bittet um eine Urlaubsbeihilfe.
               Dann gibt’s eine anonyme Anzeige aus Bad Freienwalde gegen Pfarrer Neuberg.
Das Konsistorium reagiert und bittet ihn zur Anhörung. Anwesend sind Rechtsanwalt Vogel als Untersuchungsführer und Frau Annemarie Brümmer als Protokollführerin.
24. Juni 1959:
„Es erscheint gemäß Schreiben von 28. Mai 1959 Herr Superintendent Dietmar Voigt, Bad Freienwalde, und erklärt zu der anonymen Anzeige, soweit sie sich auf Pfarrer Albrecht Neuberg bezieht, folgendes:
Mir ist seit geraumer Zeit bekannt, daß Pfarrer Neuberg gelegentlich zuviel Alkohol trinkt. Ich hab darüber schon im vergangenen Jahre mit Herrn OKR Dr. Fichtner gesprochen. Wir sind damals dahin übereingekommen, daß ich zunächst durch persönliche Vermahnungen versuchen sollte, Pfarrer Neuberg zu einem vernünftigen und pflichtgemäßen Verhalten zu veranlassen. Dies ist geschehen und ich habe auch feststellen können, daß nach zwei Gesprächen, die ich mit Pfarrer Neuberg wegen seines Alkoholgenusses geführt habe, eine wesentliche Besserung eintrat.
Davon, daß Pfarrer Neuberg betrunken auf dem Marktplatz aufgefunden worden ist, weiß ich nichts. Ich werde versuchen, hierüber näheres zu erfahren. Richtig ist an der Anzeige, daß Pfarrer Neuberg auch bei einem Konfirmandenunterricht einmal angetrunken erschienen ist. Dies liegt aber bereits ein Jahr zurück und war mit Anlaß zu meinem Besuch bei Herrn OKR Dr. Fichtner. Sowohl die Amtsbrüder im Kirchenkreis als auch die Ältesten haben mich in dieser Sache mehrfach angesprochen, wir sind aber alle darüber einig gewesen, daß man zunächst versuchen sollte Pfarrer Neuberg durch persönliche Vorhaltungen auf einen rechten Weg zu bringen.
Ich habe auch mit Frau Pfarrer Neuberg wegen der verschiedenen Vorkommnisse gesprochen; sie erklärte mir, daß ihr Mann den Alkoholgenuß übertreibe, weil er sich in seiner Amtsstellung nicht voll befriedigt fühle.
Zu dem weiteren Inhalt des anonymen Schreibens, soweit er Vorwürfe gegen mich enthält, werde ich schriftlich Stellung nehmen.
Pfarrer Neuberg wurde Abschrift des anonymen Schreibens ausgehändigt; er wurde gebeten, sofern möglich, Name und Anschrift der Absenderin festzustellen. Berlin 24. Juni 1959.

Seite 2 (Abschrift)
„Es erscheint auf das Schreiben vom 28. Mai 1959 hin Herr Pfarrer Albrecht Neuberg und erklärt folgendes:
Es trifft nicht zu, daß ich auf dem Marktplatz aufgelesen worden bin und betrunken nach Hause gebracht worden sei und zwar trifft das weder für Mai 1959 noch für einen anderen Zeitpunkt zu.
Es ist richtig, daß ich manchmal Schnaps getrunken habe. Dies hielt ich für notwendig, weil ich mir in der Gefangenschaft eine Ruhrerkrankung zugezogen habe, an deren Folgen ich immer noch leide. Ich habe mich auch schon nach den Gesprächen mit Herrn Superintendent Voigt bemüht, jeden Alkoholmißbrauch zu vermeiden. Seit Erhalt des Schreibens vom 28. Mai 1959 habe ich mit Ausnahme eines Glases Wein überhaupt keinen Alkohol mehr getrunken.
Unrichtig ist auch, daß ich vor Konfirmanden angetrunken erschienen bin, jedenfalls ist mir nicht bekannt, daß darüber Beschwerde geführt worden ist. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, daß man auch bei geringem Alkoholgenuß leicht den Eindruck erwecken kann, als ob man viel getrunken habe.
Ich verspreche, in Zukunft jeden Alkoholmißbrauch während der Dienstzeit zu unterlassen.
Berlin, den 24. Juni 1959“

Die Sache zieht sich jedenfalls über das Jahr 1959.
Am 10. Juli 1959 schreibt Superintendent Voigt in der Sache nochmals an Rechtsanwalt Vogel, mit dem er am 24. 6. die Angelegenheit schon einmal „erörtert“ hatte.

Und am 11. August 1959 notiert das Konsistorium „In der Hauskonferenz am 10. August 1959 ist beschlossen worden, von weiteren Ermittlungen abzusehen. Die bisherigen Ermittlungen haben keinen hinreichenden Verdacht für einen disziplinaren Tatbestand ergeben. Es spricht aber viel dafür, daß Pfarrer Neuberg mehrfach zuviel Alkohol genossen hat. Es ist dementsprechend beschlossen worden, Pfarrer Neuberg nochmals vorzuladen und ihn ernstlich zu vermahnen, jeglichen Alkoholmißbrauch zu unterlassen, da sonst ein Disziplinarverfahren unvermeidlich wäre.“
Jedenfalls musste Neuberg nochmal in der Jebensstraße am Montag, dem 24. August 1959 in der Suff-Angelegenheit antanzen.

Mit Datum 11. März 1965 ist vom Evangelischen Konsistorium Berlin-Brandenburg in einem Schreiben an den Gemeindekirchenrat des Pfarrsprengels Bad Freienwalde zu erfahren:

„Wir haben Herrn Pfarrer Albrecht Neuberg auf Grund von § 59 Abs. 1 des Pfarrerdienstgesetzes[5]
vom 11. 11. 1960
zum 30. Juni 1965 in den Ruhestand versetzt.
Hinsichtlich der Wiederbesetzung der Pfarrstelle ergeht zu gegebener Zeit besondere Verfügung“.

Eine letzte Aktennotiz des Konsistoriums Berlin-Brandenburg vom 16. Februar 1971
„Betr. Pfarrer i.R. Albrecht Neuberg, 1501 Elsholz (bei Beelitz)
Zur dortigen Information teilen wir mit, daß der Obengenannte im Februar dieses Jahres verstorben ist. Seine hinterbliebene Ehefrau Herta Neuberg erhält von uns ab 1. März 1971 Witwengeld.“


Soweit die personenbezogenen Daten, die sich aus der Akte ELAB 35/5155 zu Pastor Neuberg ergeben. Die Daten zu „Deutschen Christen“, „NSDAP“ etc. werden nach und nach ergänzt, soweit sie aktenkundig sind.
Anmerkung: Ein „Entnazifizierungsverfahren“ – nach kirchlichem Sprachgebrauch ein Kammerspruchverfahren – hat es nach dem Krieg gegen Neuberg nicht gegeben, jedenfalls kennen die erhalten gebliebenen Akten der Spruchkammerverfahren den Namen „Neuberg“ nicht. Offenbar hat es der Kirchenleitung genügt, ihn in eine entfernte Pfarrstelle zu versetzen.
In einem späteren Arbeitsgang will ich diese Daten mit den bereits ermittelten Daten aus dem Schriftwechsel der Kirchgemeinde Hohenschönhausen mit dem Konsistorium ergänzen und sie auch in den allgemeinen politischen Kontext jener Jahre stellen, damit sich so, Arbeitsgang für Arbeitsgang, allmählich ein Gesamtbild der gesellschaftlichen, kirchlichen und politischen Gegebenheiten in Hohenschönhausen in den Jahren 1933 – 1945 ergeben kann.
Für diese Arbeitsweise habe ich mich entschieden, damit Leserinnen und Leser mit hoher Transparenz sehen können, wie ich vorgehe.
Für Anregungen und Kommentare bin ich immer dankbar, dafür ist ein e-mail-Kontakt im blog eingerichtet.


[1] Der Patron der Pfarrstelle Neuhardenberg, Carl-Hans Graf von Hardenberg, wird schon bald versuchen, Neuberg wieder loszuwerden. Die eng nationalsozialistische Gesinnung des Pastors gefällt ihm nicht – Neuberg kommt nach Hohenschönhausen. Vgl. dazu https://www.academia.edu/8593812/ein_deutscher_Christ_in_Lichtenberg?fbclid=IwAR2FGu98HFtRl8XVMZL10XelnBXGMPw_VAr1d2fwAuGHmrmSC5sDN9bo2LA
und weil Neuberg „vom nationalsozialistischen Gedankengut stark geprägt war“ (Horst Mühleisen, Patrioten im Widerstand. Carl-Hans Graf von Hardenbergs Erlebnisbericht, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41, 1993, 419-477, 424); siehe auch: Klaus Gerbet, Carl-Hans Graf von Hardenberg, 1993, 41. EvDR 5, 18.19.1936 [9].

[2] Das Haus in der Hauptstraße 39 war aber intakt, was da „verloren gegangen“ sein könnte, muss genauer recherchiert werden. Offenbar hatte er z.B. die Möbel seines Amtszimmer „in einem Schuppen untergestellt“.

[3] In Ostdeutschland 22. Juni 1948, nachdem die Westzonen schon eine Reform durchgeführt hatten. https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%A4hrungsreformen_in_Deutschland#1948_in_der_Sowjetischen_Besatzungszone

[4] Das riecht mir etwas zu sehr nach Anpassung an den neuen Staat, denn es waren die Jahre des Kirchenkampfes.

[5] in der geltenden Neufassung des Pfarrerdienstrechts der EKD geht es in § 60 um „vorläufige Untersagung der Dienstausübung“  https://www.kirchenrecht-ekd.de/document/14992#s47000207


Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin. (2) Nana Dorn. Pastorin im „Ostsee-Viertel“ Berlins.

Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin. (2) Nana Dorn. Pastorin im „Ostsee-Viertel“ Berlins.

Derzeit entsteht die größte evangelische Gesamtgemeinde Berlins im Norden der Metropole. Drei ehemals selbständige, große Gemeinden mitten in riesigen Neubaugebieten wollen ihre Zusammenarbeit weiter verstärken und ihre Sichtbarkeit im Kiez (hier leben mittlerweile etwa 120.000 Menschen) verbessern. Die Beschlüsse sind alle gefasst, noch im April wird das Projekt auch offiziell mit einem Feier-Tag aus der Taufe gehoben. Mich interessiert dieser Prozess, weshalb ich mit einzelnen Akteuren Interviews führe. Mit der Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates, Petra Wüst, hatte ich bereits gesprochen. Heute nun ein Gespräch mit Nana Dorn, seit 10 Jahren Pastorin in „Hohenschönhausen-Nord“, einem Stadtteil von Hohenschönhausen und damit Teil Lichtenbergs. Man nennt diesen Kiez auch das „Ostsee-Viertel“, weil es hier Straßen wie „Darßer Straße“, „Zingster Straße“, Ahrenshooper Straße“ und so weiter gibt.
Das etwa einstündige Gespräch habe ich aus praktischen Gründen dreigeteilt.
Im Teil 1 hören wir eher Biografisches von Nana Dorn, damit die Hörerinnen und Hörer ein Gefühl dafür bekommen, „mit wem wir es eigentlich zu tun haben.“ Wir sprechen auch über Heinrich Grüber, den Namenspatron des Zentrums.


Teil 2 macht das „Heinrich-Grüber-Zentrum“ am Berl 17 auch als Gebäude hörbar, das im Jahre 1983 erbaute und 1988 geweihte neue Gemeindezentrum, das in diesem Jahr 35-jähriges Jubiläum feiert. Die Geschichte des „Heinrich-Grüber-Zentrums“ ist auch deshalb interessant, weil sie von der Vergangenheit erzählt, als Berlin noch geteilt war. Wir erfahren Interessantes von der staatlichen „Kirchenpolitik“ der DDR – und von den Neuanfängen nach 1990, als der große Umzug begann. Ein Glasfenster spielt in diesem Teilbeitrag eine besondere Rolle, weshalb es auch gezeigt werden soll:


Teil 3 gibt uns einen guten Einblick in die sozialen Problemlagen im Kiez: eine große vietnamesische Community; soziale Probleme wie Armut, Alkohol, fehlende Angeboten für Jugendliche, Gewalt in Familien und erzählt davon, wie sich sowohl die Kirchgemeinde als auch die Diakonie mit ihrer Jugendarbeit dort einmischt und engagiert, wo die Probleme besonders drückend werden. Über das Sozial-Projekt „Leib und Seele“ werde ich noch extra einen Podcast anfertigen, auch über die offene Jugendarbeit im Projekt der Diakonie SPIK e.V., von deren Arbeit im Beitrag schon die Rede ist.

Nachtrag: wer sich etwas genauer mit Heinrich Grüber befassen möchte, dem sei zum Beginn seiner Studien dieser Dokumentarfilm empfohlen:

Die Tabor-Kirchgemeinde Berlin-Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. Ein Beitrag zur Regionalgeschichte (2)

Die Tabor-Kirchgemeinde Berlin-Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. Ein Beitrag zur Regionalgeschichte (2)

Am 30. 1. 1933 war Hitler Reichskanzler geworden. In großer Eile gingen die Nazis daran, demokratisch gewählte Vertretungen (Gewerkschaften, Parteien etc.) entweder zu verbieten, ihre Funktionäre in Gefängnisse und KZs zu stecken – oder sie „gleichzuschalten“. Das betraf auch die Evangelische Kirche. Durch Erlaß des „Staatskommissars“ für Kirchenfragen (August Jäger) vom 25. Juni 1933 galten die kirchlichen, demokratisch gewählten Körperschaften wie die Gemeindekirchenräte als „aufgelöst“, wie das folgende Dokument auch für Hohenschönhausen zeigt:

Quelle: Evangelisches Gemeindeblatt vom 1. Juli 1933 für Hohenschönhausen; aufbewahrt im Stadtmuseum Lichtenberg

Pastor Dr. Kurth bestellte den Land- und Amtsgerichtsrat Dr. Bork und den Diplomingenieur Dierstein mit in die Leitung der Kirchgemeinde, bis die „Körperschaften neu gewählt“ sein würden. Sowohl mit Dr. Bork – mit dem besonders – als auch mit Herrn Dierstein hat Dr. Kurth schwerste Auseinandersetzungen geführt. Beide Herren setzten alles daran, Dr. Kurth „loszuwerden“, aber dazu kommen wir noch ausführlicher in einem späteren Beitrag.
Am 28. Juli 1933 werden die kirchlichen Körperschaften neu „gewählt“. Von freien Wahlen konnte allerdings überhaupt gar keine Rede sein, sogar Hitler selbst hatte noch am Vorabend der Wahlen über den Rundfunk zugunsten der „Deutschen Christen“ gesprochen. Entsprechend gingen diese „Wahlen“ aus: in Hohenschönhausen setzten sich die nationalsozialistisch gesinnten „Deutschen Christen“ zu 100% durch. Im evangelischen Gemeindeblatt heißt es lapidar: „Kampflos ist in unserem Ort die Kirchenwahl verlaufen. Bereits bei der vorigen Wahl hatte die Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ die absolute Mehrheit erhalten…….“

Quelle: evangelisches Gemeindeblatt für Hohenschönhausen, 1. 7. 1933, Stadtmuseum Lichtenberg.
Für unsere Untersuchungen sind nun die Namen der „Gewählten“ interessant. Zwei Gremien waren zu bestimmen: der „Gemeindekirchenrat„, also der eigentliche, innere Kern der Gemeindeleitung und zusätzlich die „Gemeindeverordneten„, die eine breite „Absicherung“ der Kirchgemeinde in der Gesamtgesellschaft in Hohenschönhausen sicherstellten.
Zum engeren Leitungskreis um Pastor Dr. Kurth gehörten nun (allesamt „D.C.“)
1. Fritz Dierstein
2. Friedrich Hagen
3. Hannes Haak
4. Dr. Günther Bork
5. Fritz Koch
6. Emil Briesemeister
7. Johannes Moll
8. Heinrich Haehn
9. Hugo Trembinski
10. Johannes Leutke
11. Wilhelm Müller
12. Curt Papsdorf
Von den Gemeindevertretern will ich die Nr. 21 hervorheben: Richard Vahlberg. Das war der Ortsgruppenleiter der NSDAP in Hohenschönhausen. Vahlberg gehörte zu den „alten Kämpfern“ um Adolf Hitler. Er war schon 1931 „Sektionsleiter“ der NSDAP in Hohenschönhausen, wie das folgende Dokument nachweist: (Auszug aus der „Geschichte der NSDAP in Weißensee“. Aus der Festschrift zu 700 Jahre Weißensee im Jahre 1937, S. 97)

Nr. 25 unter den neu bestimmten „Gemeindevertretern“ findet sich Willi Hausen, war „Gemeindegruppenleiter der Deutschen Christen“, wie aus folgendem Dokument hervorgeht, auf das wir noch gesondert zu sprechen kommen: es handelt sich dabei um eine „Unterschriftenliste“, die Dr. Bork, ein Intimfeind von Pastor Dr. Kurth, im Jahre 1935 gegen den Pastor gesammelt hat, um seine Versetzung in den Ruhestand zu erzwingen. (Quelle: Kirchliches Zentralarchiv ELAB 14/5222)

Im nächsten Blog-Beitrag will ich etwas näher auf die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ im Hohenschönhausen jener Jahre eingehen, weil sie für das Verständnis der vorliegenden Dokumente notwendig sind.

Die Tabor-Kirchgemeinde Berlin- Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. Ein Beitrag zur Regionalgeschichte (1)

Die Tabor-Kirchgemeinde Berlin- Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945. Ein Beitrag zur Regionalgeschichte (1)

Kirchengeschichte ist Teil der allgemeinen Geschichtsschreibung. Will man die Geschichte eines ehemaligen Dorfes im ehemaligen Landkreis Barnim in den Jahren zwischen 1933 und 1934 erkunden, muss man sich mit den Ereignissen in der evangelischen Kirchgemeinde befassen, denn sie waren wesentlicher Teil der Ereignisse im Dorf. Die Kirchgemeinde hatte in jenen Jahren immer noch großen Einfluss und es war nicht unerheblich für das gesamte Dorf Hohenschönhausen (seit 1920 Teil Berlins), wie der Pastor und der Gemeindekirchenrat dachten und sich verhielten.
Umgekehrt ist die Darstellung der Verhältnisse in der evangelischen Kirchgemeinde auch Spiegelbild der allgemeinen Verhältnisse im ehemaligen barnimschen Dorf Hohenschönhausen, das 1933 seit 13 Jahren zu Berlin gehörte.
Wesentlich waren in den zu beschreibenden Jahren zwei Pastoren:
Dr. Julius Kurth und Pfarrer Albrecht Neuberg.
Julius Kurth (von 1910 bis 1935 Pastor in Hohenschönhausen) gehörte seit 1933 zu den „Deutschen Christen“, Albrecht Neuberg (1936 – 1945 Pastor in Hohenschönhausen) galt im Urteil von Gemeindegliedern, mit denen ich Anfang der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts sprechen konnte, zu den „scharfen NS-Unterstützern.“ Wir werden uns im Folgenden mit beiden Pastoren, aber auch mit dem Gemeindekirchenrat und den kirchlichen Gruppen innerhalb der Gemeinde beschäftigen und versuchen, möglichst exakte Dokumente beizufügen. Wichtigste Quelle sind bislang die Unterlagen über die Kirchgemeinde im Zentralarchiv der Landeskirche und im Lichtenberger Stadtmuseum.
Beginnen wir mit den Pastoren und ihren Porträts. Beide sind in der Sakristei der Tabor-Kirche aufbewahrt.

Dr. Julius Kurth war ein national gesinnter, konservativ eingestellter Privatgelehrter, der sich mit Fragen antiker Kunst bestens auskannte und dazu auch publiziert hat. Grosse-Leege hatte ihn – in seiner Eigenschaft als Patron der Kirchgemeinde – noch berufen.

Kurth ging mit einem Riesenkrach aus der Gemeinde Hohenschönhausen in Pension. Lange Jahre schon gab es Intrigen gegen ihn, er hat das Konsistorium – also seine vorgesetzte kirchenleitende Behörde – mehrfach schriftlich „um Schutz“ gebeten. In seinen letzten Berufs-Jahren 1933 – 1935 waren es vor allem Nationalsozialisten im Gemeindekirchenrat, die ihn „weghaben“ wollten, obwohl er zu den „Deutschen Christen“ gehörte, der hitlertreuen Mehrheit der Berliner Pastoren also. Allen voran ein Dr. Bork, der damals im Rathaus Hohenschönhausen wohnte. Aber auch der Ortsgruppenchef der NSDAP, Vahlberg, war Mitglied im Gemeindekirchenrat und arbeitete gegen Dr. Kurth. Wir werden dem im Einzelnen noch nachgehen.
Zum Gemeindekirchenrat lässt sich sagen: er war schon im Sommer 1933 zu 100% deutsch-christlich, also „hitlertreu“. Allerdings muss man auch da genauer hinschauen. Das werden wir anhand der Dokumente tun.
Der Ortsteil Berlins, um den es geht, war allgemein-politisch eher links: Kommunisten und Sozialdemokraten stellten bis 1933 die Mehrheiten. Das änderte sich allerdings mit der „Machtergreifung“ schlagartig. Ähnlich wie im „roten Wedding“ wurde, was ehemals „rot“ war, überraschend schnell „braun“. Die Rolle der Kirche dabei war nicht unerheblich. Denn man sprach im Dorf über das Verhalten, die Veröffentlichungen und auch die Predigten des Pastors und die Ereignisse im Gemeindekirchenrat.
Das oben als Header eingefügte Titelbild stammt aus dem Jahre 1944. Ich habe es dem Band „1945. Nun hat der Krieg ein Ende. Erinnerungen aus Hohenschönhausen“, zusammengestellt und eingeleitet von Thomas Friedrich und Monika Hansch, herausgegeben vom Museum Hohenschönhausen 1995, auf Seite 145 entnommen.
Die nächsten Texte zum Thema werden unter der Kategorie „Hohenschönhausen zwischen 1933 und 1945“ zu finden sein. Zeitgleich lege ich die Beiträge auf der dafür eingerichteten facebook-Projektseite ab.

1945. Das Ende des Krieges in Hohenschönhausen. Zeitzeugenberichte. Ein Podcast

1945. Das Ende des Krieges in Hohenschönhausen. Zeitzeugenberichte. Ein Podcast

Gerade in großen Neubaugebieten gibt es ein Bedürfnis, der Geschichte des Ortes nachzugehen. Die Menschen suchen nach Wurzeln des Jetzigen. Hohenschönhausen war bis 1920 ein Dorf im Niederbarnim. Ab 1920 gehörte es – eine Folge des „Groß-Berlin-Gesetzes“ – zu Berlin, blieb aber noch lange Jahre eher ländlich geprägt. Bauern lebten hier, Handwerker, Kleinviehschlachter. Dorf eben. Man kannte sich.
1995 hat das Heimatmuseum Hohenschönhausen eine Broschüre in sehr kleiner Auflage (nur 1500 Exemplare) drucken lassen, in der Zeitzeugenberichte über das Ende des Zweiten Weltkrieges in diesem ehemaligen niederbarnimschen Dorf am Stadtrand von Berlin festgehalten wurden. („1945. Nun hat der Krieg ein Ende. Erinnerungen aus Hohenschönhausen“. Zusammengestellt und eingeleitet von Thomas Friedrich und Monika Hansch. Herausgegebenen vom Bezirksamt Hohenschönhausen von Berlin, Abt. Jugend, Familie und Kultur. 1995).
Da diese wichtige Quelle nicht mal mehr antiquarisch zu beziehen ist, lese ich die Beiträge nach und nach in einem Podcast ein und stelle sie auf diese Weise Interessierten zur Verfügung.
Wir beginnen mit Hermann Wegener, einem alteingesessenen Hohenschönhausener, Jahrgang 1929. Er war am Ende des Krieges 16 Jahre alt.

Im zweiten Beitrag berichtet Horst Kern (Jahrgang 1928), wie es war, als er als 17-Jähriger aus der Gefangenschaft nach Hause kam:
„Vater hatte man erschossen. Mutter hatte sich vergiftet…….“

Beitrag 3: Clemens Napieraj, der Sohn des Friedhofsverwalters.

Beitrag 4: Liesel Jacoby. Sie stammte aus Leipzig und war in der Siedlung Wartenberg mit dem Juden Fritz Jacoby verheiratet. Dort erlebt sie am 1. Mai 1945 „den schönsten ersten Mai meines langen Lebens“.

Clip 5. Hildegard Müller. „Bei uns, gleich hinter dem Haus, standen die Stalinorgeln und schossen ihre Granaten Richtung Friedrichshain“

„Meine beste Freundin wurde von ihrem Vater umgebracht, der sich dann mit seiner Frau das Leben nahm. Er war wohl ein Nazi.“ Ingrid Mattern (geb. 1929) erinnert sich an der Ende des Krieges 1945 in Hohenschönhausen.
Clip 6

Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin

Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin

Früher habe ich meinen Podcast bei Soundcloud benutzt, um Zeitzeugeninterviews im Zusammenhang mit meinen Buch-Recherchen insbesondere zur NS-Zeit zu dokumentieren.
Podcasts sind gut geeignet für Menschen, die einmal mitten im oder abends nach dem Trubel des Tages ganz in Ruhe zuhören wollen. Hier geht es nicht um Schnelligkeit, sondern um Aufmerksamkeit.
Jetzt will ich den Podcast erweitern. Er wird „Begegnungen“ heißen.
Dabei geht es mir um die Dokumentation von Gesprächen mit Menschen, die mir auf meinem Lebensweg „über den Weg laufen“, wie man so sagt und die ich interessant finde.
Ich beginne mit einer Frau, die bereit war, mit mir über einen langen, keineswegs einfachen Prozess einer Gemeindebildung im Norden Berlins zu sprechen, der deshalb von Interesse ist, weil es sich im Ergebnis um die nun größte Gesamtgemeinde Berlins handelt. Und Petra Wüst ist die Vorsitzende des Parlaments dieser Gesamtgemeinde – Vorsitzende vom Gesamtgemeindekirchenrat. Mich interessiert ihr Blick auf die Vorgänge.
Deshalb habe ich mich bei ihr angemeldet und wir haben uns getroffen, um miteinander zu sprechen.
Wer meine Interviews bei Soundcloud hören möchte: dort sind sie in Playlists thematisch sortiert. Künftig werde ich Podcast-Beiträge auf Soundcloud und auch hier auf WordPress zugänglich machen. Abonnieren und teilen kann man selbstverständlich auch.
Nun also. „Begegnungen. Ein Podcast aus Berlin.“

Episode 1. Petra Wüst. Vorsitzende des Gesamtgemeindekirchenrates der größten Gesamtgemeinde Berlins in Hohenschönhausen. Ein Gespräch im März 2023.
Clip 1. Petra Wüst.
Wie es anfing.

Clip 2. Petra Wüst.
Wenn Straßen Stadtteile trennen, statt sie zu verbinden. Von den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit in einem großen Neubaugebiet der Metropole Berlin.

Clip 3. Petra Wüst.
Was mir Hoffnung macht.

Etwas von Büchern

Etwas von Büchern

Derzeit katalogisiere ich meine Bibliothek, sortiere aus, ordne neu und nehme deshalb jedes Buch nochmals in die Hände. Dabei fiel mir ein altes Buch von 1891 auf. Genauer: das, was vorn eingestempelt zu lesen ist.


Wir sehen Spuren von zwei Kindern. Der eine zehn, der andere 11 Jahre alt.
Der eine, Gerhard, damals, 1939, wohnte er in Halle, hat das Buch zu seinem zehnten Geburtstag bekommen und unter „Nr. 13“ in seine kleine Kinder-Bibliothek aufgenommen. Er war ordentlich, wie sein Vater, der war Registrator und Rendant in einer großen Kirchgemeinde einer Stadt an der Oder gewesen und dort zuständig für das Ausstellen von Arier-Nachweisen, aber das ist eine sehr eigene, bedrückende Geschichte.

Als Gerhard das Buch zum Geburtstag bekam, war der Zweite Weltkrieg gerade 12 Tage alt, die Wehrmacht war am 1. September 1939 in Polen einmarschiert, unter dem Vorwand übrigens, man sei „dazu gezwungen worden“ und müsse „sich verteidigen“.

Den Adreß-Stempel für seine Kinder-Bibliothek hat sich Gerhard vermutlich in der Druckerei der Franckeschen Stiftung anfertigen können, dort konnten die Schüler ihren Werkunterricht wahrnehmen. Gerhard war ab 1938 Schüler der Knabenschule der Franckeschen Stiftungen. Jene Schule wurde noch 1938 mit großem Tamtam in „Hans Lody Schule“ umbenannt. Der Hallenser SS-Oberganove Reinhard Heydrich schickte ein Grußwort. Der Schulunterricht begann in jenen Jahren mit den „aktuellen Berichten von der Front“. Karten waren aufgebaut, in die Schlachten und Orte von Schlachten eingezeichnet waren. Der tägliche „Frontbericht“ war Schulalltag, schließlich müssen wohlerzogene Volksgenossen im Alter von 10 Jahren wissen, wo die Front verläuft.

Der andere Junge bekam das Buch im Jahr 1968, da war er elf.
Deutschland und Europa waren geteilt. Truppen des Warschauer Paktes waren in diesem Jahr in Prag einmarschiert, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie Dubcek ihn wollte, zu verhindern.
Katalogisiert wurde das Büchlein nun im Februar 2023, da war der russisch-ukrainische Krieg 1 Jahr alt.

Zu diesem Bild gehört eine Geschichte.
Als ich 18 wurde, nahm mich mein Vater, ein Kriegskind, das seine ganze Kindheit und Jugend unter den Nazis verbracht hatte, Mitglied bei den Pimpfen und in der HJ war, der das Schießabzeichen der HJ in Bronze besaß und der am Ende des Krieges als 15-Jähriger Brandschutzhelfer Leichen aus den Trümmern in Ammendorf und Halle ziehen musste, mit auf einen Friedhof.

Wir gingen in eine besondere Abteilung dieses Friedhofes.
„Schau Dir mal genau die Grabsteine an“ sagte mein Vater. „Was fällt Dir auf?“
„Die Geburtsdaten“, sagte ich. „Es sind alles junge Männer zwischen 16 und 25 Jahren.“
„Kannst Du mir sagen, weshalb diese jungen Leute gestorben sind?“ fragte er nach.
„Man hat sie in den Krieg eingezogen, dort wurden sie erschossen. Die jüngsten unter ihnen waren noch Kinder“, sagte ich.
Darauf mein Vater, und diesen Satz hab ich mein Lebtag nicht vergessen: „Kannst Du mir heute, an Deinem achtzehnten Geburtstag versprechen, niemals eine Waffe in die Hand zu nehmen, auch wenn Du dafür massive Probleme bekommen wirst?“

„Ja“, war meine Antwort, „das kann ich versprechen.“

Meinen Vater hat der Krieg Jahre später doch noch geholt, er wurde nur 56 Jahre alt, zehn Jahre jünger, als ich jetzt bin. Die schweren Depressionen, direkte traumatische Folgen einer Jugend im Krieg, haben ihn am Ende doch noch besiegt. Sabine Bode hat in ihren Büchern über Kriegskinder viel über die seelischen Folgen einer Kriegskindheit gearbeitet und publiziert.

Ich bin dem Kriegskind Gerhard, der mein Vater wurde, dankbar für jenes besondere Geburtstagsgeschenk an meinem achtzehnten Geburtstag.
Bis auf den heutigen Tag.

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Ihr Programm „Der Klang der Erde ist Friede“ hatte sie zuletzt im November 2022 im Naumburger Dom aufgeführt. Als ich Veronika Otto anrief, fragte ich gleich, ob das denn hinzukriegen wäre mit der Akustik, der Naumburger Dom habe doch nun mal eine ziemlich andere Akustik als unser Musikzimmer. „Ach, das kriege ich hin“, war ihre fröhliche Antwort, „ich spiele ja nicht linear, sondern ich kreire Klang-Räume. Das klappt auch in Deinem Musikzimmer.“ Na, ich war neugierig. Und dann kam sie, bepackt mit ihren Instrumenten. Cello, mongolische Pferdekopfgeige und kasachisches Kobyz. Veronika Otto ist ausgebildete Cellistin, seit 1995 selbständig. Wenn sie spielt, spielt sie nicht irgendein „ein Stück“, sondern sie selbst tritt sofort als Person in den Raum. Sie spielt. Sie spielt nicht nach Noten (das kann sie selbstverständlich), sondern sie spielt mit Naturtönen.

Dafür sind Cello, Pferdekopfgeige und Kobyz ideale Instrumente, denn es sind „singende Instrumente“. Das Spiel mit den Naturtönen – zum Beispiel mit dem „Klang der Erde“, einem Ton, der unserem „G“ sehr nahe kommt – setzt sich fort im Obertongesang.

Veronika Otto begann ihren Abend mit einem Lied, genauer, mit einem gesungenen Gedicht aus dem Jahre 1915

„Lied der Mütter gegen den Krieg“

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen,

Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage.

Wer wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken,

Damit er einer andern Mutter teures Kind erschiesst?

Es ist die höchste Zeit, die Waffen fortzuwerfen.

Es könnte niemals einen Krieg mehr geben,

Wenn alle Mütter in die Welt es schreien würden:

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!

Zum Hintergrund dieses Liedes weiß man: es war in Amerika aufgekommen (I didn’t raise my boy to be a soldier). Am 23. Februar 1915 wurde es in der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“ abgedruckt. Die erklärende Notiz dazu lautete: „Das Lied der Mütter gegen den Krieg. In New York wird jetzt in allen Varietés, Musikhallen, auf der Strasse und im Salon ein Protestlied gegen den Krieg gesungen, das in deutscher Übersetzung lautet…“

In seiner Nummer vom 2. März 1915 druckte der Brünner „Volksfreund die Notiz ab.
Aus dem Brünner Blatt übernahm sie die „Volkswacht“ in Mährisch-Schönberg in ihre Nummer vom 5. März. Die Notiz wurde nirgendwo beanstandet.
Der Beamte der Bezirkskrankenkasse Freiwalden, Karl Langer, schrieb das Gedicht ab, machte auf der Schreibmaschine acht bis zehn Abzüge, von denen er an Frauen, die in die Bezirkskrankenkasse kamen, einige verteilte.

Die Behörde erfuhr davon. Karl Langer wurde sofort verhaftet und wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe vor das Landwehrdivisionsgericht Krakau in Mährisch-Ostrau gestellt. Nach diesem Paragraphen macht sich der Störung der öffentlichen Ruhe schuldig, wer „zum Ungehorsam, zur Auflehnung oder zum Widerstande gegen Gesetze, Verordnungen (…) auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht.“ Das Landwehrdivisionsgericht erkannte Langer für schuldig und verurteilte ihn zur Strafe des Todes durch den Strang! Im Gnadenweg wurde vom zuständigen Kommandanten die Strafe auf fünf Jahre schweren Kerkers herabgesetzt. (Wiener Arbeiterzeitung vom 26. Mai 1917.) Dies Zeitzeugnis fand sich im Band: „So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch“ Herausgegeben von S. D. Steinberg, Raschers Jugendbücher, Band 5, Zürich 1919.“

Damit war der „Rahmen“ für den Abend gesetzt, denn Veronika Ottos Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ entstand, als der Ukraine-Krieg begann. Ihre innere Frage lautete in jenen Tagen: „Gibt es denn angesichts von immer neuen Kriegen und Konflikten nicht etwas, das alle Menschen eint?“ Ihre Antwort als Musikerin: es ist der Klang der Erde.
Denn die rotierende Erde (eine Rotation ist nichts anderes als eine Schwingung) kann man hörbar machen. Wenn man die ursprüngliche Schwingung mehrfach oktaviert, wird sie hörbar. Es erklingt beinahe exakt ein Ton, den wir „G“ nennen. Die Erdbewohner „baden“ sozusagen – ohne dass ihnen das bewusst wäre – in einem Klang, im Ton „G“ nämlich. Der Jazz-Musiker Joachim-Ernst Berendt hat auf diese Zusammenhänge ebenfalls hingewiesen.
Das Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ ist deshalb und konsequenterweise eine Improvisation über den Ton G, vorgetragen auf dem Cello.

Die Hörerfahrung – von vielen Teilnehmern des Abends bestätigt – war: diese Musik „packt sofort zu“. Man kann sich ihr gar nicht entziehen. Und, es geht eine starke Ruhe von ihr aus, selbst im ersten Satz, der ja eher unruhig beginnt. Diese Hörerfahrung unterscheidet sich fundamental von der Hörerfahrung in einem „normalen“ Konzertsaal. Eben, weil da nicht „ein Stück“ vorgetragen wird, sondern weil da ein „Klangraum“ ganz neu entsteht, der nicht in Noten notiert ist, sondern spontan und im Augenblick entwickelt wird, besser noch: sich entfaltet.

Verstärkt wurde diese neue Hörerfahrung nach dem Vortrag von „Der Klang der Erde ist Friede“, als Veronika die Mongolische Pferdekopfgeige und dann das kasachische Kobyz zur Hand nahm, beides auch Streichinstrumente mit einem unglaublich wirkungsvollen Klang-Raum, obwohl beide Instrumente nur zwei Saiten haben. Die Bögen sind aus Pferdehaar gefertigt und so gespannt, dass der Spielende die Spannung des Bogens mit dem Daumen feinsteuern kann. Ergänzt wird das alles durch begleitenden Oberton-Gesang.

Wir haben hinterher geredet. Wir hatten Gäste aus der Ukraine und Italien, Musiker von der Komischen Oper Berlin waren da, ein interessiertes Völkchen hatte sich da bei uns im Musikzimmer versammelt und berichtete von ihren Hörerfahrungen mit der Musik von Veronika Otto. Es gab sehr sehr viel Zustimmung und Be-Geisterung (das Wort wird ihr gefallen).

Wer sich einmal auf ein „ganz anderes“ Hör-Erlebnis einlassen will, wer einmal einen „erfrischend anderen Konzertabend“ erleben will, wie sich eine Französisch-Lehrerin nach dem Abend in einer Mail an uns ausdrückte, dem sei Veronika Otto empfohlen. Man erreicht sie über ihre Homepage oder über Ihre Mail: ottonica@gmx.de


Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Musik erschließt sich manchmal nicht allein durch Hören, besser noch, durch vorbereitetes Hören, sondern auch durch persönliche Kontakte.
Wenn man – wie im vorliegenden Falle – den Bratschisten des anstehenden Konzertes aus früheren Begegnungen kennt, dann ist man – mir jedenfalls geht es so – neugieriger auf den Abend, als bei einem anderen Konzertbesuch. Das gilt besonders in diesem Falle, denn zu hören war am 16.1.2023 im Foyer der Komischen Oper Berlin Musik von Rezö Kokai (1906-1962); Juro Metsk (1954-2022) und Paul Hindemith (1895-1963). Zu meiner Schande muss ich gestehen, daß ich die zeitgenössische Musik nur äußerst lückenhaft kenne, „kurz hinter Hindemith“ hört die genauere Kenntnis schon auf, insofern war der Abend auch ein gutes Stück Erkenntnisgewinn.

Fünf Musikerinnen und Musiker, allesamt aus dem Orchester der Komischen Oper Berlin hatten sich für dieses Konzert zusammengetan. Zu hören waren:
Violine: Daniela Braun (im Bild ganz links) und Anastasia Tsvetkova (ehemals Kiew) (im Bild in der Mitte);
Martin Flade, Viola (zweiter von rechts)(Spezialist für Neue Musik); Rebekka Markowski, Violoncello (zweite von links); Sebastian Lehne, Klarinette, (rechts im Titelfoto).

Martin Flade hatte uns bei einem Privatbesuch von dem bevorstehenden Konzert erzählt und damit war klar, daß wir kommen würden. Eine freundliche, beinahe heitere Atmosphäre vor Beginn des Konzerts oben im Foyer, man versorgte sich mit einer Kleinigkeit an Getränken und studierte schon mal den kleinen Programm-Flyer. Dann begann es mit dem Qartettino für Klarinette und Streichtrio von Retsö Kokai. Juro Metsk folgte. Martin Flade hatte eine hilfreiche kleine Einführung gegeben.
Vieles wäre zum Gehörten zu sagen, ich will mich auf eines beschränken, das mich besonders berührt hat.

Der sehr langsame zweite Satz aus dem Klarinettenquintett op. 30 von Paul Hindemith, den man hier in einer anderen Aufnahme ab Minute 7.17 hören kann, hat mich – und, wie sich später zeigte auch andere -, besonders „angesprochen“. Das Stück wurde 1923 fertig und zum ersten mal aufgeführt – ein Jubiläum also. 100 Jahre opus 30 von Hindemith.
100 Jahre alte Musik – aber sie klingt in unseren von seltsamen Hörgewohnheiten übertölpelten Ohren immer noch „modern“, obwohl diese Musik inzwischen schon zu den klassischen Stücken der Musik nach der Jahrhundertwende gehört. Was also ist los mit unseren Hörgewohnheiten? Wollen oder können wir nicht wahrnehmen, was da seit der Jahrhundertwende im Reich der Musik vor sich gegangen ist?
1923. Der Erste Weltkrieg war erst vor Kurzem mit der Kapitulation der Deutschen zu Ende gegangen, Millionen von toten Menschen waren zu beklagen; in der jungen Weimarer Republik grassierte eine Hyperinflation. Von den „Goldenen Zwanzigern“ konnte nur reden, wer Dollars hatte. Die Not war groß im Lande.
Und dann diese Klänge.
Wer genau hört, kann das alles hören: den Krieg, die Not, die Klage. Und – die kommenden Braunen Horden. 10 Jahre später wird Hitler ´mit Hilfe konservativer politischer Kräfte die Macht an sich reißen.

Musik als Ausdruck der Zeit; als Verarbeitung von Erlebtem und Vorahnung von Kommendem. Joachim-Ernst Behrendt hat vor langen Jahren für den WDR Musikstücke großer Komponisten unter dem Fokus „Das Wunder des Spätwerks“ besprochen und ist der Frage nachgegangen, „was die Großen Meister wohl hören mögen“, wenn sie ihre Stücke, insbesondere letzte Stücke schreiben.
Nach dem Ersten Krieg war die Musiziererei im „alten Stil“ für Männer wie Hindemith, Berg, Schönberg, für die Musiker der Zweiten Wiener Schule zerbrochen; tanzte man in der Jahrhundertwende noch nach dem Klang riesiger Orchester Walzer – dann hört man nun bei Hindemith zwar auch noch „Walzer“ – aber eben zerbrochene, in Klangstücke zerborstene.
Die Katastrophe des Weltkrieges hatte zertrümmert, was da war, man musste neu beginnen. Nicht nur in der Literatur und Malerei, auch in der Musik. Langsam tastete man sich vor, probierte aus, suchte nach dem passenden Klang, der in der Lage war auszudrücken, was zu sagen war.

Nach dem Konzert saßen wir zusammen. Unten im Casino der Komischen Oper. Und ich hatte Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ich wollte mehr wissen von diesem Hindemith und erfuhr: Hindemith war Militärmusiker als Soldat. Er hat unter anderem in Lazaretten gespielt. Er hat sehr genau gesehen, was da geschehen war. Er sah die Männer ohne Beine; die amputierten Arme; er sah die sterbenden jungen Männer, wie sie im Buch „Im Westen nichts Neues“ eindrücklich beschrieben worden sind. Alle diese Bilder und Eindrücke hat er in sich aufgenommen und „zur Sprache gebracht“. Zu seiner Sprache, der Sprache der Musik.

Ich hab den fünf Musikerinnen und Musikern sehr zu danken für den Abend. Mit dem einen oder anderen sind wir nun verabredet und sehen uns hoffentlich wieder. Es ist noch viel zu lernen über die „neue Musik“. Denn eine Frage drängte sich nach dem Abend ja geradezu auf: Wenn Männer wie Hindemith, Kokai und Metsk versucht haben, ihre jeweilige Zeit-Erfahrung in ihre persönliche Klang-Sprache zu bringen – wie klingt dann eigentlich unsere jetzige Zeit? Wie klingt denn das Jahr 2023 – hundert Jahre nach opus 30 von Paul Hindemith?

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Es ist schön in Bansin und in diesem Jahr wollten wir uns mal wieder etwas ausführlicher mit dem wohl berühmtesten Sohn des kleinen Ortes, Hans Werner Richter, befassen, weshalb wir uns ausgiebig mit ihm sowohl im kleinen Museum im „Hans Werner Richter Haus“ (einem ehemaligen Haus der Feuerwehr) als auch mit seinen Büchern beschäftigen, insbesondere mit denen über die von ihm geleitete „Gruppe 47“, zu der so wichtige Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann, Walter Jens und viele andere gehörten, die für die literarischen Neuanfänge nach dem Ende des Hitlerschen „Reiches“ so ungemein wichtig geworden sind.

Hans Werner Richter hat in seinen autobiografischen Büchern (etwa in „Spuren im Sand“, auch in „Geschichten aus Bansin“ und „Die Stunde der falschen Triumphe“) nachdrücklich aufgezeigt, wo er politisch stand. Eher im „linken Milieu“, der Sozialdemokratie nahestehend, heute würde man vielleicht etikettieren „links-liberal“. Richter hat sich mit der Gründung der „Gruppe 47“ sehr um die deutsche Literatur-Sprache verdient gemacht, denn diese Sprache war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört. Worte wie „Treue“, „Vaterland“, „Gehorsam“, „Heimat“, „Volk“ etc. waren unbrauchbar geworden, es galt, neu zu beginnen, weshalb bei den Treffen der „Gruppe 47“ vor allem scharfe Wort-Kritik geübt wurde. Der Nachkriegs-Literatur hat das sehr gut getan.

Hans Werner Richter starb zwar in München, liegt aber – seinem Wunsch entsprechend – in Bansin begraben. Wir haben ihn besucht; auch das Haus, in dem er mit seiner Familie ab 1908 gelebt hat, „Villa Paula“ in der Seestraße 68 in Bansin, wollten wir sehen. Heute beherbergt das Haus eine Buchhandlung.

Seestraße 68 in Bansin. Hier hat Hans Werner Richter mit seiner Familie lange Jahre gewohnt.

Um das Haus auch von innen sehen zu können, mussten wir bis zum nächsten Tage warten, da war die Buchhandlung geöffnet.
Was ich vorfand, hat mich erschreckt: sehr prominent, gleich unter Büchern zur „Gruppe 47“ präsentiert, der Kopp-Verlag. Der nun gehört zu den umstrittensten Verlagen überhaupt, DeutschlandradioKultur hat mehrfach umfänglich recherchiert und gesendet, u.a. in dem hier verlinkten Beitrag.
Selbst Wikipedia widmet sich dem Verlag überaus kritisch. Man kann erfahren, der Verlag führe  „rechtsesoterischegrenz- und pseudowissenschaftlicheverschwörungstheoretische sowie rechtspopulistische und rechtsextreme Titel.“

Soweit der Befund.
Ich fand, der Verlag habe im ehemaligen Wohnhaus der Gründers der Gruppe 47 nichts zu suchen und schrieb deshalb an den Buchhändler: „Der Kopp-Verlag ist der führende Verlag der organisierten Rechtsextremisten nicht nur in Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz. Er munitioniert die AfD und gehört zu denen, die gern „Verschwörungsmythen“ verbreiten. Es wäre sicher nicht im Sinne von Hans Werner Richter, derlei Verlagsaktivitäten zu unterstützen.
Meine Frau und ich haben deshalb darauf verzichtet, bei Ihnen zu kaufen“.

Dann kam eine Antwortmail, die mich nachdenklich gestimmt hat, denn darin war nicht nur das in solchen Fällen Übliche zu lesen, die Bücher seien nicht indiziert, sie seien auch nicht verboten, und was nicht verboten sei, könne gehandelt werden, sondern in der Antwortmail kam eine Verteidigungsrede. Darin heißt es u.a.:

„….vielen Dank für Ihre Mail.

In unserer Buchhandlung ist nicht nur der Kopp-Verlag vertreten, sondern eine große Auswahl von Verlagen mit unendlich vielen verschiedenen Titeln.
Unsere Kundschaft wünscht auch diese Abwechslung, denn die gleiche Literatur, wie in vielen anderen Buchhandlungen Deutschlands ist für uns nicht ausreichend.
Das ist ein Ausdruck von Vielfalt und Toleranz gegenüber verschiedener Standpunkte.
Keines der Bücher in unserem Laden ist indiziert und so viel wir wissen, besteht in unserem Land immer noch Meinungs- und Pressefreiheit. …
Wenn Sie der Meinung sind, dass der Kopp-Verlag rechtsextremes Gedankengut verbreitet, geben Sie uns doch bitte nur ein einziges Beispiel dafür.
Der Zusammenhang mit einer Bundestagspartei und angeblichen Verschwörungsmythen erschließt sich uns nicht.
Hans Werner Richter schätzen wir aus Darstellungen seiner Familie als einen weltoffenen, systemkritischen aber vor allem selbstdenkenden Autoren ein.
Offenbar beziehen Sie allerdings Ihre sehr einseitigen und eingeschränkten Informationen immer noch aus den Massenmedien.
Das tut uns sehr leid.
Denn es gibt in der Zwischenzeit genügend Literatur, für Menschen, die der Wahrheit näher kommen wollen.“

Das ist AfD-Jargon. Da weiß jemand um „die Wahrheit“; da bezieht man seine Informationen nicht mehr „aus den Massenmedien“, Menschen, die das tun (zum Beispiel DeutschlandradioKultur zitieren), gelten als „sehr einseitig und eingeschränkt informiert“ etc. etc.

Schade.
Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, der alte Hans Werner Richter wäre aus seinem Grabe aufgestanden, um in seinem ehemaligen Wohnhaus mal nach dem Rechten zu sehen.
Ich glaube, er hätte dem Buchhändler mit einem kurzen pommernschen Satze die Gedanken grade gerückt: „Lass den Schiet“. Dann wäre er grummelnd wieder die Seestraße hinauf gegangen und hätte sich wieder dort zur Ruhe gelegt, wo er nun schon seit 1993 liegt.
In diesem Jahr übrigens feiert Bansin den 30. Todestag seines berühmtesten Sohnes. Zahlreiche Lesungen sind zu erwarten.
Ich wünsche diesen besonderen Veranstaltungen viele Besucher.