Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Der Klang der Erde ist Friede. Ein Abend mit Veronika Otto

Ihr Programm „Der Klang der Erde ist Friede“ hatte sie zuletzt im November 2022 im Naumburger Dom aufgeführt. Als ich Veronika Otto anrief, fragte ich gleich, ob das denn hinzukriegen wäre mit der Akustik, der Naumburger Dom habe doch nun mal eine ziemlich andere Akustik als unser Musikzimmer. „Ach, das kriege ich hin“, war ihre fröhliche Antwort, „ich spiele ja nicht linear, sondern ich kreire Klang-Räume. Das klappt auch in Deinem Musikzimmer.“ Na, ich war neugierig. Und dann kam sie, bepackt mit ihren Instrumenten. Cello, mongolische Pferdekopfgeige und kasachisches Kobyz. Veronika Otto ist ausgebildete Cellistin, seit 1995 selbständig. Wenn sie spielt, spielt sie nicht irgendein „ein Stück“, sondern sie selbst tritt sofort als Person in den Raum. Sie spielt. Sie spielt nicht nach Noten (das kann sie selbstverständlich), sondern sie spielt mit Naturtönen.

Dafür sind Cello, Pferdekopfgeige und Kobyz ideale Instrumente, denn es sind „singende Instrumente“. Das Spiel mit den Naturtönen – zum Beispiel mit dem „Klang der Erde“, einem Ton, der unserem „G“ sehr nahe kommt – setzt sich fort im Obertongesang.

Veronika Otto begann ihren Abend mit einem Lied, genauer, mit einem gesungenen Gedicht aus dem Jahre 1915

„Lied der Mütter gegen den Krieg“

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen,

Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage.

Wer wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken,

Damit er einer andern Mutter teures Kind erschiesst?

Es ist die höchste Zeit, die Waffen fortzuwerfen.

Es könnte niemals einen Krieg mehr geben,

Wenn alle Mütter in die Welt es schreien würden:

Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!

Zum Hintergrund dieses Liedes weiß man: es war in Amerika aufgekommen (I didn’t raise my boy to be a soldier). Am 23. Februar 1915 wurde es in der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“ abgedruckt. Die erklärende Notiz dazu lautete: „Das Lied der Mütter gegen den Krieg. In New York wird jetzt in allen Varietés, Musikhallen, auf der Strasse und im Salon ein Protestlied gegen den Krieg gesungen, das in deutscher Übersetzung lautet…“

In seiner Nummer vom 2. März 1915 druckte der Brünner „Volksfreund die Notiz ab.
Aus dem Brünner Blatt übernahm sie die „Volkswacht“ in Mährisch-Schönberg in ihre Nummer vom 5. März. Die Notiz wurde nirgendwo beanstandet.
Der Beamte der Bezirkskrankenkasse Freiwalden, Karl Langer, schrieb das Gedicht ab, machte auf der Schreibmaschine acht bis zehn Abzüge, von denen er an Frauen, die in die Bezirkskrankenkasse kamen, einige verteilte.

Die Behörde erfuhr davon. Karl Langer wurde sofort verhaftet und wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe vor das Landwehrdivisionsgericht Krakau in Mährisch-Ostrau gestellt. Nach diesem Paragraphen macht sich der Störung der öffentlichen Ruhe schuldig, wer „zum Ungehorsam, zur Auflehnung oder zum Widerstande gegen Gesetze, Verordnungen (…) auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht.“ Das Landwehrdivisionsgericht erkannte Langer für schuldig und verurteilte ihn zur Strafe des Todes durch den Strang! Im Gnadenweg wurde vom zuständigen Kommandanten die Strafe auf fünf Jahre schweren Kerkers herabgesetzt. (Wiener Arbeiterzeitung vom 26. Mai 1917.) Dies Zeitzeugnis fand sich im Band: „So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch“ Herausgegeben von S. D. Steinberg, Raschers Jugendbücher, Band 5, Zürich 1919.“

Damit war der „Rahmen“ für den Abend gesetzt, denn Veronika Ottos Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ entstand, als der Ukraine-Krieg begann. Ihre innere Frage lautete in jenen Tagen: „Gibt es denn angesichts von immer neuen Kriegen und Konflikten nicht etwas, das alle Menschen eint?“ Ihre Antwort als Musikerin: es ist der Klang der Erde.
Denn die rotierende Erde (eine Rotation ist nichts anderes als eine Schwingung) kann man hörbar machen. Wenn man die ursprüngliche Schwingung mehrfach oktaviert, wird sie hörbar. Es erklingt beinahe exakt ein Ton, den wir „G“ nennen. Die Erdbewohner „baden“ sozusagen – ohne dass ihnen das bewusst wäre – in einem Klang, im Ton „G“ nämlich. Der Jazz-Musiker Joachim-Ernst Berendt hat auf diese Zusammenhänge ebenfalls hingewiesen.
Das Stück „Der Klang der Erde ist Friede“ ist deshalb und konsequenterweise eine Improvisation über den Ton G, vorgetragen auf dem Cello.

Die Hörerfahrung – von vielen Teilnehmern des Abends bestätigt – war: diese Musik „packt sofort zu“. Man kann sich ihr gar nicht entziehen. Und, es geht eine starke Ruhe von ihr aus, selbst im ersten Satz, der ja eher unruhig beginnt. Diese Hörerfahrung unterscheidet sich fundamental von der Hörerfahrung in einem „normalen“ Konzertsaal. Eben, weil da nicht „ein Stück“ vorgetragen wird, sondern weil da ein „Klangraum“ ganz neu entsteht, der nicht in Noten notiert ist, sondern spontan und im Augenblick entwickelt wird, besser noch: sich entfaltet.

Verstärkt wurde diese neue Hörerfahrung nach dem Vortrag von „Der Klang der Erde ist Friede“, als Veronika die Mongolische Pferdekopfgeige und dann das kasachische Kobyz zur Hand nahm, beides auch Streichinstrumente mit einem unglaublich wirkungsvollen Klang-Raum, obwohl beide Instrumente nur zwei Saiten haben. Die Bögen sind aus Pferdehaar gefertigt und so gespannt, dass der Spielende die Spannung des Bogens mit dem Daumen feinsteuern kann. Ergänzt wird das alles durch begleitenden Oberton-Gesang.

Wir haben hinterher geredet. Wir hatten Gäste aus der Ukraine und Italien, Musiker von der Komischen Oper Berlin waren da, ein interessiertes Völkchen hatte sich da bei uns im Musikzimmer versammelt und berichtete von ihren Hörerfahrungen mit der Musik von Veronika Otto. Es gab sehr sehr viel Zustimmung und Be-Geisterung (das Wort wird ihr gefallen).

Wer sich einmal auf ein „ganz anderes“ Hör-Erlebnis einlassen will, wer einmal einen „erfrischend anderen Konzertabend“ erleben will, wie sich eine Französisch-Lehrerin nach dem Abend in einer Mail an uns ausdrückte, dem sei Veronika Otto empfohlen. Man erreicht sie über ihre Homepage oder über Ihre Mail: ottonica@gmx.de


Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Kammerkonzert Nr. 4 in der Komischen Oper Berlin. Wendepunkte. Eine Notiz.

Musik erschließt sich manchmal nicht allein durch Hören, besser noch, durch vorbereitetes Hören, sondern auch durch persönliche Kontakte.
Wenn man – wie im vorliegenden Falle – den Bratschisten des anstehenden Konzertes aus früheren Begegnungen kennt, dann ist man – mir jedenfalls geht es so – neugieriger auf den Abend, als bei einem anderen Konzertbesuch. Das gilt besonders in diesem Falle, denn zu hören war am 16.1.2023 im Foyer der Komischen Oper Berlin Musik von Rezö Kokai (1906-1962); Juro Metsk (1954-2022) und Paul Hindemith (1895-1963). Zu meiner Schande muss ich gestehen, daß ich die zeitgenössische Musik nur äußerst lückenhaft kenne, „kurz hinter Hindemith“ hört die genauere Kenntnis schon auf, insofern war der Abend auch ein gutes Stück Erkenntnisgewinn.

Fünf Musikerinnen und Musiker, allesamt aus dem Orchester der Komischen Oper Berlin hatten sich für dieses Konzert zusammengetan. Zu hören waren:
Violine: Daniela Braun (im Bild ganz links) und Anastasia Tsvetkova (ehemals Kiew) (im Bild in der Mitte);
Martin Flade, Viola (zweiter von rechts)(Spezialist für Neue Musik); Rebekka Markowski, Violoncello (zweite von links); Sebastian Lehne, Klarinette, (rechts im Titelfoto).

Martin Flade hatte uns bei einem Privatbesuch von dem bevorstehenden Konzert erzählt und damit war klar, daß wir kommen würden. Eine freundliche, beinahe heitere Atmosphäre vor Beginn des Konzerts oben im Foyer, man versorgte sich mit einer Kleinigkeit an Getränken und studierte schon mal den kleinen Programm-Flyer. Dann begann es mit dem Qartettino für Klarinette und Streichtrio von Retsö Kokai. Juro Metsk folgte. Martin Flade hatte eine hilfreiche kleine Einführung gegeben.
Vieles wäre zum Gehörten zu sagen, ich will mich auf eines beschränken, das mich besonders berührt hat.

Der sehr langsame zweite Satz aus dem Klarinettenquintett op. 30 von Paul Hindemith, den man hier in einer anderen Aufnahme ab Minute 7.17 hören kann, hat mich – und, wie sich später zeigte auch andere -, besonders „angesprochen“. Das Stück wurde 1923 fertig und zum ersten mal aufgeführt – ein Jubiläum also. 100 Jahre opus 30 von Hindemith.
100 Jahre alte Musik – aber sie klingt in unseren von seltsamen Hörgewohnheiten übertölpelten Ohren immer noch „modern“, obwohl diese Musik inzwischen schon zu den klassischen Stücken der Musik nach der Jahrhundertwende gehört. Was also ist los mit unseren Hörgewohnheiten? Wollen oder können wir nicht wahrnehmen, was da seit der Jahrhundertwende im Reich der Musik vor sich gegangen ist?
1923. Der Erste Weltkrieg war erst vor Kurzem mit der Kapitulation der Deutschen zu Ende gegangen, Millionen von toten Menschen waren zu beklagen; in der jungen Weimarer Republik grassierte eine Hyperinflation. Von den „Goldenen Zwanzigern“ konnte nur reden, wer Dollars hatte. Die Not war groß im Lande.
Und dann diese Klänge.
Wer genau hört, kann das alles hören: den Krieg, die Not, die Klage. Und – die kommenden Braunen Horden. 10 Jahre später wird Hitler ´mit Hilfe konservativer politischer Kräfte die Macht an sich reißen.

Musik als Ausdruck der Zeit; als Verarbeitung von Erlebtem und Vorahnung von Kommendem. Joachim-Ernst Behrendt hat vor langen Jahren für den WDR Musikstücke großer Komponisten unter dem Fokus „Das Wunder des Spätwerks“ besprochen und ist der Frage nachgegangen, „was die Großen Meister wohl hören mögen“, wenn sie ihre Stücke, insbesondere letzte Stücke schreiben.
Nach dem Ersten Krieg war die Musiziererei im „alten Stil“ für Männer wie Hindemith, Berg, Schönberg, für die Musiker der Zweiten Wiener Schule zerbrochen; tanzte man in der Jahrhundertwende noch nach dem Klang riesiger Orchester Walzer – dann hört man nun bei Hindemith zwar auch noch „Walzer“ – aber eben zerbrochene, in Klangstücke zerborstene.
Die Katastrophe des Weltkrieges hatte zertrümmert, was da war, man musste neu beginnen. Nicht nur in der Literatur und Malerei, auch in der Musik. Langsam tastete man sich vor, probierte aus, suchte nach dem passenden Klang, der in der Lage war auszudrücken, was zu sagen war.

Nach dem Konzert saßen wir zusammen. Unten im Casino der Komischen Oper. Und ich hatte Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ich wollte mehr wissen von diesem Hindemith und erfuhr: Hindemith war Militärmusiker als Soldat. Er hat unter anderem in Lazaretten gespielt. Er hat sehr genau gesehen, was da geschehen war. Er sah die Männer ohne Beine; die amputierten Arme; er sah die sterbenden jungen Männer, wie sie im Buch „Im Westen nichts Neues“ eindrücklich beschrieben worden sind. Alle diese Bilder und Eindrücke hat er in sich aufgenommen und „zur Sprache gebracht“. Zu seiner Sprache, der Sprache der Musik.

Ich hab den fünf Musikerinnen und Musikern sehr zu danken für den Abend. Mit dem einen oder anderen sind wir nun verabredet und sehen uns hoffentlich wieder. Es ist noch viel zu lernen über die „neue Musik“. Denn eine Frage drängte sich nach dem Abend ja geradezu auf: Wenn Männer wie Hindemith, Kokai und Metsk versucht haben, ihre jeweilige Zeit-Erfahrung in ihre persönliche Klang-Sprache zu bringen – wie klingt dann eigentlich unsere jetzige Zeit? Wie klingt denn das Jahr 2023 – hundert Jahre nach opus 30 von Paul Hindemith?

Bitte mehr davon!

Bitte mehr davon!

Sofort nimmt mich die Atmosphäre gefangen. Hier geht es beinahe noch privat zu. Freunde der Musiker sind gekommen, man hat sich Advents-Plätzchen gebacken, man duzt sich, man kennt sich offensichtlich. Eine angenehme Atmosphäre schon gleich zu Beginn. Hier kommt man sich nicht fremd vor, hier ist man willkommen.
Mitten in Berlin-Karlshorst, 5 Gehminuten vom S-Bahnhof entfernt, findet sich in der Dönhoffstraße 39 im ersten Stock eines denkmalgeschützten Gebäudes ein Kammermusiksaal.

Man steigt die Treppe hoch, am Eingang gleich die kleine Kasse, privat gehts zu: „Papa, wie ist es mit Studentenrabatt?“ ruft eine junge Frau in den Saal, in dem noch geräumt wird.
Papa – das ist Thomas Hoppe und Thomas Hoppe ist nicht irgendwer.

Endlich hat er gefunden, wonach er gesucht hatte: einen schönen Saal für Kammermusik. 90 Plätze, gute Akustik, sogar ein kleiner Nebenraum ist vorhanden, da stehen Getränke bereit.
Ein Gewinn nicht nur für Karlshorst, ein Gewinn für ganz Lichtenberg, denn solche Musik bekommt man in Berlin sonst eigentlich nur in Mitte: im Kammermusiksaal bei den Philharmonikern; am Gendarmenmarkt.

Der Kammersaal in der Dönhoffstraße 39 in Berlin-Karlshorst

Das, was da aber gestern am Vorabend des 4. Advent zu hören war, war erstklassig. Beethoven, Avner Dorman, Gieseking. Nebst Zugabe. Bitte mehr davon!

Piano Nobile Kammersaal. Sollte man sich merken.

Die frische Art zu musizieren gefällt ganz unmittelbar. Ich kann sehen, wie sie zusammenspielen – man ist im Blickkontakt, freut sich, wenn dem anderen eine schwierige Stelle gelungen ist, lächelt sich zu beim Spiel. Da sitzen Profis, denen das Musizieren noch wirkliche Freude bereitet. Sowas ist selten geworden.

„Weils so einen Spaß macht“ heißt es denn auch am Schluß vor der Zugabe. Das ist zu spüren, das merkt man unmittelbar. Es geht heiter zu bei diesem Konzert, fröhlich, musikalisch hervorragend. Da ist nichts von der manchmal so steifen Kammermusik-Atmosphäre bei anderen Gelegenheiten. Hier kommen Musiker und Publikum zusammen, weil sie etwas Großes gemeinsam haben: Freude an der Musik.

Thomas Hoppe nutzt den schönen Saal in der Dönhoffstraße nicht nur für Konzerte mit seinem Ensemble 4.1 (ganz großartig auch gestern der „Jerusalem Mix“ von Avner Dorman), sondern gibt dort auch Musikstudenten Gelegenheit zur Probe und zu ersten eigenen Konzerten. Wunderbar.

Wir waren durch einen Tipp einer Freundin drauf gekommen: es gäbe da jetzt in Karlshorst so einen schönen Saal mit excellenter, frischer Kammermusik, da müsse man unbedingt mal hingehen und sich die Sache anhören.

Wir waren da. Und wir sind sehr angetan.
Bitte mehr davon!

Walter in des Kaisers Waffenrock. Die Sache mit dem Dschingdarassa ….


Alte Bilder erzählen Geschichten. Man muss aber genau hinschauen. Wir sehen einen jungen Mann. Er trägt eine Uniform. Auf dem Kopf eine Schirmmütze mit zwei großen, gut zu erkennenden „Knöpfen“ (Kokarden), kein Helm. Offenbar handelt es sich um eine „Ausgeh-Uniform“, darauf deutet auch die besondere Umgebung in einem Foto-Studio hin. Walter Kasparick geb. 1876 in Wilhelmshaven

Wir wissen von diesem Mann, dass er 1876 in Wilhelmshaven geboren wurde. Er kann also frühestens mit 16 Jahren, im Jahre 1892 in die Armee eingetreten sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass er – wie damals üblich – mit 20 Jahren, also 1896, zur Armee des Kaisers ging. Wehrpflichtig waren die Männer zwischen ihrem vollendeten 17. und ihrem 42. Lebensjahr.
Neben der Schirmmütze sehen wir Schulterklappen und Schulterstücken (Epauletten) – wir sehen folglich einen Offizier. Diese „Schulterstücken“ erweisen sich nach weiterer Recherche als sogenannte „Schwalbennester“ – und machen damit den Musiker kenntlich. Silberne oder goldene Unteroffizierstresse im Schwalbennest macht den Hoboisten kenntlich. Drei Knöpfe am Aufschlag des Uniformärmels, ein breiterer und ein schmaler Streifen am unteren Ende des Ärmels. Stehkragen verziert (ob gold oder silber ist nicht mehr zu erkennen). Schwarzes Koppel, Glacé-Handschuhe, dunkle Hose ohne Bügelfalten, Halbschuhe. Ein Orden links. Uniformrock mit sieben (wahrscheinlich 8) Knöpfen. Ein Knopf dürfte unter dem Koppel verborgen sein. Damit betreten wir die große Welt der Militärmusik.

Wir wissen über diesen jungen Mann, dass er „lange und gern – 12 Jahre“ Soldat gewesen sei. So hat es seine 1915 geborene Tochter im Jahre 1957 zu Protokoll gegeben. Wir wissen zudem, dass der junge Mann im Jahre 1915 geheiratet hat, der Weltkrieg war gerade ein halbes Jahr alt. Der junge Mann arbeitete damals schon als Geigenlehrer, wie dieses zweite Foto zeigt, das von unserem jungen Mann erhalten geblieben und in einem Foto-Atelier in Halle/Saale aufgenommen ist:

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Walter, so hieß der junge Mann, erlebte die Weltwirtschaftskrise, die Machtübernahme der Nationalsozialisten und all das Elend, das darauf folgte. Er starb im Mai 1944 nachmittags halb zwei Uhr zu Hause in seiner Wohnung in Halle an der Saale an Lungentuberkulose. Die schweren Bombenangriffe auf Halle und Leuna, auf Leipzig und Merseburg im April 1945 hat er nicht mehr erleben müssen.
Walter war der Vater meines Vaters, ein Teil meiner Musikalität stammt offensichtlich von ihm.

Gelassenheit. Eine Erinnerung


Der Erfurter Meister Ekkehart (1260-1328) hat das Wort von der Gelassenheit geprägt und die deutsche Sprache um dieses schöne Wort bereichert.
Gemeint ist: Gegründet sein. Seinen Ort gefunden haben, ein-gelassen sein. Verbunden sein mit dem Grund, der alles trägt.
Gelassenheit ist eine rare Tugend in Zeiten wie unseren, die von täglich neuer Aufregung geprägt sind.

Meine Erinnerung geht an einen Ort, an dem Gelassenheit anschaulich geworden ist. Volkenroda bei Meiningen.
1131 wurde jener Ort von ein paar Männern gegründet, die ihrem Zeitgeist widersprochen und Mönche geworden waren – Zisterzienser.
Sie wollten nicht länger vom Ertrag des Zinses, von der Rendite des Geldes, sondern von ihrer Hände Arbeit leben.
Deshalb gründeten sie die Klöster ihrer Lebensgemeinschaft abseits von den aufstrebenden Städten, in denen die reichen Händler lebten; weit draußen auf dem Lande, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Jene Orte des Protestes gegen den Zeitgeist wurden jedoch über die Jahrhunderte Stätten der Kultur, der Gelassenheit, der Gesundheit.
Denn die Wurzeln, die sie tief in die Erde trieben und die Äste, die sie dem Himmel entgegenstreckten waren so kräftig und gesund, daß über die Jahrhunderte hinweg Menschen in ihnen Orientierung und Halt fanden.
Die Menschen kamen und suchten diese besonderen Orte auf. Denn es waren Kraft-Orte. Orte der Orientierung in orientierungsloser Zeit.
Orte der Verwurzelung in einer entwurzelten Gesellschaft.
Orte, an denen Gelassenheit erfahrbar wurde.

Thomas Müntzer hat 1525 mit seinen kriegerischen Bauern jenen alten Ort weitgehend zerstört.
Alle Versuche, den Ort wieder herzurichten, blieben erfolglos.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Ort praktisch nur noch eine vermüllte Ruine.

Heute jedoch, zwanzig Jahre später, lebt der Ort, der auf der EXPO 2000, der Weltausstellung, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenkte.
Denn auf der EXPO wurde jener „Christus-Pavillon“ zum ersten mal gezeigt, der nun in Volkenroda neben der alten Kirche der Zisterzienser ein Zentrum der ganzen Anlage geworden ist.
Gelassenheit.
An diesem Ort kann man sie finden.
Der Ort selbst spricht mit seiner Geschichte das Wort aus.

1000jährige Eiche in Volkenroda/Thüringen

In Volkenroda fand ich heute am Morgen auch einen alten Baum.
Etwa 1000 Jahre alt ist er.
Auch er ein Zeichen von tief gegründeter Gelassenheit.

Ich war an jenen Ort gekommen, weil mich jemand eingeladen hatte. Dr. Schoedl, den Leiter des europäischen Jugendbegegnungszentrums Volkenroda hatte ich bei einer Gesprächsrunde im Mitteldeutschen Rundfunk kennen gelernt. Wir sprachen damals über die Stille. Über unsere schnelle, laute und oftmals krankmachende Gesellschaft; wir dachten nach über die Not-Wendigkeit, in aller Hektik und Betriebsamkeit die Orientierung und vor allem, eine gute Verwurzelung zu behalten. Zuviele Entwurzelte leben in unserer Gesellschaft, die sich immer schneller nur noch um sich selber dreht.

Nun kamen da vier zusammen an jenem Ort in Thüringen: der Computerfachmann und Fotograf Markus Spingler, der mit wundervollen schwarz-weiß Fotografien und einfühlsamen Texten dem Thema „Stille“ nachspürt.
Der Saxophonist Rainer Schwander und der Gitarrist Bernhard von der Goltz, die beide seit über dreißig Jahren der Musik nachspüren, jener Brückenbauerin zwischen Himmel und Erde. Wer den Jan Garbarek einmal gehört hat, der hat eine Vorstellung, wie das Sopransaxophon von Rainer Schwander im abendlichen Pavillon in Volkenroda gestern geklungen hat.

Ich hatte ein paar Texte mitgebracht, die vom Hören sprechen, von der Not-Wendigkeit einer wirklichen Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Einen Text hatte ich auch, der handelt von der Musik, vom „sound of silence“, den nicht nur Simon&Garfunkel kannten.
Und siehe da: es fügte sich ein wundervoller Abend in uraltem Gelände.
Männer, die sich nie vorher gesehen, geschweige denn, je etwas gemeinsam gemacht hatten, fügten ihre Arbeiten zu einem sehr schönen Ganzen zusammen: Bild, Wort, Musik.
Und: sie „verstanden“ sich.
Jeder in seiner Sprache, in der Sprache der Musik, des Bildes, des Wortes – und doch sprachen wir von gemeinsamer Erfahrung.

Spät noch am Abend standen wir draußen im Hof der alten Klosteranlage bei einem Gläschen Rotwein und spürten dem nach, was da gerade geschehen war:
eine Erfahrung von Gelassenheit.

Das wird bleiben: die Erinnerung
an  denkwürdigen Ort, der scheinbar hoffnungslos verlassen war – und doch neu aufgeblüht ist.
Die Erinnerung an den Baum – der so viel mehr gesehen hat als eine Menschengeneration sehen kann.
Die Erinnerung an die Klänge des Abends und die Bilder, die eine Brücke schaffen zwischen Himmel und Erde.

Ein guter Ort.
Uralt.
Gut verwurzelt.
Ein Ort der Gelassenheit.

Berliner Philharmoniker und Richard Strauss – etwas zum Thema „Kunst und Nationalsozialismus“.


Vor einigen Tagen hatte ich hier im blog auf ein Programm der Berliner Philharmoniker hingewiesen, das zumindest Fragen zulässt. Es ging zunächst um einen Text von Susanne Stähr im begleitenden Programmheft, aber eben auch um die Frage, ob, und wenn ja, unter welchen Umständen ein ausschließlicher Strauss-Abend veranstaltet werden kann. Anlass war ein Konzert unter der Leitung von Christian Thielemann am 5. Mai diesen Jahres, das ein ausschließliches Richard-Strauss-Programm bot.
Bei der Beschäftigung mit diesem nicht unsensiblen Thema „Kunst und Politik“ insbesondere dem Kapitel „Kunst und Nationalsozialismus“ bin ich nun auf einen Text von Frau Stähr über Richard Strauss gestoßen, den ich wichtig und gut finde, weshalb ich ihn hier im blog zur Verfügung stelle.
Er ist 2008 im Programmheft zur Oper „Daphne“, das die Hamburgische Staatsoper herausgegeben hat, erschienen. Interessant ist auch die 2007 veröffentlichte zweibändige Geschichte der Berliner Philharmoniker „Orchester mit Variationen“ (Henschel-Verlag), für das Frau Stähr die Kapitel 1892-1945 und 1954 – 1989 geschrieben hat. Sie hat darin auch die Verstrickungen in der Nazi-Zeit behandelt.

Hier nun ihr Text zu Richard Strauss aus dem Jahre 2008:

„Das hat mit Politik nichts zu tun“
Richard Strauss und der Pakt mit dem Dritten Reich

Zu den Vorzügen des Musikdramatikers Richard Strauss gehört ohne Frage sein sicheres Gespür für die literarische Qualität der Textbücher, die er vertonte, und auch sein Instinkt für den theatralischen Effekt. Maßstabsetzend wirkte vor allem seine Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal, die im Jahr 1906 ihren Anfang nahm. „Ihre Art entspricht so sehr der meinen, wir sind füreinander geboren und werden sicher Schönes leisten, wenn Sie mir treu bleiben“, schrieb Strauss an den Autor, nur kurz nachdem sie sich in Berlin begegnet waren, um das Konzept einer „Elektra“ ins Visier zu nehmen. Die Hoffnungen, die der Komponist damals hegte, sollten sogar noch übertroffen werden: Mit sechs gemeinsamen Werken gelang es dem Duo, das Opernrepertoire dauerhaft zu bereichern – der „Rosenkavalier“ entwickelte sich nachgerade zu einem der „Greatest Hits“ auf den Spielplänen. „Treu“ blieb Hofmannsthal dem Tondichter ohnehin, denn erst sein Tod setzte 1929 der beglückenden schöpferischen Allianz ein jähes Ende. So schmerzlich für Strauss der Verlust des langjährigen Weggefährten auch war: mit dem Romancier Stefan Zweig fand er einen ebenbürtigen Nachfolger, der nicht nur mit Straussens berüchtigtem Temperament und seiner unverblümten Direktheit umzugehen vermochte, sondern der ihm mit der „Schweigsamen Frau“ ein Libretto lieferte, das ganz nach dem Gusto des Komponisten ausfiel. Zweigs Vorlage sei „der beste Text, der auf dem Gebiet der Opéra comique seit dem Figaro geschaffen worden ist“, urteilte Strauss und bekannte: „Die Composition keiner meiner früheren Opern fiel […] so leicht und hat mir solch unbeschwertes Vergnügen bereitet.“

Wie harsch lesen sich dagegen die Worte, die Richard Strauss seinem letzten Librettisten, dem Wiener Theaterhistoriker Joseph Gregor, zugedacht hat, dem Verfasser der „Daphne“. Je öfter er das Textbuch lese, desto weniger gefalle es ihm, vermerkte Strauss am 25. September 1935: „Es ist ein völliges Nacheinander, keine Spur von irgend einer Schürzung des dramatischen Knotens“, mäkelte er und forderte: „Theater und keine Literatur!“ In der Wortwahl gab er sich bei seiner Kritik keineswegs zimperlich: „Schulmeisterliche Weltanschauungsbanalitäten“ wollte Strauss in dem Buch erkennen oder einen „nicht immer glücklich imitierten Homerjargon“. Auch der Tonfall, den er wählte, war denkbar schroff gehalten und ließ jede Höflichkeit vermissen: „Vielleicht haben Sie die Güte, bis wir uns aussprechen, […] Änderungen vorzunehmen“, heißt es da zum Beispiel, oder gar im Befehlston: „bitte dringend zu beachten!“ Ein einziges Mal hat der devote Gregor gegenüber dem „hochverehrten, lieben Herrn Doktor“, wie er Strauss in seinen Briefen bis zuletzt nennt, gegen die Vorhaltungen aufbegehrt – und wurde gleich doppelt bestraft: „Es tut mir natürlich leid, daß ich Ihnen weh getan habe“, beschwichtigte der Komponist in seiner Antwort zunächst, um gleich darauf die Peitsche wieder hervorzuholen: „aber auch die Säge des Chirurgen schmerzt, wenn sie ohne Narkose arbeitet. Darum lassen Sie es [sich] nicht verdrießen, wenn ich Ihre Daphne in der jetzigen Form für unbrauchbar, vor allem für untheatralisch und kein Publikum der Welt interessierend halte.“ Mehrfach hat Joseph Gregor den „Daphne“-Text grundlegend revidieren müssen, bis Strauss das „kindliche Philologenmärchen“, wie er das Libretto despektierlich nannte, schließlich akzeptieren wollte. Nicht minder schwierig gestaltete sich die Kooperation bei dem Einakter „Friedenstag“ und der „Liebe der Danae“. Ein viertes geplantes Projekt, die Konversationsoper „Capriccio“, die Gregor zunächst skizziert hatte, wurde ihm vom Komponisten 1939 sogar gänzlich entzogen – lieber realisierte er die Szenenfolge in gemeinsamer Heimarbeit mit dem Dirigenten Clemens Krauss. Die Verbindung zwischen Strauss und Gregor hatte sich endgültig als Mesalliance entpuppt.

Richard Strauss sei ein Opfer der Zeitläufte geworden, der Nazidiktatur, begründen seine Verteidiger diesen „Missgriff“ und betonen, wie gerne der Komponist weiter mit Stefan Zweig gearbeitet hätte. Mutig sei es doch gewesen, dass Strauss an seinem jüdischen Librettisten festgehalten und noch bis zur Uraufführung der „Schweigsamen Frau“ am 24. Juni 1935 in Dresden alle Versuche der braunen Machthaber abgewehrt habe, Zweigs Namen von den Plakaten und dem Besetzungszettel zu tilgen. Diese Standhaftigkeit ist Strauss in der Tat hoch anzurechnen, doch wäre es falsch, daraus den Schluss zu ziehen, Strauss habe gegen die „Rassenpolitik“ opponieren und ein Zeichen des Widerstands setzen wollen. Die Motive, die ihn bei seinen Entscheidungen beflügelten, waren selten grundsätzlicher und schon gar nicht politischer Natur; sein subjektives Empfinden und sein persönlicher Nutzen bildeten vielmehr das Zentrum seines Weltbilds und leiteten ihn in seinem Urteil, in seinen Taten. Die Rolle, die Strauss im Dritten Reich spielte, war entsprechend ambivalent, um nicht zu sagen: sie erscheint suspekt.

Wer Straussens Verhalten unter der NS-Herrschaft verstehen will, muss weiter zurückgehen: in die zwanziger Jahre, in die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs droht ihm der Nimbus, einer der führenden Köpfe im deutschen Musikleben zu sein, abhanden zu kommen. Fast ausschließlich Lieder sind es, die er nach seiner Oper „Die Frau ohne Schatten“ zunächst komponiert – ein Genre, mit dem er die breite öffentliche Aufmerksamkeit aber schwerlich erreichen kann. Als Kodirektor der Wiener Staatsoper sieht er sich wachsender Kritik ausgesetzt, weil er zu selten anwesend sei und lieber lukrative Gastverpflichtungen wahrnehme, als am eigenen Hause zu dirigieren: Strauss wird 1924 zum Rückzug genötigt, und das, obwohl seine Erwartung, an der Berliner Staatsoper wieder eine leitende Rolle spielen zu können, sich ebenfalls zerschlagen hat. Zu allem Überfluss wird publik, dass der geschäftstüchtige Strauss während der galoppierenden Inflation darauf bestanden hat, seine Gage in US-Dollar ausgezahlt zu bekommen; die Honorarhöhe, die er als Dirigent für sich nach wie vor reklamiert, tut ein Übriges, um den Ruf der Geldgier zu befestigen. Dass Strauss sich überdies in der Zeit der schwersten ökonomischen Depression eine pompöse Villa in Wien errichten lässt – das „Strauss-Schlössl“ heißt sie im Volksmund –, nährt obendrein den Verdacht, er sei ein gesinnungsloser Spekulant, der versucht habe, aus der Geldentwertung materiellen Nutzen zu ziehen. Negative Pressestimmen mehren sich, die Politszene der jungen Weimarer Republik zeigt wenig Interesse an dem einstigen Vorzeigekünstler des Kaiserreichs, und die neuen Musiktheaterwerke, die Strauss schließlich komponiert, das „Intermezzo“ und die „Ägyptische Helena“, erreichen bei weitem nicht den Erfolg und die Aufführungszahlen seiner Vorkriegsopern. Ende der zwanziger Jahre kommt er um die Erkenntnis nicht mehr herum, dass die Öffentlichkeit ihn inzwischen als alternden Komponisten wahrnimmt, der seinen Zenit längst überschritten habe: ein Mann von Gestern. Er kompensiert diese Demütigung mit einer Radikalisierung seiner politischen Haltung, wie Harry Graf Kessler berichtet, der schon 1928 Zeuge wurde, als Strauss die Notwendigkeit einer Diktatur propagierte.

„Ich habe aus Berlin große Eindrücke mitgebracht und gute Hoffnung für die Zukunft der deutschen Kunst“, urteilte Strauss am 29. März 1933 in einem Brief an seinen Verleger Anton Kippenberg, zwei Monate, nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Seinen persönlichen „Sündenfall“ hatte er da schon vollbracht. Am 15. März nämlich hatte die NS-Führung über den Dirigenten Bruno Walter ein Auftrittsverbot verhängt – mit diesem denkbar prominenten Casus wollte man offenbar ein Exempel gegen jüdische Künstler statuieren. Für Walters Konzert mit den Berliner Philharmonikern am 20. des Monats fand sich jedoch nicht so leicht ein ebenbürtiger Ersatz: Wilhelm Furtwängler stand als Einspringer nicht zur Verfügung, und auch Richard Strauss, der gerade an der Staatsoper „Elektra“ dirigierte, lehnte zunächst kategorisch ab. Als ihm indes zu Ohren kam, dass es die neue Reichsregierung sei, die sein Dirigat erbitte, revidierte er sogleich seine Entscheidung – und sagte zu. Damit freilich lieferte er den NS-Ideologen den gewünschten Beleg für die These, dass sich jeder jüdische Künstler, und sei er noch so beliebt und berühmt, problemlos durch einen deutschen Kollegen ersetzen lasse. Ob Strauss sich gefreut hat, dass ihn der „Völkische Beobachter“ daraufhin postwendend feierte? „Dr. Strauss hat […] das Konzert als einen Gruß an das neue Deutschland nur unter der Bedingung übernommen, daß das für Herrn Bruno Walter ausgesetzte Honorar restlos dem Orchester zufließe“, vermeldete das Blatt. Bereut hat Strauss seine Anbiederei und mangelnde Loyalität jedenfalls auch später nicht. Als ihn Stefan Zweig im Juni 1935 auf sein politisches Engagement in Nazideutschland anspricht, scheut sich der Komponist nicht, mit antisemitischem Unterton zu replizieren: „Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich politisch so weit vorgetreten bin? Weil ich für den schmierigen Lauselumpen Bruno Walter ein Concert dirigiert habe?“

Strauss war in geradezu egomanischer Weise auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Bruno Walter, der in Salzburg triumphierte und ihm dort längst den Rang abgelaufen hatte, war ihm ein Dorn im Auge. Deshalb erschien ihm das Einspringen für den verfolgten Kollegen auch nicht als unsolidarisch; aus seinem subjektiven Blickwinkel heraus dürfte er es für durchaus geboten gehalten haben. Arturo Toscanini empfand er ebenfalls als lästigen Rivalen – und übernahm nur allzu gerne für ihn die Stabführung, als der Italiener Ende Mai 1933 seine Mitwirkung bei den Bayreuther Festspielen absagte, aus Protest gegen Hitler. Es habe sich bei diesem Schritt allein um seine „bescheidene Hilfe für Bayreuth“ gehandelt, rechtfertigte sich Strauss zwei Jahre später in dem bereits zitierten Brief an Stefan Zweig: „Das hat mit Politik nichts zu tun. Wie es die Schmierantenpresse auslegt, geht mich nichts an.“

Umgekehrt suchte Strauss die Gunst jener zu erlangen, deren Stunde geschlagen zu haben schien. Wie etwa Hans Knappertsbusch, der aus seiner nationalistischen Gesinnung keinen Hehl machte und als Favorit des NS-Ideologen Alfred Rosenberg galt. Seit 1922 amtierte Knappertsbusch – übrigens in der Nachfolge Bruno Walters – als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper; dass sein Wort in den kommenden Jahren noch höheres Gewicht erhalten würde, schien für Strauss auf der Hand zu liegen, und er intensivierte den freundschaftlichen Austausch. Als nun Thomas Mann im Februar 1933 seinen Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ an der Münchner Universität öffentlich vortrug und die Nazis diesen Auftritt zum Vorwand nahmen, gegen den Literaturnobelpreisträger zu agitieren, verfasste Knappertsbusch einen „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“, der Mitte April in den Münchner Neuesten Nachrichten veröffentlicht wurde. Dass es Knappertsbusch gelungen war, das gesamte Solistenensemble der Bayerischen Staatsoper zur Unterzeichnung dieser „Protestnote“ zu bewegen, mag im Abhängigkeitsverhältnis der Mitarbeiter zu ihrem Chef begründet liegen. Dass aber auch Richard Strauss, fast siebzig Jahre alt, hochgeehrt, vermögend und auf Knappertsbuschs Wohlwollen nicht eigentlich angewiesen, seine Unterschrift unter das Dokument setzte, ist schwer verständlich, zumal er den Wortlaut des Aufsatzes von Thomas Mann gar nicht kannte. Allein die Aussicht, Knappertsbusch für sich einnehmen und dadurch eine höhere Aufführungsfrequenz seiner Werke erwirken zu können, dürfte ihn in seinem Handeln bestärkt haben. Für Thomas Mann aber blieb nach der Publikation des Schmähtexts nur noch der Weg ins Exil.

Mit dem Dreisatz seiner Aktionen gegen Bruno Walter, Arturo Toscanini und Thomas Mann hatte Richard Strauss seinem Ansehen im Ausland (und in allen nicht gleichgeschalteten Kreisen Deutschlands) erhebliche Schrammen zugefügt. Im Urteil der Nazis hingegen hatte er sich genau damit für höhere Weihen qualifiziert: Am 10. November 1933 erhielt er ein Telegramm von Joseph Goebbels mit dem Angebot, die Präsidentschaft der gerade neu gegründeten Reichsmusikkammer (RMK) zu übernehmen. Strauss, der glaubte, mit diesem Amt werde seine Stellung als bedeutendster deutscher Komponist nach Wagner endlich gebührend gewürdigt, sagte zu – und er wurde zum hochrangigen Funktionär des Systems. Er sah in der neuen Position die Chance, dem deutschen Musikleben jene alte „Größe“ zurückzubringen, die es in der Weimarer Zeit eingebüßt habe: Die Unterhaltungsmusik und namentlich der „Wiener Operettenschund“ müsse dezimiert, der Anteil ernster deutscher Musik dagegen gesteigert werden, und die Werke der großen Meister seien vor jeder Zerstückelung zu bewahren, forderte er. Chöre und Orchester müssten vergrößert, die Ausstattungsetats verbessert werden, und wenn das Geld nicht reiche, so sei eben an eine Erhöhung der Subventionen zu denken. Mit diesen Postulaten entsprach Strauss indes nicht unbedingt der Parteilinie, vielmehr erhob er allein seine persönlichen Wünsche zur Maxime seiner Politik. Denn Hitler war bekanntermaßen ein Bewunderer der Operetten von Lehár (gegen den sich die „Reformpläne“ von Strauss nicht zuletzt richteten), und Goebbels war nicht im mindesten daran interessiert, alte Zustände aus dem Kaiserreich wiederherzustellen, ihm ging es, ganz im Gegenteil, um die Schaffung einer „nationalsozialistischen Modernität“. Und an eine Anhebung der Zuschüsse für die darbenden Theater dachte weder der eine noch der andere. Gleichwohl ließ man Strauss seine Steckenpferde im Stillen reiten; die eigentliche Politik der Reichsmusikkammer wurde ohnehin vom Geschäftsführer Heinz Ihlert, einem langgedienten Parteigenossen, gestaltet, dem es auch oblag, Strauss zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass er keinen „Schaden“ anrichten konnte.

War alles nur ein Missverständnis? Strauss blieb ein Präsident ohne Wirkung, ohne Gestaltungsmöglichkeiten, er diente der NS-Führung allein als schmuckes Aushängeschild. Wieder waren es seine Eitelkeit und seine Profitgier, die ihn dazu verleitet hatten, sich vereinnahmen zu lassen. Er habe das Amt nur angetreten, um „Gutes zu tun und größeres Unglück zu verhüten“, argumentierte Strauss gegenüber Zweig zu seiner Entlastung. Seine Fürsprecher haben diese Behauptung dankbar aufgegriffen und zum Beleg angeführt, dass er doch die Satzung des „Berufsstands deutscher Komponisten“ niemals paraphiert habe, weil er mit den darin verankerten „rassepolitischen“ Vorstellungen nicht einverstanden gewesen sei. Diese Aussage mag richtig sein, doch muss man entgegenhalten, dass Strauss seine Bedenken niemals öffentlich artikuliert und gegen diese Vorstellungen Einspruch erhoben hat. Im Gegenteil: Bereits die Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz aus dem Jahr 1933, die Strauss bei Amtsantritt vorfand, enthielt einen „Arierparagraphen“; sie hinderte ihn nicht daran, die Präsidentschaft anzunehmen. Und mehr noch, Strauss selbst ließ in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer veröffentlichen: „Nichtarier sind grundsätzlich nicht als geeignete Träger und Verwalter deutschen Kulturguts anzusehen. Berlin, am 23. April 1934, Der Präsident.“ Wusste Strauss nicht, was er da sanktioniert hatte? Gänzlich diskreditiert hat er sich im spektakulären „Fall Hindemith“: Nachdem Wilhelm Furtwängler, der in einem flammenden Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung eine Lanze für den verfemten Paul Hindemith gebrochen hatte, von seinen Ämtern als Staatsoperndirektor und Chef der Berliner Philharmoniker suspendiert worden war, hielt Goebbels am 6. Dezember 1934 eine Brandrede gegen „atonale“ Komponisten – unschwer einzustufen als Replik auf Furtwängler. Richard Strauss telegraphierte daraufhin an Goebbels: „Zur großartigen Kulturrede sende herzlichen Glückwunsch und begeisterte Zustimmung. In treuer Verehrung, Heil Hitler, Richard Strauss.“

Wie immun war Strauss gegen antisemitisches Gedankengut? Als Kind des Jahrgangs 1864 wurde er in eine Gesellschaft geboren, in der judenfeindliche Äußerungen weit verbreitet waren: Richard Wagners Schrift „Über das Judentum in der Musik“, die er 1850 verfasste und 1869 in Buchform veröffentlichte, bildet ein prominentes Beispiel. Auch im Elternhaus von Strauss standen abfällige Bemerkungen gegenüber Juden auf der Tagesordnung; sie richteten sich namentlich gegen Hermann Levi, ab 1872 GMD und Hofkapellmeister des Königlichen Hof- und Nationaltheaters in München, den „Chef“ von Richards Vater Franz Strauss, der als Solohornist in Reihen des Orchesters wirkte. „Du eilst ja wie ein Jude“, soll Franz Strauss den Sohn angeherrscht haben, wenn er als Schüler das Tempo nicht halten konnte. Dass in den Briefen des jungen Richard Strauss immer wieder ein antisemitischer Zungenschlag auffällt, kann deshalb nicht verwundern. „Bis auf die arg vielen Juden ist Frankfurt ein reines Paradies“, schreibt er etwa 1885 aus der Mainmetropole; „Schund von einem Juden“, bemerkt er über ein Scherzo von Karl Goldmark, einen „jüdischen Schlamperer“ nennt er einen Pianisten, den er 1878 zu hören bekommt. Im Verlaufe seines Lebens jedoch verliert sein Antisemitismus das Gewicht einer grundsätzlichen, geschlossenen Überzeugung, er wird nur noch als verstärkende Begründung herbeizitiert, wenn Strauss eine bestimmte Person jüdischer Abkunft nicht leiden mag: wie etwa Bruno Walter oder den Musikwissenschaftler Paul Bekker, den Strauss noch 1948 als „israelitischen Schreiber“ bezeichnet.

Diese relative „Milderung“ seines antisemitischen Weltbildes, wenn man die Akzentverschiebung so nennen darf, hatte nicht zuletzt mit der Entwicklung seiner familiären Situation zu tun: 1924 heiratete sein einziger Sohn Franz die Pragerin Alice von Grab, die aus einer jüdischen Industriellenfamilie stammte. Nach nationalsozialistischen Begriffen galten die beiden Enkel Richard und Christian, an denen Strauss mit Liebe und Stolz hing, als Halbjuden, und er war stets in Sorge, dass sie Opfer der Drangsalierungsmaßnahmen werden könnten. Als Strauss erfuhr, dass diverse Verwandte seiner Schwiegertochter interniert worden waren, versuchte er sogar, bei der Prager SS zu intervenieren und fuhr persönlich nach Theresienstadt, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Einlass in das Konzentrationslager erhielt er, wie sich denken lässt, allerdings nicht, und auch ein Bittbrief, den er an Baldur von Schirach, den Reichsstatthalter in Wien, richtete, konnte Rettung nicht bringen: 25 Angehörige von Alice Strauss wurden im Zuge des Genozids ermordet. Strauss war die terroristische und verbrecherische Dimension des NS-Systems also sehr wohl bekannt – offen Einspruch erhoben gegen die Verfolgung und Diskriminierung der Juden hat er jedoch nicht.

Immerhin gewährte er einzelnen, ausgewählten Juden weiter seine Unterstützung, auch als dies gegenüber der braunen Obrigkeit längst nicht mehr opportun erscheinen konnte. Den markantesten Fall stellt ohne Frage sein Eintreten für Stefan Zweig dar: Die Zusammenarbeit mit dem Autor war für Strauss so essentiell, dass er sogar in Erwägung zog, den österreichischen Dichter „inkognito“, heimlich und verborgen, weiterhin als Librettisten zu beschäftigen, auch wenn dies der Direktive von Goebbels zuwiderlaufen würde. Dabei hatte er allerdings nicht mit der Standhaftigkeit von Zweig gerechnet, dem Straussens Konzessionen an die Machthaber „in höchstem Maße peinlich“ waren und der lieber auf die Aufträge verzichtete als sich zu kompromittieren. Nachdem Zweig abermals seine Bedenken gegenüber der politischen Karriere des Komponisten geäußert hatte, verfasste Strauss seinen berühmten Brief vom 17. Juni 1935: „Dieser jüdische Eigensinn! […] Dieser Rassestolz, dieses Solidaritätsgefühl – da fühle sogar ich einen Unterschied!“, wettert er zunächst gegen Zweigs Vorhaltungen, um sich gleich darauf ins bessere Licht zu rücken: „Glauben Sie, daß ich jemals aus dem Gedanken, daß ich Germane (vielleicht, qui le sait) bin, bei irgend einer Handlung mich habe leiten lassen? Glauben Sie, daß Mozart bewußt ‚arisch’ komponiert hat? Für mich gibt es nur zwei Kategorien Menschen; solche die Talent haben und solche die keins haben, und für mich existiert das Volk erst in dem Moment, wo es Publikum wird. Ob dasselbe aus Chinesen, Oberbayern, Neuseeländern oder Berlinern besteht, ist mir ganz gleichgültig, wenn die Leute nur den vollen Kassenpreis bezahlt haben. […] Daß ich den Präsidenten der Reichsmusikkammer mime? […] Unter jeder Regierung hätte ich dieses ärgerreiche Ehrenamt angenommen, aber weder Kaiser Wilhelm noch Herr Rathenau haben es mir angeboten. Also seien Sie brav, vergessen Sie auf ein paar Wochen die Herren Moses und die anderen Apostel und arbeiten Sie nur Ihre zwei Einakter …“ (gemeint sind „Friedenstag“ und „Daphne“).

Der Brief, den Strauss an Stefan Zweigs Züricher Adresse richtete, wird von der Gestapo in Dresden abgefangen, wo sich der Komponist zu den Schlussproben der Uraufführung seiner „Schweigsamen Frau“ aufhält. Am 1. Juli, eine Woche nach der Premiere, erhält Hitler Kenntnis von dem Wortlaut: Umgehend wird „Die schweigsame Frau“ verboten, Strauss wird zum Verzicht auf die Präsidentschaft der Reichsmusikkammer gezwungen und muss am 6. Juli „aus gesundheitlichen Gründen“ um Entlassung bitten. Doch hat er nichts Besseres zu tun, als sich gleich darauf mit einem einschmeichelnden Brief bei Hitler in Erinnerung zu bringen – in der Hoffnung, das Geschehene vergessen zu machen: „Mein Führer! […] ich gebe gerne zu, daß der Inhalt dieses Briefes ohne Erklärung aus dem Zusammenhang gerissen ist und daher missdeutet werden kann […] Leider hat man es mir gegenüber unterlassen, mir Gelegenheit zu irgendeiner Form der unmittelbaren persönlichen Erklärung über Sinn, Inhalt und Bedeutung dieses Briefes zu geben, der in einem Augenblick der Verstimmung gegen Stefan Zweig, selbst ohne weitere Überlegung rasch hingeworfen wurde. Ich brauche […] nicht zu beteuern, daß dieser Brief und alles, was an improvisierten Sätzen er birgt, nicht irgendeine weltanschauliche oder auch für meine wahre Gesinnung charakteristische Darlegung bedeutet.“ Strauss bittet „Sie, mein Führer, ergebenst“ um Aussprache – doch Hitler schweigt. Eine Antwort wird Strauss niemals erhalten.

Von weiteren Repressionen jedoch bleibt er auch verschont. Man arrangiert sich in den kommenden zehn Jahren des Dritten Reiches. Strauss dient weiter dem System, indem er die Präsidentschaft des „Ständigen Rats für internationale Zusammenarbeit der Komponisten“ übernimmt, einer Organisation, die in Nazideutschland die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) ersetzte. Er sucht den Ruhm des Reiches durch Gastspielreisen im Ausland zu mehren, er dirigiert auf dem Reichsmusiktag, als Komponist stützt er die Propaganda mit einer „Olympischen Hymne“ und die außenpolitischen Bemühungen der Regierung mit der „Japanischen Festmusik“ zum 2600-jährigen Bestehen des Kaiserreichs. Auch vor persönlichen Huldigungen schreckt er nicht zurück: Als der Kreisleiter von Garmisch im Herbst 1943 anordnet, Strauss möge in seiner geräumigen Villa eine ausgebombte Münchner Familie aufnehmen, wehrt er sich mit Händen und Füßen und schaltet schließlich einen der ihm gewogenen Granden aus dem NS-Establishment ein, um die Einquartierung zu verhindern: Hans Frank, den Generalgouverneur im besetzten Polen. Dank dessen Fürsprache gelingt es, die betroffene Familie in einem Nebengebäude unterzubringen, und Strauss bedankt sich artig mit der Komposition eines Kanons, zu dem er selbst den Text dichtet: „Wer tritt herein so fesch und schlank? / Es ist der Freund Minister Frank. / Wie Lohengrin von Gott gesandt, / hat Unheil er von uns gewandt. / Drum ruf ich Lob und tausend Dank / dem lieben Freund Minister Frank!“ Welch grotesker Begriff von „Unheil“! Hans Frank, Widmungsträger dieser Verse, wurde nicht zufällig „der Schlächter von Polen“ genannt; in seinem Machtbereich befanden sich die vier Vernichtungslager Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek, er war mitverantwortlich für den millionenfachen Mord an Europas Juden und wurde im Zuge der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt.

Es blieb ein Ende in Tränen. Deutschland lag in Trümmern. Das Nationaltheater, in dem sein Vater vier Jahrzehnte musiziert hatte; die Berliner Lindenoper, seine Wirkungsstätte als Preußischer Hofkapellmeister; die Dresdner Semperoper, wo die meisten seiner Opern uraufgeführt wurden: sie alle ragten nur noch als brandgeschwärzte Ruinen in den Himmel. Strauss klagte: „Mein Lebenswerk ist zerstört, die deutsche Oper kaputt geschlagen, die deutsche Musik in das Inferno der Maschine verbannt, wo ihre gequälte Seele ein armseliges Jammerdasein fristet. Mein liebes schönes Wiener Haus, auf das ich so stolz war, in Schutt und Asche – meine Werke werde ich auf dieser Welt nicht mehr hören und sehen. […] Na, Schwamm drüber! Über Alles!“ Auch über seine eigene Unfähigkeit zu trauern und die wahre Dimension der Katastrophe einzugestehen? Strauss blieb bis zuletzt Gefangener seiner Egozentrik, er lamentierte über sein persönliches Unglück, ohne zu analysieren, wie es dazu kommen konnte. In seiner schriftlichen Hinterlassenschaft stellt er sich nirgends die Frage, ob sein Verhalten wirklich richtig war oder ob er nicht etwas hätte anders machen sollen. Wäre das zu viel verlangt gewesen?

Susanne Stähr

Lieder, Lärm und Lustigkeit – Goebbels bei den Philharmonikern?


Ich schätze die Berliner Philharmoniker sehr. Sie gehören zu den weltbesten Orchestern. Deshalb bin ich regelmäßig bei ihnen zum Konzert.
Heute allerdings komme ich nachdenklich nach Hause. Heute gab es Richard Strauss. Den ganzen Abend. Das Orchester zeigte, was es musikalisch „drauf“ hat – und glänzte wie gewohnt.
Die Freude wurde allerdings getrübt.
Unter der Überschrift „Lieder, Lärm und Lustigkeit – Ein Strauss für alle Gelegenheiten“ konnte man im Programmheft, für das Susanne Stähr den Einführungstext geschrieben hat Seltsames lesen.
Ich zitiere:
„Gelegenheitswerke haben es nicht leicht, sich im aktiven Konzertrepertoire zu behaupten. Es haftet ihnen der Verdacht an, sie seien nicht für die Ewigkeit, sondern für einen bestimmten Moment entstanden: als tönender Geburtstagsgruß und Einweihungsfanfare, als Huldigungs- oder Dankadresse. Vor allem, wenn der Anlass, der bei der Geburt dieser Stücke Pate stand, im Nachherein einen gewissen Beigeschmack aufweist, wird die vorurteilsfreie Rezeption erschwert. So ist es Richard Strauss mit einigen Kompositionen ergangen, die er während der tausend braunen Jahre zwischen 1933 und 1945 geschaffen hat: Man denke nur an seine Olympische Hymne für die Berliner Spiele 1936 und an die Japanische Festmusik zum 2600-jährigen Bestehen des mit Nazi-Deutschland verbündeten japanischen Kaiserreichs. Auch die Festmusik der Stadt Wien muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Baldur von Schirach, „Reichsjugendführer“ und seit 1941 Statthalter von Wien, hatte 1942 den Beethovenpreis der Stadt Wien neu ausgelobt und mit 10.000 Reichsmark dotiert – ein Propagandainstrument in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht. Als erster Preisträger wurde Richard Strauss ausersehen: Er nahm die Würdigung am 16. Dezember im Wiener Rathaus entgegen und revanchierte sich postwendend für die Ehre mit der Komposition der Festmusik für Blechbläser und Pauken, die er am 9. April 1943 zur Feier des fünften Jahrestags von „Großdeutschland“ mit dem Wiener Trompetenchor uraufführte, als Jubiläumsgabe zum Einmarsch der Nazis in Österreich. So weit die Fakten.
Dass Strauss mit diesem Werk ein politisches Bekenntnis verbunden hätte, wäre indes zu weit gegriffen. Viel eher dürften ihn die Besetzung und die Interpreten interessiert haben…..“

Soweit das Zitat.
Der Text fährt dann fort mit der genaueren musikalischen Besprechung der Werke des Abends.
Nun hat Susanne Stähr einem Foto, das Richard Strauss mit Joseph Goebbels zeigt, immerhin eine Viertel Seite ihres sehr begrenzten Druckplatzes zur Verfügung gestellt, räumt dem Thema „Strauss und die Nazis“ also erhebliche Bedeutung ein.
Zunächst ist es gut, daß Susanne Stähr darauf hinweist, daß Richard Strauss und die Nazis ein durchaus enges Verhältnis hatten: er hat Preise von ihnen angenommen, sie haben seinen Erfolg für ihre Zwecke benutzt. Er hat sich mit Stücken für diese Preise bei ihnen bedankt, sie haben seine Stücke anlässlich von Jahrestagen für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Es ist ein schwieriges Kapitel, das Kapitel über „Nazis und die Künstler“. Denn es gab natürlich nicht nur Künstler, die mit den Nazis kollaborierten, sondern es gab auch Künstler, deren Werke man verbrannte, die ausgewiesen wurden, Publikationsverbot hatten und anderes mehr. Der blog hier ist nicht ausreichend, um das schwierige Verhältnis von Richard Strauss zu den Nazis hinreichend zu beleuchten, er genügt auch nicht, um das umfassendere Kapitel „Die Nazis und die Kunst“ darzustellen.
Aber auf den Abend in der Philharmonie will ich dennoch eingehen.
Denn, so ist zu fragen, wieso hat Susanne Stähr so formuliert, wie sie formuliert hat? War es Nachlässigkeit? Oder Absicht?
Sie schreibt: „Baldur von Schirach…..hatte 1942 den Beethovenpreis….neu ausgelobt….ein Propagandainstrument in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht.“
Sie schreibt das ohne Anführungszeichen. Was soll das heißen: „….in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht“? Teilt sie diese Auffassung der Nazis? Teilt sie sie nicht? Wenn nicht, weshalb dann keine Anführungszeichen, um ihren inneren Abstand zur Denkweise der Nazis deutlich zu machen?
Nachdem sie dargestellt hat, daß sich Strauss mit seiner „Festmusik“ für diesen Preis „postwendend bedankt“ hat, schreibt sie: „Dass Strauss mit diesem Werk ein politisches Bekenntnis verbunden hätte, wäre indes zu weit gegriffen.“
Das behauptet sie, ohne den Satz zu begründen.
Aber genau die Begründung wäre für das internationale Publikum des Abends durchaus interessant gewesen!
Wie kommt sie zu der Vermutung, es handele sich bei jenem Stück nicht um ein politisches Bekenntnis, wo er es doch, ihren eigenen Worten folgend, „postwendend“ als „Dank“ an die Nazis komponiert hat?
Die Sache spielt in den Jahren 1942 und 1943; die Kristallnacht war vorüber, der Krieg kam ins Stocken – allmählich dämmerte etlichen Deutschen, was es mit den Nazis denn wirklich auf sich hatte. Strauss komponierte für die Nazis weiter.
Kein „politisches Bekenntnis“? Mich würden die Gründe für diese Behauptung interessieren. Aber genau diese Gründe verschweigt Susanne Stähr.

Wir haben in der Pause mit anderen Konzertbesuchern darüber gesprochen. Auch sie waren schlicht empört.
Der Begleittext zum Konzert – extra geschrieben für dieses Programm – kommt dermaßen unkritisch und harmlos daher, daß einem die Haare zu Berge stehen. Statt den wenigen Platz zu nutzen, um ihre These wenigstens in Andeutungen zu begründen, druckt sie den Herrn Goebbels ab, wie er mit dem Richard Strauß verhandelt.
Was soll soetwas?

Das ganze steht unter der Überschrift: „Lieder, Lärm und Lustigkeit“ (linke Seite) – direkt gegenüber (rechte Seite) das große Goebbels-Bild.
Gibt es eigentlich eine Redaktion bei den Philharmonikern?
Ich muss sagen, ich bin ärgerlich über solche Nachlässigkeit!
Nun war der ganze Abend Richard Strauss gewidmet – auch das eine Ausnahme in den Konzerten, die sonst Werke verschiedener Künstler zur Aufführung bringen.
Wenn aber der ganze Abend nur einem Komponisten gewidmet ist – der wiederum ein, sagen wir es vorsichtig, „schwieriges Verhältnis“ zu den Nazis pflegte – dann muss man zu diesem Verhältnis eben mehr sagen, als das, was da zu lesen ist!

Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, wie ein Besucher, sagen wir aus Polen oder Israel, dieses Programmheft in die Hand nimmt. Er schlägt es auf, sieht den Goebbels da hocken, wie er mit dem Strauss konferiert und findet die „Erklärung“ des Abends auf der gegenüberliegenden Seite: „Lieder, Lärm und Lustigkeit. Ein Strauss für alle Gelegenheiten.“

Ich finde, soetwas geht nicht, liebe Freunde von der Philharmonie!
Ich wünsche mir ein wenig mehr Sorgfalt!

Anne-Sophie Mutter und die Berliner Philharmoniker in concert


Sie waren großartig.
Sir Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker und Anne-Sophie Mutter.
Auf dem Programm: Gabriel Fauré (1845-1924) Pelléas et Mélisande op. 80; Antonin Dvorak (1841-1904) Violinkonzert a-Moll op. 53 und nach der Pause Robert Schumann (1810-1856) Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61.

Auf dem Weg zur Philharmonie sehen wir schon: Absperrung überall, Polizei, Schutzzäune. Also wieder ein „Staatsgast“. Das ist ziemlich normal in der Berliner Philharmonie. „Wer ist denn da?“ fragt man den Berliner Beamten. „Wieder irgend so ein König“ kann man zu hören kriegen.
Der Konzertsaal ist gefüllt bis auf den letzten Platz. Ich freu mich immer wieder, daß ich vor einiger Zeit meiner Frau ein Abo zum Geburtstag geschenkt habe….
Wir überraschen uns immer selber dadurch, daß wir nie vor dem Konzert ins Programm schauen, sondern uns überraschen lassen, „was der Abend bringt“. Wir sind noch nie enttäuscht worden.
Die Philharmoniker mit Sir Simon Rattle gehören zu den besten Ensembles der Welt.
Und nun also zusätzlich: Anne-Sophie Mutter, die „Ausnahme-Künstlerin“ mit ihrer Violine.
Sie spendet die Gage für ihre Stiftung, die hochbegabte junge Musiker unterstützt. Das bringt ihr weitere Sympathien im Berliner Konzertpublikum.
Sie spielt routiniert. Ein wenig zu routiniert, wie mir scheinen will. Brilliant, energisch.
Je weiter Dvoraks Violinkonzert vorangeht, je mehr Bilder mit Tönen in die Seele gemalt werden – um so intensiver wird das Zusammenspiel zwischen Sir Rattle, Anne-Sophie Mutter und dem Orchester. Es ist wundervoll zu erleben, wie sich die Musiker zu einem gemeinsamen Tun verbinden. Ein neues Kunstwerk entsteht an diesem Abend. Eben diese Interpretation des bekannten Stückes. So wird sie nur an diesem Abend zu hören sein.
Kaum eine Kunst ist so „vergänglich“ wie die Musik: kaum ist der Ton entstanden, verklingt er schon wieder. Kaum ist das erste Motiv erklungen, mischen sich schon die Stimmen und der Fluss der Töne fließt weiter. Deshalb ist jede Aufführung anders. Ich kann Cergiu Celebidache verstehen, wenn er sich gegen Aufnahmen von Konzerten ausgesprochen hat. Man kann ein Konzert nicht „wiederholen“, denn: jedes Mal ist es anders. Nicht nur das notierte Stück, nicht nur der Komponist kommen „zum Gehör“, sondern die Interpreten werden zum Bestandteil des Stückes. Ihre Art, zum Instrument zu werden – das ist es, was ein Konzert so einmalig macht.

Sir Simon Rattle hatte Geburtstag.
Das Berliner Konzertpublikum sang ihm deshalb – völlig überraschend für die vielen internationalen Gäste, das Orchester und vor allem den Dirigenten selbst – ein spontanes „Happy Birthday!“ – kurz, bevor er nach der Pause mit dem Schumann beginnen wollte. Es war eine sehr schöne Geste: Die Berliner mögen ihre Philharmoniker.

Mich haben zwei Stücke besonders berührt: Gabriel Faurés „Pelleas et Méllisande“ op. 80, die Musik zu einer dramatischen „Dreiecks-Beziehung“, die Maurice Maeterlinck auf die Bühne gebracht hat.
Und: das Adagio espressivo aus Schumanns 2. Symphonie.

Ich hab ja schon viel gehört bei den Philharmonikern.
Aber das, was sie da gestern gezaubert haben, war etwas sehr sehr Besonderes.
Es gibt wenige Orchester, die ein Pianissimo so „tupfen“ können wie die Berliner. Völlig zu Recht ist Rattle am Ende des Konzerts u.a. zu den Bläsern und den Kontrabassisten gegangen, um sich bei ihnen zu bedanken.
Das war die Große Schule. Wunderbar.
Schumann hat in jenem Adagio einen musikalischen Gedanken aus Johann Sebastian Bachs „Musikalischem Opfer“ aufgegriffen und spielt mit den Tönen b-a-c-h -. Eine schöne Linie zeichnet sich ab, ein „unsichtbarer Pfad“, an dem diese großen Musiker gleichsam wie „Wächter des Weges“ stehen. Der Pfad der Musik selbst. Musiker haben sich ebenso wie Dichter, Maler und andere Künstler oft als „Wegweiser“ verstanden. Als „Hinweisende“ auf etwas, das „hinter der Musik, hinter der Kunst“ liegt.
Dieses „Größere“ wird manchmal, in seltenen Momenten, wenn die Kunst „gelingt“, hörbar. Es zeigt sich, wenn der Ton verklingt.
Die Andeutung des „Tons hinter dem Ton“, die erscheint, wenn die winzige Pause zwischen den Tönen aufleuchtet.
Cergiu Celebidache hat oft davon gesprochen.

Den Philharmonikern ist gestern – wieder einmal – etwas sehr Besonderes gelungen: sie haben durch ihre transparente, exellent gespielte Aufführung der drei großen Musikstücke dem Hörer einen sehr dezenten, „hingetupften Hinweis“ gegeben auf die große Welt, die hinter den Tönen liegt.
„Musik ist eine Brücke zum Himmel“ haben Dichter gemeint.
Ja, so verhält es sich.
Man konnte es hören.

Klangfarben im Frost…


Die Wintersonnenwende dieses zu Ende gehenden Jahres werde ich wohl lange nicht vergessen. Als „Blutmond“ war Frau Luna am morgen aufgegangen, hatte gar ihre Finsternis gezeigt. Und am Abend, wir waren schon irgendwo im Nirgendwo kurz vor dem Schneehaus, das uns Herberge sein würde für die Feiertage, zeigte sie sich in einer Größe und Pracht am klaren Winterhimmel, wie ich sie noch nie gesehen habe. Das Schneeland leuchtete, Schatten gab Frau Luna, die wir merkwürdigerweise als „den Mond“ bezeichnen. Ein Ton klang über das Land im Frost, wie ich ihn noch nie gehört habe.
Der Klang des Mondes.
In jener Nacht konnte ich ihn hören.

Mit dem Licht kam der Klang.

Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen Farbe und Klang. Die Sprache weiß es. Sie hält Worte dafür bereit:  „Klangfarbe“ und „Farbklang“, „Farbton“ auch. Farben klingen.  Töne lassen sich in Farbtönen ausdrücken. Es ist eine Frage der Schwingung. Denn Farben sind nur schneller schwingende Töne. Der „Sonnenton“ – hinreichend oft oktaviert-, ergibt Orange – die Farbe des Mönchsgewandes im Buddhismus. Joachim-Ernst Berendt hat in seinem Buch „Die Welt ist Klang“ darauf hingewiesen.

Die zarten Gräser im Schnee klingen ebenso. Ganz fein ist ihre Farbe, sehr fein ihr Klang. „Schläft ein Lied in allen Dingen“ wusste Eichendorff. Es ist seltsam, wunderbar, merkwürdig – wie die Dinge ineinander fließen. Klänge in Farben, Farben in Klänge. Der Krach, der uns im Alltag umgibt, überdeckt diesen feinen Zusammenhänge. Man braucht tiefe Stille, um eine Ahnung vom Zusammenhang zwischen Klang und Farbe zu bekommen.

Eine Stille ist gut, wenn selbst die Schritte im frostigen Schnee störend und zu laut wirken. Sie ist tief, wenn sich das feine Sirren im Ohr einstellt, das eintritt, wenn die Schritte still stehen.
„Wenn du auslöschst Sinn und Ton – was hörst du dann?“ fragt ein KOAN im ZEN.
Ein KOAN kann man nicht mit dem Kopf beantworten.
Denn es zielt auf eine Erfahrung, die aus der Praxis kommt.
Aus der Praxis der Sammlung.
Aus der Praxis der geübten Stille.

Wenn ich die Stille betrete, vielleicht genauer: wenn ich in sie eintrete wie in einen großen Raum, dann weitet sich der Horizont. Die Welt wird groß. Im Kleinen kann ich das Große wahrnehmen. In der Stille den Klang. Und Altes klingt ganz neu und frisch.
Wir haben alte Lieder gespielt und gesungen an diesen Feiertagen im Schnee, irgendwo im Nirdendwo in einer kleinen Ferienwohnung in einem winzigen Dörfchen irgendwo zwischen Hamburg und Bremen.
Die Stille hatte uns aufgenommen. Der Mond hatte sein Licht und seinen Klang geschickt zum Beginn dieser Tage. Der Klang wurde intensiver, je mehr wir die Stille an uns heran ließen.
Und dann traten die alten Melodien hinzu. Fünfhundert Jahre alte Lieder, manche noch älter. Lieder von der Weih-Nacht. Menschen haben sie immer wieder gesungen, diese alten Lieder. Von dem feinen Sproß, der auch am abgehauenen Stamm wieder wächst. „Es ist ein Reis entsprungen aus einer Wurzel zart…..“.

Wenn ich das stille Jahr bedenke, das nun hinter mir liegt, die Erlebnisse und Erfahrungen, die es gebracht hat, dann fühle ich mich beschenkt. Viel Überraschendes ist da in meine leere Schale gefallen. Diese leere Schale, die ich am Morgen des Tages dem Leben hinhalte, damit es sie füllen möge.
In dem Maße, wie ich mir nichts vornehme für den Tag, in dem Maße werde ich beschenkt. Es ist eine wundersame Erfahrung.
Mein Leben wird reicher, je weniger ich mir vornehme.
Begegnungen werden überraschend.
Je mehr ich lasse, um so gelassener werde ich.
Meister Ekkehart hat wie kaum ein anderer über dieses schöne Wort nachgedacht. „Gelassenheit“.
Es geht um das sich einlassen auf das, was uns im Tiefsten trägt. „Sitz nehmen“, „sich niederlassen“, „seinen Ort finden“ – dazu führt Gelassenheit, die aus dem Los-Lassen kommt. Es ist seltsam, klingt paradox: je mehr ich loslasse, um so mehr erfahre ich mich als eingebunden, verwurzelt, getragen. Gerade das Los-Lassen führt zur Erfahrung von Sicherheit und Halt.
Gerade das Nicht-Tun, das Nicht-Wollen führt zur Erfahrung großer Intensität, führt zur Erfahrung von sprudelnder Lebendigkeit.

Wir haben Nikolai Gogol gelesen. Erzählungen aus der Sammlung „Abende auf dem Weiler in Dikanka“. Geschichten aus der Ukraine. „Die Nacht vor Weihnachten“.
Und die Bauern kamen vom Ofen wieder herunter, auf den sie sich schon gelegt hatten, um den Winter zu überstehen.
Ihre Lieder klangen wieder.
Und ihre schönen alten Geschichten.

Die Frauen hatte ihre schönsten Farben angelegt. Und die Männer ihre schweren Pelze.

Der Frost klang in jedem Schritt der Pferde, die den Schlitten zogen hinüber ins Dorf, wo man schon von ferne die Lieder hören konnte.

Farben und Klänge mischen sich.
Sehe ich das eine, höre ich das andre.

Der Horizont wird weit.
Das Große zeigt sich im Kleinen.
In der Sprache der Alten hören wir: „und Gott wurde Mensch“.

Am späten Abend des 24. Dezember waren wir in einer Musik. Jaques Brel war unser Wegbegleiter. „Was wäre, wenn es wahr wäre……“ fragt er in einem seiner Lieder.

Was wäre, wenn das wahr wäre: das Große zeigt sich im Kleinen.
Der Klang in der Farbe.

Der Mondklang im Schnee.
„und Gott wurde Mensch“ sagen die Alten.
Ich lausche den alten Worten nach.
Ihre Farben gefallen mir.

Der du die Zeit in Händen hast… – Jochen Klepper (22.3.1903 – 11.12. 1942)


Jochen Klepper gehört zu den am meisten rezipierten Lieddichtern des 20. Jahrhunderts. Der Journalist, Rundfunkredakteur und freie Schriftsteller war seit 1931 mit der Jüdin Hanni Klepper verheiratet.
Klepper starb im Dezember 1942 durch den Freitod gemeinsam mit seiner Frau in Berlin.
Besonders berührend seine Tagebücher von 1932-1942 „Unter dem Schatten deiner Flügel“; berühmt und oft gelesen der Roman „Der Vater“. Die gesammelten Gedichte erschienen 1962 unter dem Titel „Ziel der Zeit“; der Briefwechsel mit seinem Lehrer Rudolf Hermann unter dem Titel „Der du die Zeit in Händen hast“.

Jochen Klepper dichtet 1938 (seit 1935 war er ohne Anstellung, seiner jüdischen Frau wegen), ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, mitten im braunen Berlin:

Die Nacht ist vorgedrungen
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

……

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.

…..

mitten in der finstern Nazizeit, Hitlers „Erfolge“ häuften sich, die Menschen liefen ihm millionenfach nach und bejubelten ihren „Führer“, der sie demnächst ins Verderben führen würde, schreibt Klepper:

Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.

Ich kenne dieses Adventslied seit meinen Kindertagen. Und immer „fasst es mich an“. Johannes Petzold hat es 1939 vertont. Heute steht es in der Sammlung der Lieder aus 1900 Jahren Liedtradition, die wohl zum schönsten Kulturgut überhaupt gehört, dem „Gesangbuch“ für die evangelischen Gemeinden. Ein gewaltiger Reichtum ist darin verborgen. Lieddichtung aus beinahe 2000 Jahren, von frühen Mönchsgesängen bis in die Gegenwart (z.B. das schöne Lied meines Lehrers Klaus-Peter Hertzsch „Vertraut den neuen Wegen“ von 1989, kurz vor dem Fall der Mauer).
Wir haben dieses Lied von Jochen Klepper oft gesungen. Jahr für Jahr. In der Adventszeit.
Während der Diktatur.
Als wir die anderen marschieren sahen und nicht mitmarschierten.
Als die Ausreisewellen durchs Land gingen – Wolf Biermann und andere voran. Als die Menschen in zunehmend großer Zahl dieses Land verlassen wollten, das ihnen doch einen „lichte Zukunft“ versprochen hatte.
Als die Zensur wieder mal zugeschlagen und Dichter und Liedersänger mit Auftrittsverboten belegt hatte sangen wir: „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.“
Ich erinnere mich an einen Abend, als wir Adventslieder sangen und russische Soldaten ihre kaltgefrorenen Nasen an die Scheiben des Zimmers pressten, um einen Blick zu erhaschen von der Adventsstimmung da drinnen. Arme Kerle waren das. Man hatte ihnen gesagt, es sei eine „Auszeichnung“ im Osten an der „Systemgrenze“ „dienen“ zu dürfen – aber man hat sie in den Kasernen gleich in der Nachbarschaft gehalten wie Vieh.
Prügelstrafe inklusive.
„Gott will im Dunkeln wohnen…..“
Jochen Klepper galt uns als Zeuge. Denn er hatte in einer wesentlich härteren, bitteren und unmenschlicheren Gesellschaft leben müssen.
Mitten unter Deutschen.
Mitten unter „anständigen“ Nachbarn, die den jüdischen Nachbarn an den Geheimdienst verpfiffen und ihn so millionenfach ins Lager brachten – oft in den sicheren Tod.

„Gott will im Dunkel wohnen“.
Das ist nichts für zartbesaitete Seelen.
Das ist etwas für politisch wache Menschen, die sehr fein und genau wahrnehmen, was um sie herum geschieht.
Jochen Klepper und seine Frau Hanni haben sich 1942 das Leben genommen. In Berlin.
Ähnlich wie Stefan Zweig im fernen Südamerika.
Und doch klingt dieses stille „Gott will im Dunkel wohnen“ bis in unsere Tage.

„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld….“

Heute früh habe ich ihn wieder gesehen – den Morgenstern.
Ich bin ein wenig gewandert durch den knirschenden Schnee – hier in Berlin, wo Jochen Klepper mit seiner Frau Hanni gelebt, geliebt und gedichtet hat.

Es ist schön, den Morgenstern zu sehen.
Und sich an Jochen Klepper zu erinnern.

Im Advent 2010.