Lesen lernen (7). „Das Kind ist ’schwierig'“

Lesen lernen (7). „Das Kind ist ’schwierig'“

Man hatte mir gesagt, das Kind, das ich nun kennenlernen würde, wäre „schwierig“. Wenn ich dieses Wort höre, werde ich sehr unruhig, weil ich weiß, dass das Wort wie ein Fallbeil wirken kann auf eine Kinderseele. Ich galt auch als „schwierig“. Und ich werde heute noch zornig, wenn ich ein solches Urteil höre, weil meist die Erwachsenen „schwierig“ sind und nicht die Kinder.
Man hätte „alles versucht“, wurde mir gesagt, es sei „der letzte Versuch“, wurde mir gesagt – und „wenn es nichts wird“, dann sei es halt so, dann könne man halt nichts machen.

Ach du meine Güte – was mag da wohl auf mich zukommen?

Kennenlernen also.
Da steht zunächst mal ein freundlich lächelndes Kind in der Tür.
Wir beginnen mit einem fröhlichen „Hallo“ und einem längeren Händedruck, das Kind schaut ganz verwundert, daß ich es nicht gleich loslasse, sondern stattdessen anschaue.
Dann setzen wir uns. Ein Lesebuch liegt auch auf dem Tisch – „das lesen wir gerade“ hatte die Lehrerin noch gemeint, dann hat sie uns beide alleine gelassen. Die Tür ist fest zu und das ist auch gut so, denn ich habe mir vorgenommen, erst einmal sehr aufmerksam und wach dem Kind zuzuhören, denn wenn ein Kind als „schwierig“ gilt, dann hat es meist mindestens einen sehr guten Grund dafür.

Und was ist? Gleich ganz oben auf der Seele, wir sitzen noch keine fünf Minuten beieinander, liegt da der schwere Satz:
„meine Eltern wollen sich trennen“.
Ach, Mist. Das Kind weiß nicht, wohin mit sich. Weiß nicht, was nun werden soll, weiß nicht, wohin es gehört. Das ist in der Tat „schwierig“. Das Kind zeigt wie ein Seismograph, was los ist in der Familie.
Die Lage ist „schwierig“, nicht das Kind.

Ich frage nach, will mir ein Bild machen, in was für einer Welt das Kind lebt. „Erzählst Du mir was von deinem Papa?“ Ja klar, ganz offen, freundlich, überhaupt nicht „schwierig“, offen eben, erzählt mir das Kind, wie es den Papa erlebt. Von Mama erzählt es auch und von den Geschwistern. Die sind älter. „Mama ist immer weg“ höre ich aus den Sätzen heraus und ich höre „die Geschwister haben auch keine Zeit.“
„Du bist oft allein“ fasse ich zusammen. „Ja“ sagt das Kind.

Und dann kommt ein ganz offener Satz auf mich zu, der mich beinahe umwirft wegen seiner Ehrlichkeit, wir kennen uns ja kaum:
„Willst Du wissen, wie lange ich schon alleine bin?“ fragt mich das Kind.
„Seit vier Jahren!“

Da also liegt der Hase beerdigt.
Von wegen „schwierig“.
Das Kind ist in seelischer Not, weil die Erwachsenen nicht klar kommen.

Gelesen haben wir nix in dieser ersten Stunde.
Aber wir haben uns verabredet.
„Schon nächsten Dienstag?“ freut sich das Kind.
„Ja klar, schon nächsten Dienstag! Machs gut! Bis dann!“
„Machs auch gut!“

Und raus ist das Kind. Es wird wiederkommen.
Das ist schon mal ein Anfang. Wir haben uns verabredet. Wir wollen einen Weg zusammen gehen. Ich bin neugierig, wohin er uns führt. Eins weiß ich schon sehr genau, weil ich es fühlen kann: ich werde dieses Kind verteidigen und versuchen, es in Schutz zu nehmen, so gut es geht, wenn irgendwer meint, es sei „schwierig“.

Peter Reuter und Jürgen Fiege. Eine Begegnung

Peter Reuter und Jürgen Fiege. Eine Begegnung

Den Peter Reuter hatte ich vor langen Jahren einmal in die Uckermark zu einer Lesung in den Gutshof Wilsickow eingeladen und erinnere mich noch genau, wie er da vor der Lesung unter den Rosen saß und an seinem Pfeifchen schmauchte. Die Lesung dann im gemütlichen Café gleich nebenan habe ich als „urgemütlich“ in Erinnerung. Seither sind wir im Kontakt, verfolgen unsere Lebenswege, nehmen unsere Arbeiten wahr, sind so eine Art Weg-Gefährten geworden.

Und den Jürgen Fiege, Grafiker seines Zeichens, den kenne ich nun auch schon lange, weil er dermaleinst vor langen Jahren eine schöne Grafik entworfen hat für unser Gartenprojekt, den „Rosengarten Hetzdorf“ in der Uckermark, der schnell sehr weit bekannt wurde, weil wir im Internet viel davon erzählt haben. Persönlich haben wir uns leider bislang noch nicht getroffen, der Jürgen Fiege und ich – aber seine Arbeiten – seine vom ZEN beeinflussten ein-, zwei- vielleicht auch mal dreifarbigen Grafiken, die gefallen mir immer noch. „Tuschespuren“ nennt er das, was er da aufs Papier bringt.

Nun haben die beiden zueinander gefunden und zwei neue Bücher vorgelegt. Der Peter hat geschrieben, der Jürgen hat getuscht. Herausgekommen sind „MU – und andere Geräusche“ (Oktober 2023) und „Reagenzpapier“ (März 2023), beide im Kulturmaschinenverlag Hamburg. Peter Reuter sinnt den Worten nach, die ihm „begegnen“, wie er sagt, die also auf ihn zukommen, in seiner Phantasie auftauchen und sich ihm zeigen und bedacht sein wollen – und Jürgen Fiege erzählt diese Begegnungen auf seine Weise weiter. Es handelt sich also um eine Art Dialog zwischen Wort und Bild. Der Leser wird sofort gefragt: Und du? Was steuerst Du bei? Einen Einfall vielleicht?

Eindrücke kann ich beisteuern. Ich finde, man muß mit „Reagenzpapier“ von hinten anfangen, um sich dem Peter Reuter als Person zu nähern, denn im Kapitel „Von dem, was Leben wirklich ist“ – da wird er als Person erkennbar, da zeigt er sich auf eine verblüffend und auch überraschend klare Weise, da gibt es „wichtige Texte“ zu lesen: vom Verstehen des eigenen Lebens als Teil der großen Natur; vom Singen; vom Geschenk der Rückbesinnung auf das, was gewesen ist und als Schatz bedacht werden will. Der Peter versteckt sich nämlich gerne hinter seinen Kurztexten, die man vielleicht auch als Miniaturen bezeichnen könnte, wie er selber sagt. Satirisch, manchmal sehr komisch (wunderbar der Text über Klaus Kinski im „Mu“), im Stil sicher erkennbar kommt er daher, aber man fragt sich, wenn man nicht mit dem „Reagenzpapier“ im letzten Kapitel beginnt, wer denn der Peter als Person so sein könnte?
Mein Eindruck ist: der tänzelt uns was vor. Wie einer vom Zirkus. „Denkt euch was ihr wollt“ lacht er und tanzt weiter. Tuscht Texte aufs Papier, schnelle Einfälle, im Notizbuch Festgehaltenes. Wie so ein Seismograf auf zwei Beinen steht er da in seinem Garten und schmaucht an seinem Pfeifchen und hält die Worte fest, die auf ihn zukommen und die ihm das Leben sind. Anregend sind diese Miniaturen allemal, am Ende schlägt er nicht selten noch einen Haken, so daß man sich verdutzt fragt, ob man grad den richtigen Text gelesen hat? Und dann, ganz unvermittelt, plötzlich steht da so ein Granit-Text wie das „Gebet der Vereinten Nationen“, das man sich „durchaus unmittelbar“ und „mehr als sofort“, wie Peter schreiben würde, hinter den Spiegel stecken kann.

Peter Reuter denkt den Worten nach und Jürgen Fiege tuscht die Fortsetzungen dazu. Mir fällt mein Lehrer Klaus-Peter Hertzsch ein, der uns in einer seiner überfüllten Vorlesungen beibrachte: „unsere Sprache ist älter als wir. Sie enthält Erfahrungen, die wir als Personen vollumfänglich nicht selbst gemacht haben, sie ist reicher als unsere persönlichen Erfahrungen sind, vielleicht ist sie gar weiser als wir selbst – es ist daher lohnend, den Worten nachzudenken, die unsere Sprache für uns bereit hält. Wir werden reicher dadurch.“

Wir sind also in guter Gesellschaft, wenn wir uns dem anschließen, was die beiden da vorlegen. Dabei scheuen sie die „großen Worte“ keineswegs, da geht es auch um „Frieden“, auch um „Gerechtigkeit“, um großartige Sachverhalte also, aber meist sind es die scheinbar kleinen Alltäglichkeiten, die ein Geheimnis in sich tragen, das erzählt werden will. Der guckt ja sehr genau hin, der Peter Reuter, was da in den Worten steckt und dann schreibt er los – und schon schlägt er wieder einen Haken und lacht hinter der Hecke.

Für mich war eben wegen dieser Beobachtung am Text die Reihenfolge beider Bücher interessant, in der sie erschienen sind, denn Reuter nimmt sich ja selber gern auf die Schippe, wie man so sagt, verflüchtigt sozusagen das, was er gerade aufgeschrieben hat. Und so ist es auch bei den beiden Büchern: erst kam „Reagenzpapier“ im März 2023, mit den „großen Worten“, die bedacht sein wollen und mit dem starken Schlusskapitel „Von dem, was Leben wirklich ist“ – und danach kam „Mu und andere Geräusche“. Da werden die Texte noch kürzer, noch minutiöser, wenn es soetwas bei Texten gibt – da verflüchtigt sich jemand, so ist mein Eindruck, da versteckt er sich wieder, der Peter Reuter und sitzt im Garten unter seiner Buche, die er eines Tages umarmen wird, wie er aufgeschrieben hat und wundert sich über die Welt, die so großartig ist.

Was ich sagen will? Die beiden arbeiten ausgezeichnet zusammen, ergänzen sich prima und ich will beide Bücher dem an Literatur interessierten Menschen (sowas gibts noch trotz alledem und alledem) ans Herz legen. Es ist keine „schnelle Lektüre“, die man mal so runterliest, denn die Sachen, die da geschrieben und gezeichnet sind, wollen erschlossen sein. Aber wenn man von hinten her die Sache aufrollt, dann stehen da plötzlich zwei in die Jahre gekommene fröhliche Herren im Garten, die einem etwas mitzuteilen haben vom Leben und von dem Weg, auf dem Leben gelingen kann. Es lohnt, sie zu besuchen.

Den Peter Reuter findet man zum Beispiel hier. Und der Jürgen Fiege ist auch nicht weit.

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Wer als Lesepate an einer Schule mithilft weiß: da kann immer mal etwas dazwischenkommen. Da kommt beispielsweise der Schüler nicht, weil die Klassenlehrerin krank ist, weil deshalb ein Vertretungslehrer gekommen ist, der aber nicht gleich alle Vereinbarungen wissen kann. Manchmal ist auch das Kind krank und der Informationsfluss ist nicht so, wie er vielleicht sein könnte. Dann sitzt der Lesepate oder die -patin, wartet zunächst auf das Kind, nimmt sich dann ein Buch oder geht eine Runde spazieren, bis die nächste Förderstunde gekommen ist und andere Kinder erwartet werden.

Sowas ist völlig normal und kann immer mal wieder vorkommen, Menschen sind schließlich keine Automaten.

Viel interessanter ist, was inhaltlich geschieht.
In der letzten Förderstunde las das Kind überraschend gut. Das Kind glaubt aber, es könne „das“ nicht. Nun, schauen wir mal nach, ob „das“ stimmt.

Ich hatte ein einfaches Märchen der Gebrüder Grimm mitgebracht. „Das kennen wir schon, das haben wir schon mal gelesen!“ kam gleich der Spontankommentar. „Ja, das weiß ich. Lass uns den Text aber nochmal lesen, dann fällt er uns bestimmt leichter, wir kennen ihn ja schon.“
Das Kind war einverstanden. Ich merkte schnell, daß es keine rechte Orientierung im Getümmel der Schriftzeichen hatte, die Zeilen „verrutschten“, Worte gerieten durcheinander – also musste ein Blatt Papier her, das wir unter die zu lesende Zeile legen konnten. Ah, na siehste, schon ging die Sache viel leichter vonstatten.
Dann war eine zusätzliche kleine Hilfe nützlich: ein spitzer Bleistift, der auf das zu lesende Wort zeigte – auch das verbesserte den Fluss des Lesens wieder um eine weitere Nuance, die Kinderaugen konnten besser fokussieren, um welche Zeichenansammlung, also, um welches „Wort“ es ging.
Für schwierige Worte hatte ich einen „Leseroboter“ vorbereitet: einen gemalten Klingelknopf, auf den das Kind im Notfall drücken konnte – dann las der „Leseroboter“ das schwierige Wort – ich also. Aber, wir brauchten den gar nicht, denn die Sache lief von ganz alleine recht flüssig. Und nach etwa einer Viertelstunde war die Seite gelesen. Aaaaaaber:

Das Kind verstand gar nicht, was es da eigentlich gelesen hatte!
Wir üben das nach jedem gelesenen Satz: „Kannst Du mir sagen, was wir da gerade gelesen haben?“ Kopfschütteln nach jedem Satz. Das Kind wusste reineweg gar nix.
Also erzählte ich den gelesenen Satz nach, damit das Kind mitbekam, wovon überhaupt die Rede ist. Mir dämmerte langsam, was mir eigentlich längst hätte klar sein müssen:

Da ist ein garstiger Graben zwischen a) dem abstrakten Zeichen auf dem Papier b) dem Klang dieser Zeichen und c) dem Umstand, dass diese Zeichen auch noch eine verflixte Bedeutung haben! Ein gewaltiger Graben tut sich da auf, der schwer zu überwinden ist!
Ich musste bei erfahrenen Pädagogen nachfragen, was da eigentlich in einem Kind, das Lesen lernt, vor sich geht.

„Ja, das ist ein großer Graben zwischen Lesen und Verstehen“ bestätigten mir alle Lehrer, mit denen ich darüber sprach. „Du mußt Dir vor allem eines klar machen: wenn das Kind einem relativ fremden Menschen gegenüber (also Dir als Lesepaten) einen Text liest, dann aktualisiert sich in seiner Emotionswelt alles an Enttäuschungs-Erfahrung, was dieses Kind schonmal erlebt hat. Es bekommt Angst, will auf gar keinen Fall „Fehler machen“, es strengt sich richtig an – und kommt unter enormen Stress, es will auf gar keinen Fall hören, was es schon so oft gehört hat: „Du kannst das nicht“; „Du lernst das nie“, „Was soll bloß aus Dir werden, wenn du nicht mal lesen kannst…..“ All das, was ein Kind, das besonders gefördert werden muss, schon hundertmal gehört hat. Wer aber unter solch enormem Stress liest – der kapiert gar nix. – Das Wichtigste ist also: sorge für Entspannung.“

Guter Tipp! „Sorge für Entspannung“. Das lässt sich einrichten. „Hier gibts keine Zensuren“; „hier sind wir nur ganz für uns und können uns Zeit lassen“; „wir können hier ganz einfach und ganz ohne Druck lesen und wenn mal was nicht gleich gelingt, ist das überhaupt gar kein Problem…..“
Und: „Lass das Kind wirklich kurze Sätze lesen. Das gibt ihm Erfolgserlebnisse – diese Erfolgserlebnisse stärken das Selbstvertrauen und helfen, sich weiter mit dem Lesen zu beschäftigen.“

Guter Tipp! „Verwende zunächst wirklich kurze Sätze“.
So lernen wir uns kennen, das Kind und ich.

„Du wirst sehen – irgendwann, keiner weiß den Zeitpunkt genau – wird das Kind auch verstehen, was es da gelesen hat. Hab Geduld!“

Guter Tipp! „Hab Geduld“. Denn die Aufgabe, abstrakte Zeichen mit Klängen zu verbinden und das alles dann auch noch mit einer Bedeutung zu versehen – das ist wirklich eine gewaltige Aufgabe.
Ich spüre, wie mein Respekt vor den Kindern wächst, die sich mit dieser gewaltigen Aufgabe abplagen. Vielleicht kann ich ihnen ja ein wenig Unterstützung geben, wenn es bergauf geht.

Lesen lernen (3). Vergiss Deinen Plan und höre erst mal zu

Lesen lernen (3). Vergiss Deinen Plan und höre erst mal zu

Natürlich überlege ich mir vor der Übungs-Stunde, was ich mit dem Kind in der Lese-Übungs-Stunde machen könnte, um es zu unterstützen. So langsam kann ich ja die Stellen sehen, die einer Unterstützung bedürfen. Also hatte ich mir überlegt, wir könnten mit einem Spiel beginnen: Einsilbige Worte finden, die ich in Großbuchstaben auf ein Blatt schreibe und die wir anschließend gemeinsam lesen. Dann kommen zweisilbige, dreisilbige und so weiter. Während dieser Übung, bei der wir „Einfälle“ suchen, kann das Kind malen, das macht es gern, wenn es aufgeregt ist. Malen entspannt das Kind, das war schon zu bemerken.
„Kannst Du mir einen Baum malen? Den male ich dann aus“.
Ok, ich male also mit dem Bleistift die Umrisse eines Baumes.

Wir sammeln Worte, das Kind malt – und da liegt das „Thema des Tages“ ganz oben auf:

Beginnen wir ganz rechts: “Oh“ sage ich, als das Kind sagt „guck mal“. „Der Baum ist ja ganz schwarz!“ „Das ist ein Gruselbaum“ erfahre ich. „Und was ist das Kleine gleich daneben?“
„Das ist ein Killer. Das ist der Kettensägenmann“.
„Und neben dem Kettensägenmann, was ist das?“
„Das ist ein Kind. Die Haare gehen so hoch, weil er Angst hat. Der macht so: guck mal“ – und das Kind schließt die Augen und öffnet den Mund ganz weit und sagt dann: „wie bei einem Totenkopf, guck mal, so“ – und malt ganz links in das Bild einen Kopf mit zwei Kreuz-Augen und einem großen Mund – „wie bei einem Totenkopf“.
„Das ist aber ganz schön gruslig“ sage ich. Der große Gruselbaum und der Kettensägemann und das Kind mit der großen Angst – ist auf dem Bild vielleicht auch ein Vogel oder eine Blume?“

„Na gut“ sagt das Kind und malt einen blauen Vogel und eine blaue Blume und erklärt mir dann: „die Blume, die schreit – die ist ein Mensch und eine Blume – alles gleichzeitig. Aber die Blume hat die Zunge so – guck mal“ – das Kind zeigt mir einen Mund mit einer Zunge die an die oberen Zähne anschlägt – „Aber so kann die Blume doch gar nicht sprechen!“ sage ich. „Stimmt“ sagt das Kind. „Die Blume ist ein Mensch und eine Blume – alles gleichzeitig“.

Ich höre zu, versuche aufmerksam zu sein. Dieses Kind ist übervoll mit Angst. „Gestern hat mich einer geschubst und in den Rücken getreten, da bin ich hingefallen und mein Daumen war so – guck mal“. Eine Schramme am Bein gibts auch, wie mir gleich vorgeführt wird. „Tut aber nicht mehr weh“ war der Kommentar.

Da sitzt ein Kind neben mir, das Lesen lernen soll.
Aber die Seele ist mit etwas ganz und gar anderem beschäftigt – mit dem „Gruselbaum“ nämlich und mit dem „Killer“ und mit der „Blume, die ein Mensch ist und alles gleichzeitig.“

Ich höre zu. Ich rede ihm nichts aus. Ich lasse das Kind malen und erzählen. Da muss erst mal etwas „zur Sprache gebracht“ werden. Bevor die Angst nicht gesehen und angenommen wird, lernt das Kind gar nix. Geht ja nicht, wenn die Seele mit etwas anderem beschäftigt ist, das ganz oben auf liegt.

Später - die Stunde ist beinahe herum, wir haben eine Menge Worte gefunden, aufgeschrieben und gelesen, lese ich aus Irina Korschunows „Schulgeschichten“. Ich lese Satz für Satz und frage das Kind, ob das stimmt, was da steht. Ich lese zum Beispiel: „Viele Kinder gehen gern zur Schule. Aber es gibt auch Kinder, die Angst vor der Schule haben.“
„Stimmt das?“ frage ich.
Und das Kind antwortet: „Schule ist Kackwurst!“

Ich merke in dieser Stunde etwas Wichtiges: wenn du einem Kind das Lesen beibringen willst, dann höre zunächst einmal zu, was das Kind dir zu erzählen hat aus seinem Leben. Danach wird es bereiter sein, dir bei den Übungen zu folgen. So war es ja dann auch: wir haben zusammen Wörter gesucht, aufgeschrieben, gelesen. Das ging dann recht flott. Allerdings war die Konzentration nach einer halben Stunde dann auch schon wieder zu Ende, die Batterie der Aufmerksamkeit war schon wieder alle – deshalb gibts immer ein paar vorgelesene Sätze zum Schluss.
Wir werden mit den Bildern weiterarbeiten, denn der erste Satz heute hat mich dazu ermutigt. Wie sagte doch das Kind bei der Begrüßung: „Hast Du mein Bild von der letzten Stunde mit?“ Ja, hab ich.
Mal sehen, was Du beim nächsten Treffen malst, bevor wir lesen.

Ach ja, eins noch: wir suchen dringend nach weiteren Lesepaten. Am besten meldet man sich über die Berliner Lesepaten an, die wissen dann, wie es weitergeht. Lesepaten gibt es auch in anderen Städten.

Lesen lernen (2)

Lesen lernen (2)

Heute nun war die „Kennenlern-Stunde“, ich hab die Kinder zum ersten Mal gesehen. Ich war aufgeregt, doch, das war ich, obwohl es eigentlich keinen Grund gibt, schließlich sind 6 Enkel in der Familie und man hat so seine Erfahrungen miteinander. Man merkt ja schnell, ob man sich sympathisch ist, oder eher nicht; mit Kindern geht das ganz besonders schnell, ob es „klappt“ mit dem Kontakt, oder ob es eher „schwierig“ werden würde. Und selbstverständlich wollte ich, daß wir guten Kontakt finden.

Ich bin jedenfalls sehr viel sicherer wieder nach Hause gefahren: es hat „geklappt“, wir werden miteinander etwas machen können, was den Kindern möglichst hilfreich sein soll.

Erste Stunde also: kennenlernen. Wie geht das? Na, ein paar Fragen stellen zum Beispiel. Und etwas von sich selber erzählen. Der Job des Lese-Paten besteht dann vor allem und zunächst darin, sehr genau zu hören -auch auf die Botschaften „unter“ der gesagten Botschaft.

Da merkt man zum Beispiel eine „Konzentrationsschwierigkeit“. Das Kind wird schon nach 30 Minuten unruhig, steht auf, geht vom Tisch weg, will nicht lesen. Das Kind malt gern, während es einer Geschichte (natürlich wird auch etwas vorgelesen!) zuhört, offenbar malt es, um zu entspannen, Stress abzubauen. Und die Nachfrage: „Du malst gern? Was ist denn dein Lieblingsfach in der Schule?“ „Kunst“ ist die Antwort. Und dann kommt: „Aber ich gehe nicht gerne zur Schule.“

Da also klemmt die Säge und damit werden wir uns natürlich zu beschäftigen haben, denn die Gründe, weshalb das Kind „nicht gern in die Schule geht“, können sehr vielfältig sein. Wenn es aber „nicht gern in die Schule“ geht, wird es auch nicht gern lesen lernen. Wir haben nun verabredet, daß wir jedes Mal, wenn wir uns treffen, an dem heute begonnenen Bild weitermalen, zwischendurch etwas lesen (auch gern mal im Wechsel: jeder einen Satz), dann gibts etwas vorgelesen. Dann lesen wir wieder etwas. Immer im Wechsel. Und das Bildermalen wird uns eine Brücke sein, denn so eine Stunde kann sehr lang sein und wer eigentlich „nicht gern in die Schule“ geht, wird dann schnell unruhig, zappelig, möchte lieber „mit dem Handy spielen, aber das darf man hier ja nicht.“ Nee, besser ist es, das Ding auch mal auszulassen, das stimmt. Aber, wir werden zurecht kommen miteinander, da bin ich sicherer als vorher.

Andere wiederum beginnen damit, dass sie „eigentlich nicht lesen wollen“, signalisieren also Unsicherheit, vielleicht sogar einen Widerstand, dann aber stellt sich heraus, dass es mit dem Lesen eigentlich schon recht ordentlich geht und im Laufe der Stunde stellt sich dann auch heraus, daß es Schwierigkeiten mit den „Lernworten“ gibt. Ok. Da können wir ansetzen und üben helfen. Das Lesen jedenfalls – ich hatte einen sehr einfachen Text von den Gebrüdern Grimm, das Märchen vom „Süßen Brei“ mitgebracht – lief sehr viel besser als befürchtet und es wurde schon bald deutlich, wo der Haken beim Lesen liegt: Umlaute und „Mischlaute“ wie „sch“, „ch“ wie in „Licht“ oder „ch“ wie in „Krach“. Zweimal steht da „ch“ und trotzdem wirds verschieden gesprochen. Knifflige Sache.

So aber kommen wir zueinander. Ich verstehe meine Unterstützung als Lese-Pate so: zunächst einmal sehr genau hinschauen, hinhören, aufmerksam sein – um herauszufinden, wo denn eigentlich das „Leseproblem“ liegt. Und dann üben wir natürlich.
Übrigens gilt: Spaß darf ruhig dabei sein. Wie sagte kürzlich einer der Enkel zu mir: „Mathe kannst du nicht so gut, aber Witze kannste gut.“ Na, wenn das kein Lob ist. Ich freu mich jedenfalls auf die nächste Begegnung in der kommenden Woche. Und ich bin gespannt darauf, wie das mit dem Lesen-Lernen eigentlich genau vonstatten geht.

(p.s.: wer die Beiträge zu meiner Lese-Patenschaft auf einen Blick lesen möchte, kann die neu eingefügte Kategorie „Lesen“ abonnieren, dort jedenfalls werden sie einsortiert.

Anmerkung 2: die Handys übrigens führen nicht dazu, daß Kinder Lesen lernen, eher im Gegenteil. Wie ich heute gelernt habe, verabreden sich Drittklässler zwar per Handy – aber eben nicht mit dem getippten Wort, sondern mit einer VoiceMail. „Mein Handy schreibt den Text, den ich hineinspreche“ sagte mir einer meiner Schützlinge. Deshalb ist es gut und richtig, die Handys in der Schule oder im Lese-Unterricht draußen zu lassen.) Erst muss man die Grundkompetenz wirklich erlernen – dann erst kommt das Handy. Schweden hat deshalb die Digitalisierung an Schulen auch wieder etwas reduziert, man hat bemerkt, daß die Lese- und Schreibkompetenz der SchülerInnen nachließ.

Lesen lernen. Lese-Pate werden. (1)

Lesen lernen. Lese-Pate werden. (1)

Die letzte PISA-Studie hat gezeigt: die Lesekompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler hat weiter nachgelassen. Wer aber nicht richtig lesen kann – und versteht, was er liest – der ist im Nachteil in allen anderen Bereichen. Lesen ist eine ganz zentrale „Grundkompetenz“. Wenn es da hapert, hapert es woanders auch.

Weshalb ich mich bei den Berliner Lesepaten gemeldet habe, um ein wenig zu helfen, daß Kinder, denen das Lesen aus verschiedensten Gründen nicht leicht fällt, Unterstützung bekommen. Der Kontakt kam – via Email – sehr schnell zustande, noch vor Weihnachten hatte ich das Große Polizeiliche Führungszeugnis im Briefkasten (man beantragt es beim Bürgeramt, die Kosten für die Lesepaten übernimmt das Amt), eine für mich passende Schule war ausgewählt und ein erster Kontakt zur Schule hergestellt.

Heute nun war ich zum ersten Mal in der Feldmark-Schule im Norden Lichtenbergs im ehemaligen barnimschen Dörfchen Falkenberg, das mittlerweile ein gewaltiges Neubaugebiet geworden ist. Hochhäuser, Neubaublocks, wohin man schaut, ich kann bequem mit der Straßenbahn dorthin fahren.

Die Feldmark-Schule liegt nicht mitten im Wohngebiet, sondern recht hübsch ganz am Rand der Falkenberger Krugwiesen, einem Naturschutzgebiet am Rande der Stadt. Man kann von hier aus sehr angenehm mit dem Rade nach Brandenburg hinein radeln, der Barnim beginnt hier und die Uckermark ist auch nicht weit.

Frau Schock ist an der Feldmark-Grundschule die Koordinatorin für die Berliner Lesepaten, sie war vor Jahren als Journalistin u.a. für die „Deutsche Welle“ unterwegs, wollte dann aber, wie sie mir sagte, „nochmal etwas Sinnvolles tun“ und hat sich als Seiteneinsteigerin für den Schuldienst gemeldet. Jetzt kümmert sie sich um die Lese-Paten. Ich frage sie, wie eine Schule an die Paten „herankommt“. „Das ist gar nicht so einfach“ sagt sie, „die Schule muss sich bewerben und der Bedarf ist sehr viel größer, als er im Moment gedeckt werden kann. Sie werden bald merken, was los ist.“

Das gilt auch für die Feldmark-Schule. Im Moment helfen drei Lese-Paten (jeweils für mehrere Kinder) – aber: „Wir könnten sehr viel mehr gebrauchen“, sagt Frau Schock.

Ich verabrede mit ihr, über meine Erfahrungen mit der Lese-Patenschaft zu schreiben. Damit noch andere ermutigt werden, „nochmal etwas Sinnvolles zu tun“ – und Lesepate werden. Für mich geht es am kommenden Dienstag los. Ich werde drei Kinder aus einer Zweiten und einer Dritten Klasse kennenlernen. Und dann schauen wir mal, ob wir gemeinsam was Gutes gebacken bekommen.

Übrigens: wer Lesepate werden möchte – zum Beispiel an der Feldmark-Grundschule in Falkenberg, der kann sich – über die Homepage der Schule – direkt an Frau Schock wenden. Sie regelt dann alles Weitere.

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Hans Werner Richter und der Kopp-Verlag. Eine seltsame Begebenheit aus Bansin

Es ist schön in Bansin und in diesem Jahr wollten wir uns mal wieder etwas ausführlicher mit dem wohl berühmtesten Sohn des kleinen Ortes, Hans Werner Richter, befassen, weshalb wir uns ausgiebig mit ihm sowohl im kleinen Museum im „Hans Werner Richter Haus“ (einem ehemaligen Haus der Feuerwehr) als auch mit seinen Büchern beschäftigen, insbesondere mit denen über die von ihm geleitete „Gruppe 47“, zu der so wichtige Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann, Walter Jens und viele andere gehörten, die für die literarischen Neuanfänge nach dem Ende des Hitlerschen „Reiches“ so ungemein wichtig geworden sind.

Hans Werner Richter hat in seinen autobiografischen Büchern (etwa in „Spuren im Sand“, auch in „Geschichten aus Bansin“ und „Die Stunde der falschen Triumphe“) nachdrücklich aufgezeigt, wo er politisch stand. Eher im „linken Milieu“, der Sozialdemokratie nahestehend, heute würde man vielleicht etikettieren „links-liberal“. Richter hat sich mit der Gründung der „Gruppe 47“ sehr um die deutsche Literatur-Sprache verdient gemacht, denn diese Sprache war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört. Worte wie „Treue“, „Vaterland“, „Gehorsam“, „Heimat“, „Volk“ etc. waren unbrauchbar geworden, es galt, neu zu beginnen, weshalb bei den Treffen der „Gruppe 47“ vor allem scharfe Wort-Kritik geübt wurde. Der Nachkriegs-Literatur hat das sehr gut getan.

Hans Werner Richter starb zwar in München, liegt aber – seinem Wunsch entsprechend – in Bansin begraben. Wir haben ihn besucht; auch das Haus, in dem er mit seiner Familie ab 1908 gelebt hat, „Villa Paula“ in der Seestraße 68 in Bansin, wollten wir sehen. Heute beherbergt das Haus eine Buchhandlung.

Seestraße 68 in Bansin. Hier hat Hans Werner Richter mit seiner Familie lange Jahre gewohnt.

Um das Haus auch von innen sehen zu können, mussten wir bis zum nächsten Tage warten, da war die Buchhandlung geöffnet.
Was ich vorfand, hat mich erschreckt: sehr prominent, gleich unter Büchern zur „Gruppe 47“ präsentiert, der Kopp-Verlag. Der nun gehört zu den umstrittensten Verlagen überhaupt, DeutschlandradioKultur hat mehrfach umfänglich recherchiert und gesendet, u.a. in dem hier verlinkten Beitrag.
Selbst Wikipedia widmet sich dem Verlag überaus kritisch. Man kann erfahren, der Verlag führe  „rechtsesoterischegrenz- und pseudowissenschaftlicheverschwörungstheoretische sowie rechtspopulistische und rechtsextreme Titel.“

Soweit der Befund.
Ich fand, der Verlag habe im ehemaligen Wohnhaus der Gründers der Gruppe 47 nichts zu suchen und schrieb deshalb an den Buchhändler: „Der Kopp-Verlag ist der führende Verlag der organisierten Rechtsextremisten nicht nur in Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz. Er munitioniert die AfD und gehört zu denen, die gern „Verschwörungsmythen“ verbreiten. Es wäre sicher nicht im Sinne von Hans Werner Richter, derlei Verlagsaktivitäten zu unterstützen.
Meine Frau und ich haben deshalb darauf verzichtet, bei Ihnen zu kaufen“.

Dann kam eine Antwortmail, die mich nachdenklich gestimmt hat, denn darin war nicht nur das in solchen Fällen Übliche zu lesen, die Bücher seien nicht indiziert, sie seien auch nicht verboten, und was nicht verboten sei, könne gehandelt werden, sondern in der Antwortmail kam eine Verteidigungsrede. Darin heißt es u.a.:

„….vielen Dank für Ihre Mail.

In unserer Buchhandlung ist nicht nur der Kopp-Verlag vertreten, sondern eine große Auswahl von Verlagen mit unendlich vielen verschiedenen Titeln.
Unsere Kundschaft wünscht auch diese Abwechslung, denn die gleiche Literatur, wie in vielen anderen Buchhandlungen Deutschlands ist für uns nicht ausreichend.
Das ist ein Ausdruck von Vielfalt und Toleranz gegenüber verschiedener Standpunkte.
Keines der Bücher in unserem Laden ist indiziert und so viel wir wissen, besteht in unserem Land immer noch Meinungs- und Pressefreiheit. …
Wenn Sie der Meinung sind, dass der Kopp-Verlag rechtsextremes Gedankengut verbreitet, geben Sie uns doch bitte nur ein einziges Beispiel dafür.
Der Zusammenhang mit einer Bundestagspartei und angeblichen Verschwörungsmythen erschließt sich uns nicht.
Hans Werner Richter schätzen wir aus Darstellungen seiner Familie als einen weltoffenen, systemkritischen aber vor allem selbstdenkenden Autoren ein.
Offenbar beziehen Sie allerdings Ihre sehr einseitigen und eingeschränkten Informationen immer noch aus den Massenmedien.
Das tut uns sehr leid.
Denn es gibt in der Zwischenzeit genügend Literatur, für Menschen, die der Wahrheit näher kommen wollen.“

Das ist AfD-Jargon. Da weiß jemand um „die Wahrheit“; da bezieht man seine Informationen nicht mehr „aus den Massenmedien“, Menschen, die das tun (zum Beispiel DeutschlandradioKultur zitieren), gelten als „sehr einseitig und eingeschränkt informiert“ etc. etc.

Schade.
Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, der alte Hans Werner Richter wäre aus seinem Grabe aufgestanden, um in seinem ehemaligen Wohnhaus mal nach dem Rechten zu sehen.
Ich glaube, er hätte dem Buchhändler mit einem kurzen pommernschen Satze die Gedanken grade gerückt: „Lass den Schiet“. Dann wäre er grummelnd wieder die Seestraße hinauf gegangen und hätte sich wieder dort zur Ruhe gelegt, wo er nun schon seit 1993 liegt.
In diesem Jahr übrigens feiert Bansin den 30. Todestag seines berühmtesten Sohnes. Zahlreiche Lesungen sind zu erwarten.
Ich wünsche diesen besonderen Veranstaltungen viele Besucher.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Wir haben vom Wort gelebt.
Das geschriebene und gesprochene Wort war unser Werkzeug. Wenn ich mir heute noch einmal vergegenwärtige, was die Jahre 1987/88 bestimmt hat: es war das geschriebene und gesprochene Wort. Die Nachrichten vom Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek, die Verhaftungen nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration etc. – so etwas kriegten wir natürlich „über das Westfernsehen“ mit, auch „über das Radio“ – und über Berichte von Menschen, die „dabei“ waren oder jemanden kannten, der „dabei“ war.
Viele andere Ereignisse aber, die Basisgruppentreffen, die „Werkstätten“ der Offenen Arbeit, die „Rüstzeiten“ in kirchlichen Heimen und auch die „Jugendversammlung“ wurden staatlicherseits verschwiegen. Nichts war in Radio, Zeitung oder gar Fernsehen davon zu erfahren. Es gab keine Handys, keine schnell aufgenommenen Handy-Videos, keine Chats. Nur wer „dabei“ war, war dabei und konnte erzählen. Es gab wohl auch innerkirchliche Berichte – aber eine offizielle Berichterstattung über unsere Arbeit gab es nicht. Allerdings gab es das geschriebene Wort – vervielfältigt auf einfachen Ormig-Abzügen, mit der Schreibmaschine abgetippt (Ich selbst hab die komplette „Alternative“ von Rudolf Bahro mit der Schreibmaschine mit 10 Durchschlägen abgeschrieben, damit wir sie weitergeben konnten).
Bei den Veranstaltungen selbst stand das geschriebene und gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die Menschen hörten aufmerksam zu. Es kam „auf die genaue Formulierung“ an, denn vieles verstand man nur „zwischen den Zeilen“, weil es offen nicht ausgesprochen werden konnte. Natürlich war – insbesondere bei Jugendveranstaltungen – auch Musik wichtig, vor allem das gesungene Wort („Vertraut den neuen Wegen“ wurde der Wende-Choral) aber „die Papiere“ von den Synoden, Werkstätten, Rüstzeiten und Versammlungen waren auf eigene Weise wichtig, denn sie konnten abgetippt, vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergegeben werden. Wer einen Vervielfältigungsapparat (ORMIG) besaß, war in den Augen der Stasi „im Besitz von Vervielfältigungstechnik“. Sogar Tausendfachstempel zählten schon dazu. Auch beim gesungenen Wort hörte man sehr aufmerksam zu. Liedtexte wurden abgeschrieben, sie gingen von Hand zu Hand. Manch einer fotografierte sie und stellte dann Fotopostkarten davon her, um sie weitergeben zu können.

Texte hatten eine besondere Bedeutung in jenen Jahren. Sorgfalt in der Sprache war tägliche Notwendigkeit.
Wenn man sich das Programm der Jugendversammlung anschaut, sieht man die Bedeutung des gesungenen, geschriebenen und gehörten Wortes sofort:


Bei der Jugendversammlung in Gotha war ich verantwortlich für den Freitagabend.
Wir hatten uns eine „Motette für drei Sprecher zu einer Pantomime“ überlegt. Das Thema: „Umkehr führt weiter“. Im Folgenden nun will ich das dabei entstandene Drehbuch im blog abbilden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, wie wir mit Texten arbeiteten. Vier solcher Drehbücher für den Abend sind erhalten und befinden sich noch in meinem Archiv. Jeder der Sprecherinnen und Sprecher, die Beleuchter, die Musiker, die Helferinnen und Helfer im Hintergrund hatten ein solches Drehbuch. Es war einstudiert wie ein Bühnenstück, das es ja auch war.
Wir stellen uns den Abend vor: etwa 300 Jugendliche sitzen im Mai 1988 (über die Aufregungen jener Tage hatte ich in Teil 3 geschrieben) in einer weitgehend abgedunkelten Kirche und sehen diese „Motette für drei Sprecher, Querflöte und Pantomime“. Ich bin Frank Warkus und Andreas Kosmalla für die enge Zusammenarbeit heute noch dankbar, was damals entstanden ist, war vorzeigbar:

Die Wirkung dieses „Impulses“ war stark. Minutenlange Stille, tiefes Schweigen. Es gab Tränen, die jungen Leute waren „angefaßt“, wie man das manchmal sagt. Wir haben das Echo dieses Abends noch lange wahrnehmen können. Die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der gewaltig gestiegenen Zahl der Ausreisewilligen; die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der Umweltthemen, der zunehmenden Übergriffe durch Polizei und Staatssicherheit, diese Frage wurden den jungen Leuten drängend. Die nachfolgenden Gespräche in den Kleingruppen (wir arbeiteten mit 40 Untergruppen!) zeigten es.
„Wir bleiben hier!“ war eine vielgehörte Antwort auf die Frage: „Gehst Du auch weg?“ Der leichtere Weg wäre es gewesen, wir versuchten, unseren Beitrag zu leisten, damit das Land selbst auf einen neuen Pfad kam, da konnte man nicht einfach „weglaufen“, sondern hatte sich den täglichen Mühen zu stellen. All das schwang mit an jenem Abend. Wir haben später erfahren, dass einige junge Leute nach der Jugendversammlung ihre Ausreiseanträge zurückgezogen hatten. Sie hatten verstanden, dass man nichts verändert, wenn man flieht. Die jungen Leute wurden „hier“, im eigenen Land, gebraucht. Sonst wäre die Mauer niemals gefallen.
Aber sie ist gefallen, weil es genügend Menschen gab, die ausharrten, sich verknüpften, unterhakten und gemeinsam für Veränderungen im Lande arbeiteten.

Es hat zahlreiche Reaktionen auf die Jugendversammlung gegeben. Allerdings: Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten nichts. Wir wurden verschwiegen.
Die Staatssicherheit wertete die Sache aus und unter den kirchlichen Mitarbeitern, aber vor allem auch unter den vielen Jugendlichen selbst wirkte die Versammlung noch lange nach. Noch im Jahre 2021 schrieb mir jemand auf facebook, es sei seine „wichtigste Veranstaltung in jener Zeit“ gewesen und ihn noch heute in starker Erinnerung.

Mein Kollege Aribert Rothe in Erfurt hat früh schon in der Kirchenzeitung über die Jugendversammlung geschrieben, später dann hat er einen Text für die „Gerbergasse“ geschrieben, der hier verlinkt sein soll. Mein Kollege Christhard Wagner, der damals sehr engagiert bei der Vorbereitung und Durchführung der Versammlung beteiligt war, hat eigene Erinnerungen an jene Tage, die er vielleicht noch publizieren wird.
Mir selbst war wichtig, mit der hier vorgelegten Dokumentation über die Jugendversammlung 1988 etwa 30 Jahre später einen Baustein beizutragen, damit ein genaueres Mosaik-Bild über die späte DDR jener Jahre gezeigt werden kann und wir wegkommen von falschen Klischees, die von Leuten verbreitet werden, die nicht dabei waren.

Etwas aus meiner Werkstatt


Internet bedeutet für mich: täglich dazu lernen. Ich bemühe mich schon etliche Jahre, so einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, aber die Möglichkeiten des Netzes sind so enorm gewachsen, dass ich gar nicht mehr hinterher komme.
Selbstverständlich nutze ich schon seit langen Jahren facebook, twitter, früher auch mal google+, instagram und pinterest, blogge, nutze soundcloud, youtube und all die neuen Möglichkeiten.
Aber dass ich jetzt meine Manuskripte von zu Hause aus sowohl als print als auch als ebook zur Verfügung stellen und dafür e-publishing samt seiner interessanten Vertriebswege nutzen kann, das ist schon eine prima Sache, dass muss ich schon sagen. Ich bin ja schließlich mal in einem Land auf die Welt gekommen, in dem man sich alles was länger als 20 Zeilen war, vom Staat genehmigen lassen musste – das bedeutet allerdings auch tägliches Weiterlernen. Learning by doing. Formatieren, layouten, produzieren lassen – all das.  Aber was für großartige Möglichkeiten gerade für ehrenamtlich Engagierte, für Vereine, für Kirchgemeinde, für Kulturinitiativen sich dadurch ergeben! Ich bin immer noch begeistert.

Diejenigen, die beruflich in der Branche epublishing arbeiten, werden müde lächeln, wenn sie meine Zeilen lesen, ich bitte um Nachsicht, aber für mich sind das schon wichtige Entdeckungen, wenn ich zum Beispiel die Autorenseite bei #amazon entdecke. Oder wenn ich sehe, mit welchem großen Vertrieb #epubli arbeitet. Schließlich mache ich diese Sachen nicht beruflich.

Jedenfalls geht es mir immer noch so, daß ich mich täglich daran freue, was das Internet für überaus praktische Dinge für einen bereit hält und nutze sie gern.  Und: dazulernen hat noch niemandem geschadet.

Die Sprache des Terrors: Volksfeind


Wer seine politischen Gegner vernichten will, bezeichnet sie als „Volksfeinde“.
In der Sprache kündigt sich an, was Tat werden soll.
Die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist voller Belege für diese Beobachtung.
Insbesondere während der Zeit des Stalinismus und des Nationalsozialismus war das Wort „Volksfeind“ ein ideologischer Kampfbegiff.
Deshalb ist es keine Lappalie, wenn Donald Trump in einer weltweit zu sehenden Pressekonferenz die versammelten Journalisten, allen voran namentlich genannte führende Medien als „Feinde des Volkes“ bezeichnet.
In der Sprache kündigt sich an, was beabsichtigt ist.
Trump glaubt, nur er wisse, was „das Volk“ will. Er behauptet, seine Sicht der Welt sei die Sicht „des Volkes“, denn schließlich sei er gewählt.
Und jeder, der seine Ansichten nicht teilt, ist nicht nur sein Gegner, sondern Gegner „des Volkes“.
Wir wissen aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, was mit den „Volksfeinden“ geschah.
Man hat ihnen Schauprozesse veranstaltet.
Man hat sie gefoltert.
Man hat sie hingerichtet.
Nicht nur einzeln, sondern in Massen.

Es ist nicht banal, was da vor sich geht.
Der amerikanische Präsident benutzt die Sprache des Terrors.
Und wer solche Sprache benutzt, denkt auch in ihren Vorstellungen.
Und ist bereit, umzusetzen, was er sagt.

Wer andere Menschen als „Feinde des Volkes“, als „Volksfeinde“ bezeichnet, denkt in Kategorien des Terrors.

Vicor Klemperer hat immer wieder darauf hingewiesen, wie bedeutsam und wichtig die Sprache als Seismograf für kommende Veränderungen ist. Man kann an ihr ablesen, was kommt. Seine Beobachtungen waren präzise und sie haben sich bestätigt.

Im Weißen Haus hat nicht nur ein Mann gesprochen, den mittlerweile nicht wenige für „verrückt“ halten.
Da hat jemand gesprochen, der in den Kategorien des Terrors denkt.
Seine Sprache verrät ihn.