Etwas von Büchern

Etwas von Büchern

Derzeit katalogisiere ich meine Bibliothek, sortiere aus, ordne neu und nehme deshalb jedes Buch nochmals in die Hände. Dabei fiel mir ein altes Buch von 1891 auf. Genauer: das, was vorn eingestempelt zu lesen ist.


Wir sehen Spuren von zwei Kindern. Der eine zehn, der andere 11 Jahre alt.
Der eine, Gerhard, damals, 1939, wohnte er in Halle, hat das Buch zu seinem zehnten Geburtstag bekommen und unter „Nr. 13“ in seine kleine Kinder-Bibliothek aufgenommen. Er war ordentlich, wie sein Vater, der war Registrator und Rendant in einer großen Kirchgemeinde einer Stadt an der Oder gewesen und dort zuständig für das Ausstellen von Arier-Nachweisen, aber das ist eine sehr eigene, bedrückende Geschichte.

Als Gerhard das Buch zum Geburtstag bekam, war der Zweite Weltkrieg gerade 12 Tage alt, die Wehrmacht war am 1. September 1939 in Polen einmarschiert, unter dem Vorwand übrigens, man sei „dazu gezwungen worden“ und müsse „sich verteidigen“.

Den Adreß-Stempel für seine Kinder-Bibliothek hat sich Gerhard vermutlich in der Druckerei der Franckeschen Stiftung anfertigen können, dort konnten die Schüler ihren Werkunterricht wahrnehmen. Gerhard war ab 1938 Schüler der Knabenschule der Franckeschen Stiftungen. Jene Schule wurde noch 1938 mit großem Tamtam in „Hans Lody Schule“ umbenannt. Der Hallenser SS-Oberganove Reinhard Heydrich schickte ein Grußwort. Der Schulunterricht begann in jenen Jahren mit den „aktuellen Berichten von der Front“. Karten waren aufgebaut, in die Schlachten und Orte von Schlachten eingezeichnet waren. Der tägliche „Frontbericht“ war Schulalltag, schließlich müssen wohlerzogene Volksgenossen im Alter von 10 Jahren wissen, wo die Front verläuft.

Der andere Junge bekam das Buch im Jahr 1968, da war er elf.
Deutschland und Europa waren geteilt. Truppen des Warschauer Paktes waren in diesem Jahr in Prag einmarschiert, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie Dubcek ihn wollte, zu verhindern.
Katalogisiert wurde das Büchlein nun im Februar 2023, da war der russisch-ukrainische Krieg 1 Jahr alt.

Zu diesem Bild gehört eine Geschichte.
Als ich 18 wurde, nahm mich mein Vater, ein Kriegskind, das seine ganze Kindheit und Jugend unter den Nazis verbracht hatte, Mitglied bei den Pimpfen und in der HJ war, der das Schießabzeichen der HJ in Bronze besaß und der am Ende des Krieges als 15-Jähriger Brandschutzhelfer Leichen aus den Trümmern in Ammendorf und Halle ziehen musste, mit auf einen Friedhof.

Wir gingen in eine besondere Abteilung dieses Friedhofes.
„Schau Dir mal genau die Grabsteine an“ sagte mein Vater. „Was fällt Dir auf?“
„Die Geburtsdaten“, sagte ich. „Es sind alles junge Männer zwischen 16 und 25 Jahren.“
„Kannst Du mir sagen, weshalb diese jungen Leute gestorben sind?“ fragte er nach.
„Man hat sie in den Krieg eingezogen, dort wurden sie erschossen. Die jüngsten unter ihnen waren noch Kinder“, sagte ich.
Darauf mein Vater, und diesen Satz hab ich mein Lebtag nicht vergessen: „Kannst Du mir heute, an Deinem achtzehnten Geburtstag versprechen, niemals eine Waffe in die Hand zu nehmen, auch wenn Du dafür massive Probleme bekommen wirst?“

„Ja“, war meine Antwort, „das kann ich versprechen.“

Meinen Vater hat der Krieg Jahre später doch noch geholt, er wurde nur 56 Jahre alt, zehn Jahre jünger, als ich jetzt bin. Die schweren Depressionen, direkte traumatische Folgen einer Jugend im Krieg, haben ihn am Ende doch noch besiegt. Sabine Bode hat in ihren Büchern über Kriegskinder viel über die seelischen Folgen einer Kriegskindheit gearbeitet und publiziert.

Ich bin dem Kriegskind Gerhard, der mein Vater wurde, dankbar für jenes besondere Geburtstagsgeschenk an meinem achtzehnten Geburtstag.
Bis auf den heutigen Tag.

Wer das „richtige Bekenntnis“ nicht hat, verliert den Job. Oder: ein Kapitel über die Kunst in Zeiten des Krieges.

Wer das „richtige Bekenntnis“ nicht hat, verliert den Job. Oder: ein Kapitel über die Kunst in Zeiten des Krieges.

„Die Nationale Volksarme ist eine Armee des Friedens. Wer Soldat der NVA wird, dient damit dem Frieden. Wenn Sie diesen Dienst nicht ausüben wollen, wie Sie erklärt haben, dann stellen Sie sich gegen die Macht des Friedens, dessen Ausdruck die Bruderarmeen des Warschauer Paktes sind. Wenn Sie den Dienst in der NVA nicht ausüben wollen, wie Sie erklärt haben, dann stärken Sie die aggressiven Armeen der NATO. Sie werden verstehen, daß wir Sie dafür nicht auch noch belohnen können. Eine Zulassung zum Abitur oder gar Universitätsstudium kommt nicht in Frage.“

So ging die Logik. Viele tausende junger Männer und deren Familien waren davon betroffen und haben sich dennoch nicht einschüchtern lassen.
Als man uns weismachen wollte, der „Friede muss bewaffnet“ sein, und es gälte „gegen NATO-Waffen Frieden (zu) schaffen“. Da haben wir gesagt, ein paar wenige waren wir ja noch: „ihr irrt. Man kann Blut nicht mit Blut abwaschen.“
Später, da war die Mauer schon gefallen, da fand sich in der Stasi-Akte der Hinweis: sie hatten uns auf ihrer „Liste“. Gemeint war eine „Abschußliste“. Die Zahl derer, die man wegen ihrer Gesinnung zum Krieg „abgeschossen“, also aus dem Beruf heraus und in den Westen hinein gedrängt hatte, geht in die Millionen. Auch weiß man in den Chroniken vom „Roten Ochsen“ oder vom „Gelben Elend“ oder in Hohenschönhausen von den Schicksalen derer zu berichten, die „nicht die richtige Gesinnung“ hatten und sich zum Beispiel der Logik der Aufrüstung widersetzten, weil sie sie für grundfalsch hielten.

Wer jedoch das „richtige Bekenntnis“ ablegte, bekam den Job.
Ähnliches spielte sich in den Forschungsabteilungen der großen Betriebe ab. Bei Carl Zeiss in Jena beispielsweise: wer nicht Genosse wurde und damit „das richtige Bekenntnis“ ablegte, kam nicht weiter. In der Forschung schon gar nicht. Und wer nicht „zur Demonstration“ war, der bekam auch Probleme.

Auch wurde sehr genau registriert, ob jemand zur Wahl ging, denn die Teilnahme an der Wahl war „ein Bekenntnis zum Frieden“. Wer das „richtige Bekenntnis“ ablegte, kam beruflich weiter. Wer dieses Bekenntnis nicht ablegte – nun ja, man hatte ja die Wahl, die „richtige Entscheidung“ selber zu treffen.

Ich gehörte mit ein paar Hundert anderen immer zu denen, die die verlangte „richtige Entscheidung“ nicht trafen. Ich war nicht in den Pionieren, nicht in der FDJ, ich ging nicht ins Wehrlager, ich beteiligte mich nicht an Wahlen (die keine waren), ich ging nicht zur Armee. Deshalb gabs kein staatliches Abitur und deshalb gabs auch kein freies Studium. Das war der Preis, der in der Diktatur zu zahlen war. Wir haben ihn gezahlt.
Nun aber kommt, angesichts des Ukraine-Krieges, diese Gesinnungsschnüffelei zurück und dagegen muss ich sprechen, weil ich sie wie viele andere auch, am eigenen Leibe erfahren habe. Das darf nicht wieder so werden, wie es in der Diktatur war: nur derjenige bekommt oder behält den Job, der die „richtige Gesinnung“ hat. Das hatten wir schon mal, auch schon vor 1949. Und das darf es niemals wieder geben.

Nun lesen meine alten Augen, der Münchner Oberbürgermeister Reiter (SPD) habe den russischen Chefdirigenten der Philharmoniker gefeuert, weil der dem Ultimatum (!) des Oberbürgermeisters nicht gefolgt sei und sich rechtzeitig (das ist der Sinn eines Ultimatums) von Herrn Putin und seiner Politik öffentlich distanziert habe. Der Russe hat auf dieses Ultimatum nicht mal geantwortet, was ich sehr gut verstehen kann. Wer ist denn dieser Herr Reiter, daß er einem vorschreiben wolle, wie man zu denken habe?

Meine alten Augen lesen ausserdem, man hätte Engagements mit Anna Netrebko aus ähnlichem Grunde gekündigt, sie sei „nicht klar genug von Putin und seiner Politik distanziert“. Auch hier wieder gibt es welche, die offenbar sehr genau zu wissen scheinen, was „die richtige Auffassung“ ist und was eben die falsche. Und, wenn man eine „falsche Auffassung“ hat, nun ja, dann kann man den Job halt nicht haben, man hat ja schließlich die Wahl und kann „das geforderte Bekenntnis“ ablegen.

Gestern musste ich lesen, daß man nun auch die Forderung erhoben habe, russischen Wissenschaftlern die internationalen Forschungsgelder zu entziehen, wenn sie sich nicht klar von Putin und seiner Politik distanzieren.

Im Börsenblatt steht darüber hinaus nun sogar zu lesen, man fordere nun angesichts des Krieges „ein Totalboykott russischer Bücher.“
Man ist ja schon dankbar, daß noch keiner die Verbrennung russischer Bücher verlangt hat. Wenn das so weitergeht, wird irgendein völlig Verwirrter diese Forderung wohl auch noch erheben.

Was macht dieser Krieg mit unserem Land? Drehen wir jetzt auch völlig durch? Diese Gesinnungsschnüffelei muss aufhören! Und, daß jemand seinen Job verliert, weil er Russe ist und „sich nicht klar genug von Putin getrennt hat“, das muss ebenfalls aufhören. Am besten sofort.

Zeitenwende.

Zeitenwende.

Diesen Text schreibe ich, um mir selbst Rechenschaft abzulegen, falls mich eines der Enkelkinder irgendwann fragt, wie ich mich denn verhalten habe in jenen Tagen im Februar 2022, als der Kanzler der Bundesrepublik begann, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen und Aufrüstung meinte. Ich will mit diesem Text niemanden zu irgendetwas überzeugen, will niemanden agitieren oder zu irgendeiner Ansicht verhelfen, ich will mir selbst gegenüber aufschreiben, wie das für mich war, als da nun von jener „Zeitenwende“ die Rede war, die im Kern Aufrüstung meinte.

Eine „Wende“ hab ich ja schon erlebt, viele andere auch. Jenes Wort von Egon Krenz, das dann gleichsam zum Stempel für den Zusammenbruch des Landes wurde, in dem ich aufgewachsen bin. Mit „Wende“ wurde und wird der Zusammenbruch der DDR bezeichnet und der anschließende Beitritt des Restes von jenem Land zu einem Land, in das ich nie wollte, weshalb ich auch nie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, obwohl die olle DDR mit die Staatssicherheit auf den Hals gehetzt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, die nun auch schon wieder über dreißig Jahre zurückliegt.

Lange Jahre der Auseinandersetzung mit der Diktatur lagen hinter mir und meinen Freunden, wir hatten Jahre hinter uns, in denen man uns einreden wollte, der Friede müsse bewaffnet sein. Oder man müsse „Gegen NATO-Waffen Frieden schaffen!“ Wir standen schon damals auf der anderen Seite: wir argumentierten angesichts der Hochrüstung mitten in Deutschland – im Osten standen die russischen SS 20-Raketen, im Westen die Pershings – eine Logik des Krieges führe zur Auslöschung unserer Zivilisation und vorher zur Vernichtung wichtigster Ressourcen, die wir dringend für Aufgaben des Lebenserhaltes benötigen. Aufrüstung: immer mehr Waffen, immer mehr Raketen, immer mehr Panzer. Das ist die Logik des Krieges, die Logik der Abschreckung. Das war schon damals mitten im Kalten Krieg nicht unsere Position.
Wir setzten dem gemeinsam mit vielen anderen in Ost und West eine Logik des Friedens entgegen, die wesentlich von den großen Pazifisten des vorigen Jahrhunderts geprägt war, in meinem eigenen Fall besonders von Tolstoi, Gandhi, M.L. King, Zweig, Rolland und anderen. Die Dokumente dazu findet man in den Protokollen der Synoden des Bundes der Evangelischen Kirche z.B. unter dem Stichwort „Bekennen in der Friedensfrage.“ Wir fanden den außenpolitischen Kurs von Brandt und Bahr sehr richtig, angesichts eines immer kälter werdenden Kalten Krieges, gerade angesichts einer solchen Situation! – dem „Feind“ die Hand zu reichen und mit konkreten Verhandlungen über gemeinsame Interessen zu beginnen.
Nicht das Unterscheidende sollte betont, sondern das Gemeinsame gefunden werden.
Und etwas Entscheidendes konnte im Atomzeitalter als Gemeinsames sofort identifiziert werden: das Interesse nämlich, überhaupt am Leben zu bleiben. Das aber bedeutete Atomwaffenverzicht und Abrüstungsverhandlungen.

All das ist lange und ein paar Kriege her.
Wir haben inzwischen den Irak-Krieg I gesehen, der ohne UN-Mandat begann, völkerrechtswidrig also; wir haben den Irak-Krieg II gesehen; wir haben den über dreißigjährigen Afghanistan-Krieg gesehen, die Bombardierung des Balkan durch Kampfjets auch aus Deutschland – ohne UN-Mandat.
An Kriegen hat es nicht gemangelt. Zuletzt lauteten die Stichworte: Krieg in Syrien, Besetzung der Krim, Bürgerkrieg in Mali (und Einsatz u.a. der Bundeswehr) und nun Putins Krieg gegen die Ukraine, die kein Mitglied der EU und auch kein Mitglied der NATO ist.

Seit gestern nun bestimmt ein neues Wort die politische Debatte in Deutschland: Kanzler Scholz hat es eingeführt. Er sprach davon, wir würden jetzt eine „Zeitenwende“ erleben. Nun gälten die alten Vorstellungen von der Abrüstung nicht mehr, nun müsse man „lange Versäumtes“ nachholen und die Bundeswehr aufrüsten. Viele stimmten ihm zu, der Finanzminister von der FDP, der das „Sonderprogramm“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zu finanzieren hat, sprach gar davon, er wolle „eine der schlagkräftigsten Armeen in Europa“ aufbauen und sei daher bereit, diese 100 Milliarden neue Schulden aufzunehmen. Zusätzlich, so teilte der Kanzler mit, werde Deutschland „mehr als die von der NATO geforderten 2%“ des BIP jährlich für die Bundeswehr zur Verfügung stellen.

Als heute die Börsen öffneten, gingen die Aktienkurse maßgeblicher Rüstungskonzerne in Deutschland geradezu durch die Decke: plus 15%, plus 9%, plus 40% – solche Zahlen sind nun zu lesen. Dieses Aufrüstungsprogramm ist gewaltig. Bezahlt wird mit neuen Schulden. Und die Geschäftemacher der Welt verhalten sich nun wieder so, wie sie sich eigentlich immer verhalten haben: „Kaufe, wenn die Kanonen grollen.“

Was ich hier für mich notieren will: in meiner Wahrnehmung erleben wir tatsächlich eine „Zeitenwende“. Allerdings höre ich das Wort in keiner Weise positiv. Ich höre: Deutschland lässt sich nun von einem russischen Präsidenten diktieren, wie es zu reagieren hat. Deutschland lässt sich in eine Aufrüstungsspirale hineinzwingen, die wir für überwunden geglaubt hatten.
Nun haben die Falken wieder mal Oberwasser. Jene, die für Abrüstung statt Aufrüstung sprechen, gelten – wieder einmal – als unpolitisch, blauäugig, naiv. Sie hätten „keine Ahnung“, außerdem handele es sich bei Menschen, die für Ab- statt Aufrüstung sprechen um „Putinfreunde“, oder, schlimmer noch, um „Putinversteher“, jenen Leuten also, die eigentlich ebensolche Ganoven seien wie der russische Präsident.
Es wird auch schon wieder religiös in der Sprache. Es ginge beim „Kampf gegen Putin“ im Kern um einen „Kampf gegen das Böse“, so lesen meine alten Augen. Ich erlebe das als Rückfall.
Es ist ein tiefer Rückfall in tiefste Zeiten des Kalten Krieges. „Zeitenwende“ klingt in meinen Ohren nach „Rückschritt“, nach „Rückfall“, nach einem politischen Kalkül, das ich und nicht nur ich für überwunden gehalten hatte.

„Was hast Du denn getan in jenen Tagen?“ werden mich die Enkel vielleicht fragen, falls sie das überhaupt interessiert.
„Ich habe der Logik der Aufrüstung widersprochen“ werde ich antworten, „so, wie ich es mein Lebtag lang getan habe. Ich war der festen Überzeugung, daß mehr Waffen in der Ukraine die russische Armee nicht aufhalten werden. Nun, nach dieser Entscheidung der Bundesregierung, stehen überall auf der Welt Tor und Tür sperrangelweit offen, auch dorthin Waffen zu liefern. Jene „Zeitenwende“, von der nun die Rede ist, ist nichts anderes als ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm.“
„Und? Hat es was genützt?“
„Eher nicht. Es war wohl eher „in den Wind gesprochen“, wie Johannes Bobrowski einmal gemeint hat. Die Zeiten waren nicht so. Die Mehrheit rief in jenem Frühjahr 2022 nach immer mehr Waffen. Es gab langen Beifall im Parlament, als der Kanzler von jener „Zeitenwende“ sprach und es gab langen Beifall, als er von 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr sprach und es gab langen Beifall, als er von den „mehr als 2%“ für die NATO sprach. Man müsse dem „Feind“ (es war tatsächlich auch offiziell wieder vom Feind! die Rede!) endlich „unmissverständlich“ „klarmachen“, „wo die Grenze sei“, so war zu hören.
Es waren nicht die Zeiten, in denen man noch die Stimmen hören wollte, die für Abrüstung sprachen, man war – der Einfachheit halber -, der Ansicht, solche Stimmen kämen ja ohnehin nur noch von ein paar völlig Unverbesserlichen der LINKEN oder gar von der AfD. Damit hatte man ein Schubfach und fertig war die Laube.
Nein, die Mehrheit im Parlament war nun woanders.
Man hielt den bisherigen Weg Deutschlands, keine Waffen in Krisengebiete zu schicken, ab sofort für falsch. Weshalb nun auch Deutschland endlich endlich Waffen schicken sollte. Die Mehrheit wollte nichts hören von Abrüstung. Sie wollte Aufrüstung, Aufrüstung, Aufrüstung.
Deutschland ist vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute einen langen Weg gegangen.
Von jenem im Jahre 1945 zu hörenden „nie wieder soll jemals ein Deutscher eine Waffe in die Hand nehmen“ zu jenem 100 Milliarden-Sonderprogramm für die Bundeswehr unserer Tage lagen beinahe genau 80 Jahre. 2025 wäre Jubiläum.“

Ich notiere diesen Text für mich. Um mir Rechenschaft zu geben, wo ich gestanden habe in jenen Februartagen 2022, die wir gerade erleben. Damit ich Auskunft geben kann.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Wir haben vom Wort gelebt.
Das geschriebene und gesprochene Wort war unser Werkzeug. Wenn ich mir heute noch einmal vergegenwärtige, was die Jahre 1987/88 bestimmt hat: es war das geschriebene und gesprochene Wort. Die Nachrichten vom Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek, die Verhaftungen nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration etc. – so etwas kriegten wir natürlich „über das Westfernsehen“ mit, auch „über das Radio“ – und über Berichte von Menschen, die „dabei“ waren oder jemanden kannten, der „dabei“ war.
Viele andere Ereignisse aber, die Basisgruppentreffen, die „Werkstätten“ der Offenen Arbeit, die „Rüstzeiten“ in kirchlichen Heimen und auch die „Jugendversammlung“ wurden staatlicherseits verschwiegen. Nichts war in Radio, Zeitung oder gar Fernsehen davon zu erfahren. Es gab keine Handys, keine schnell aufgenommenen Handy-Videos, keine Chats. Nur wer „dabei“ war, war dabei und konnte erzählen. Es gab wohl auch innerkirchliche Berichte – aber eine offizielle Berichterstattung über unsere Arbeit gab es nicht. Allerdings gab es das geschriebene Wort – vervielfältigt auf einfachen Ormig-Abzügen, mit der Schreibmaschine abgetippt (Ich selbst hab die komplette „Alternative“ von Rudolf Bahro mit der Schreibmaschine mit 10 Durchschlägen abgeschrieben, damit wir sie weitergeben konnten).
Bei den Veranstaltungen selbst stand das geschriebene und gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die Menschen hörten aufmerksam zu. Es kam „auf die genaue Formulierung“ an, denn vieles verstand man nur „zwischen den Zeilen“, weil es offen nicht ausgesprochen werden konnte. Natürlich war – insbesondere bei Jugendveranstaltungen – auch Musik wichtig, vor allem das gesungene Wort („Vertraut den neuen Wegen“ wurde der Wende-Choral) aber „die Papiere“ von den Synoden, Werkstätten, Rüstzeiten und Versammlungen waren auf eigene Weise wichtig, denn sie konnten abgetippt, vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergegeben werden. Wer einen Vervielfältigungsapparat (ORMIG) besaß, war in den Augen der Stasi „im Besitz von Vervielfältigungstechnik“. Sogar Tausendfachstempel zählten schon dazu. Auch beim gesungenen Wort hörte man sehr aufmerksam zu. Liedtexte wurden abgeschrieben, sie gingen von Hand zu Hand. Manch einer fotografierte sie und stellte dann Fotopostkarten davon her, um sie weitergeben zu können.

Texte hatten eine besondere Bedeutung in jenen Jahren. Sorgfalt in der Sprache war tägliche Notwendigkeit.
Wenn man sich das Programm der Jugendversammlung anschaut, sieht man die Bedeutung des gesungenen, geschriebenen und gehörten Wortes sofort:


Bei der Jugendversammlung in Gotha war ich verantwortlich für den Freitagabend.
Wir hatten uns eine „Motette für drei Sprecher zu einer Pantomime“ überlegt. Das Thema: „Umkehr führt weiter“. Im Folgenden nun will ich das dabei entstandene Drehbuch im blog abbilden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, wie wir mit Texten arbeiteten. Vier solcher Drehbücher für den Abend sind erhalten und befinden sich noch in meinem Archiv. Jeder der Sprecherinnen und Sprecher, die Beleuchter, die Musiker, die Helferinnen und Helfer im Hintergrund hatten ein solches Drehbuch. Es war einstudiert wie ein Bühnenstück, das es ja auch war.
Wir stellen uns den Abend vor: etwa 300 Jugendliche sitzen im Mai 1988 (über die Aufregungen jener Tage hatte ich in Teil 3 geschrieben) in einer weitgehend abgedunkelten Kirche und sehen diese „Motette für drei Sprecher, Querflöte und Pantomime“. Ich bin Frank Warkus und Andreas Kosmalla für die enge Zusammenarbeit heute noch dankbar, was damals entstanden ist, war vorzeigbar:

Die Wirkung dieses „Impulses“ war stark. Minutenlange Stille, tiefes Schweigen. Es gab Tränen, die jungen Leute waren „angefaßt“, wie man das manchmal sagt. Wir haben das Echo dieses Abends noch lange wahrnehmen können. Die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der gewaltig gestiegenen Zahl der Ausreisewilligen; die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der Umweltthemen, der zunehmenden Übergriffe durch Polizei und Staatssicherheit, diese Frage wurden den jungen Leuten drängend. Die nachfolgenden Gespräche in den Kleingruppen (wir arbeiteten mit 40 Untergruppen!) zeigten es.
„Wir bleiben hier!“ war eine vielgehörte Antwort auf die Frage: „Gehst Du auch weg?“ Der leichtere Weg wäre es gewesen, wir versuchten, unseren Beitrag zu leisten, damit das Land selbst auf einen neuen Pfad kam, da konnte man nicht einfach „weglaufen“, sondern hatte sich den täglichen Mühen zu stellen. All das schwang mit an jenem Abend. Wir haben später erfahren, dass einige junge Leute nach der Jugendversammlung ihre Ausreiseanträge zurückgezogen hatten. Sie hatten verstanden, dass man nichts verändert, wenn man flieht. Die jungen Leute wurden „hier“, im eigenen Land, gebraucht. Sonst wäre die Mauer niemals gefallen.
Aber sie ist gefallen, weil es genügend Menschen gab, die ausharrten, sich verknüpften, unterhakten und gemeinsam für Veränderungen im Lande arbeiteten.

Es hat zahlreiche Reaktionen auf die Jugendversammlung gegeben. Allerdings: Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten nichts. Wir wurden verschwiegen.
Die Staatssicherheit wertete die Sache aus und unter den kirchlichen Mitarbeitern, aber vor allem auch unter den vielen Jugendlichen selbst wirkte die Versammlung noch lange nach. Noch im Jahre 2021 schrieb mir jemand auf facebook, es sei seine „wichtigste Veranstaltung in jener Zeit“ gewesen und ihn noch heute in starker Erinnerung.

Mein Kollege Aribert Rothe in Erfurt hat früh schon in der Kirchenzeitung über die Jugendversammlung geschrieben, später dann hat er einen Text für die „Gerbergasse“ geschrieben, der hier verlinkt sein soll. Mein Kollege Christhard Wagner, der damals sehr engagiert bei der Vorbereitung und Durchführung der Versammlung beteiligt war, hat eigene Erinnerungen an jene Tage, die er vielleicht noch publizieren wird.
Mir selbst war wichtig, mit der hier vorgelegten Dokumentation über die Jugendversammlung 1988 etwa 30 Jahre später einen Baustein beizutragen, damit ein genaueres Mosaik-Bild über die späte DDR jener Jahre gezeigt werden kann und wir wegkommen von falschen Klischees, die von Leuten verbreitet werden, die nicht dabei waren.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (3) Das Tagebuch.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (3) Das Tagebuch.

Was nun folgt, ist ein Experiment. Ich veröffentliche erstmals Auszüge aus meinem Tagebuch aus jenen Wochen. Vieles wäre erklärungsbedürftig 30 Jahre danach. Ich belasse es dennoch in der Fassung, in der ich es notiert habe, kürze nur, was nicht in unseren Zusammenhang gehört.
Im Mai 1988 wird in Gotha die Jugendversammlung unter dem Leitspruch des Kirchentages „Umkehr führt weiter“ stattfinden.
Das Jahr 1988 beginnt in meinem Tagebuch so:

Montag, 4. – 10. 1. 1988

Kreisjugendpfarrerkonferenz in Neudietendorf. Am 5. nachmittags reisen Stefan Krawczyk  und Freya Klier an. Freya referiert über die Kaderpolitik im DDR-Bildungssystem, zeigt, wie sehr Margots[1] Bildungssystem an der Erziehung zur Mittelmäßigkeit interessiert ist. Stefan zeigt sein Brecht-Programm. Am Freitag (8.1.) ist Monika Maron zu einer Lesung da. Ich selber kann nicht die ganze Tagung über dabei sein, ich reise am 5. Januar mit „Gallenkoliken“ wieder ab.
Die Ereignisse in der Berliner Zionskirche und der „Umweltbibliothek“ bestimmen unseren Alltag. Überall im Land gibt es in den Kirchen Unterstützungsaktionen. Als dann die „Junge Welt“ einen harten Artikel gegen die Umweltbibliothek schreibt, fängt das Faß an, überzulaufen. In Weimar versuchen Gemeindeglieder, im Anschluß an einen Gottesdienst Solidaritätserklärungen[4] abzugeben, woran sie vom dortigen Superintendenten Reder gehindert werden. 
Von der Kreisjugendpfarrertagung geht ein Brief an Bischof Leich, in dem u.a. formuliert wird: „In noch größerer Sorge sind wir allerdings über das, was im Zusammenhang mit den Berliner Ereignissen in Weimar geschehen ist und wie Sie darauf reagiert haben. Wir befürchten, daß damit die Tendenz zu Unmündigkeit und Bevormundung, wie wir sie in der Gesellschaft beobachten, auch in unserer Kirche verstärkt wird. Dort wie hier scheint Verantwortlichkeit des einzelnen für das, was er sagt und tut, zu wenig gefragt zu sein. Es befremdet uns, daß Sie Superintendent Reder bestärkt haben, jungen Christen zu untersagen, eine Erklärung der Berlin-Brandenburgischen Kirche in Gottesdiensten zu verlesen und anschließend darüber ins Gespräch zu kommen. Wir sind der Meinung, daß mit dieser administrativen Maßnahme eine notwendige Meinungsbildung der Gemeinde verhindert wurde. Dies ist kein Einzelfall. Im Zusammenhang mit dem Auftritt von Künstlern in unseren Kirchen und auch dem Wirken von autonomen Gruppen in unseren Kirchgemeinden hat es ähnliche Vorfälle gegeben. So fragen wir: Auf welchen Weg befinden wir uns eigentlich als Kirche. Wir fordern von staatlichen Stellen mehr Durchschaubarkeit und Konfliktbereitschaft. Sollten wir nicht bereit sein, sie auch in unserer Kirche zu praktizieren…“

Ich lese in jenen Tagen Gandhi. Für eine monatlich stattfindende Jugendveranstaltung hatte ich mir überlegt, könnte es ein sinnvoller Beitrag sein, sich mit Gewaltfreiheit einmal gründlich zu beschäftigen. Die Reihe wird heißen: „Die groß waren durch ihren Geist. Pazifistische Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Wir lesen unter anderem Gandhi, Tolstoi, Zweig, Suttner und andere, alles Literatur, die in einem normalen Buchladen nicht zu bekommen ist, weshalb ich Texthefte herstelle und sie den Jugendlichen zur Verfügung stelle.

Sonntag, 10. Januar 1988 Abends „Nicaraguagruppe“ (wir betreuten einmal im Jahr eine Großveranstaltung in der Jenaer Friedenskirche „Hoffnung für Nicaragua“. Künstler der DDR wurden von uns um Werk-Spenden gebeten, wir hingen sie in der Kirche eine Woche lang aus und versteigerten sie dann zugunsten eines Kleinbusses für ein Krankenhaus in Nicaragua) . Rainer H. bringt „Perestroika“ von Michail Gorbatschow mit. Seit 1983 (wenn nicht noch länger her) der erste Abend, an dem ein Politiker wieder die Augen glänzen macht. Vereinbarung: Rainer und ich stellen das Buch dem Februar-Konvent vor.

Montag, 11. Januar 1988 Ich fange mit der Lektüre an. Michail Gorbatschow „Perestroika“. Die zweite russische Revolution (!). Eine neue Politik für Europa und die Welt. Aus dem Amerikanischen (!) (noch gibt’s keine DDR-Ausgabe!). von Übersetzergruppe Dr. Ulrich Mihr, Tübingen. Im Sommer 1987 geschrieben. Seit Ende 1987 in russisch und amerikanisch gehandelt. In der DDR bislang nur in West-Ausgaben zu haben, wenn man entsprechende Beziehungen hat.

Sonntag, 17. Januar 1988 In Berlin findet die alljährliche Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg statt. Einige Bürgerrechtler (Bärbel Bohley, Wolfgang Templin, Poppes u.a.) demonstrieren mit einem selbstgemachten Transparent mit einem Luxemburg-Zitat: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Sie werden verhaftet. Auch Stefan Krawzcyk ist dabei. Insgesamt werden etwa 160 Menschen verhaftet.
Diese „Luxemburg-Demonstration“ wird die Wende in der DDR einleiten, aber das wissen wir damals noch nicht.
Für die Arbeit in Jena wird wichtig, daß mein bester Mitarbeiter nach Berlin wechseln möchte. Das wird für mich schwierig, denn gerade für die Offene Arbeit ist er eine wichtige Stütze. Die Jungen Gemeinden bluten immer mehr durch Ausreisende aus. Die Aktiven gehen weg. In der Johannisstraße im Hinterhaus gibt es zwei Einbrüche, bei denen Elektronik geklaut wird, auch nimmt man den Flügel oben im Chorraum auseinander, was den Konflikt mit der „Normalgemeinde“ zusätzlich verschärft. Es ist Wasser auf die Mühlen derjenigen auch in der Kirche, die immer nach „Ordnung und Sicherheit“ rufen.

Sonntag 24. Januar 1988 Überall im Land beginnen die Fürbittgottesdienste. Ich fange in Jena damit an. Wir verwenden dafür die kleinen 18.00 Uhr Abendgottesdienste in der Stadtkirche. Heute sind ungefähr 80 Leute gekommen. Der „Informations- und Fürbittgottesdienst“ findet vor allem das Interesse der Ausreisewilligen. (Anmerkung aus dem Jahre 2021: aus diesen „Fürbittgottesdiensten für die zu Unrecht Inhaftierten“, die sich in manchen Städten an die „Friedensgebete“ in der Friedensdekade im Herbst eines Jahres anhängten, entstanden die Großdemonstrationen in Leipzig, Dresden, Berlin, Jena, Erfurt und zahlreichen anderen Städten. Wir begannen am 24. Januar 1988, also sehr früh damit).

Wir beginnen den Gottesdienst mit dem schönen Lied „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unserer Zeit“, ein Lied, das wir in letzter Zeit sehr oft singen. Predigttext ist Jesaja 2: Schwerter zu Pflugscharen. Ich predige dazu über Matthäus 5: Selig sind die Gewaltlosen

Wir verabschieden zwei Briefe: Einen als Solidaritätsbrief an die in Berlin Inhaftierten, einen zweiten an Rechtsanwalt Wolfgang Schnur[1], sich für die Inhaftierten einzusetzen. Ich lies zum Schluß des Gottesdienstes als „Lied gegen die Gewalt“ das Biermann-Lied „Du laß dich nicht verhärten in dieser harten Zeit“ spielen. Die Leute haben verstanden. Und die Stasi auch.

Der Stasi-Bericht über den Gottesdienst vermerkt am Schluß: „Das Zusammenwirken mit der SED-Kreisleitung Jena, dem Volkspolizeikreisamt und dem Staatsapparat entsprach den Anforderungen und verlief ohne besondere Vorkommnisse.“
An Wolfgang Schnur schreiben wir: „Lieber Bruder Wolfgang Schnur. Wir schreiben aus einem Abendmahlsgottesdienst in der Jenaer Stadtkirche, in dem wir uns mit den neueren Verhaftungen in Berlin auseinandergesetzt und für die Betroffenen Fürbitte gehalten haben. Wir sind froh darüber, daß Sie sich der Betroffenen angenommen haben und danken Ihnen dafür. Außerdem möchten wir uns für Ihre Hilfe während der Geschehnisse in der Berliner Umweltbibliothek bedanken. Uns verbindet die gemeinsame Hoffnung des Predigttextes aus Jesaja 2: „dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen…“ Mit herzlichen Grüßen Ihre (es folgen 77 Unterschriften).

An die Familien der Inhaftierten schreiben wir:

„Liebe Freunde

Wir fühlen uns auch betroffen von den Ereignissen der letzten Monate. Die neuesten Verhaftungen, Haussuchungen und Hausarreste zeigen uns deutlich, unsere Solidarität muß breiter werden.
Heute Abend haben wir in der Jenaer Stadtkirche einen Informations- und Fürbittgottesdienst gehalten.
Weiterhin wollen wir jetzt zur Unterstützung der Betroffenen sammeln.
Wir grüßen Euch mit dem Volkslied „Du laß Dich nicht verhärten…“

Daß ich das Biermann-Lied als „Volkslied“ erwähne, gehört zu den Augenzwinkereien, ohne die wir die Zeit damals nicht ertragen hätten.

Montag, 25. Januar 1988 Um die beginnende Solidaritätsbewegung im Keim zu ersticken, verhaftet das MfS zahlreiche Aktivisten der Berliner Oppositionsgruppen. Es kommt bis zum 2.2. in der ganzen DDR zu Solidaritätsveranstaltungen, an denen mehrere tausend Menschen teilnehmen. Es gelingt den Staatsorganen, die Verhafteten zur Ausreise aus der DDR zu bewegen.

Dienstag 26. 1. 1988
Ich bin zur „Aussprache“ über den Fürbittgottesdienst bei Genossin Margot Krause[2] bestellt. Beinahe schon ein Routine-Termin. Ständig bestellten die einen ein, dabei war klar, dass wir nichts ändern würden in unserer Arbeit.

Ich mache folgendes deutlich: Es hat sich um einen normalen Gottesdienst gehandelt und die Fürbitte ist Bestandteil eines jeden Gottesdienstes. Die Kirche und ich als Pfarrer habe das Recht, für jeden Bedrängten einzutreten und jeder der inhaftiert sei, sei ein Bedrängter. Der Staat habe bislang zu den Vorgängen keine Informationen gegeben, wir seien deshalb darauf angewiesen, uns selbst Informationen zu beschaffen. Auch Leute wie Stefan Krawzcyk, von dem erst heute bekannt geworden ist, daß er wegen des Verdachtes landesverräterischer Beziehungen festgenommen worden sei, sind Bedrängte. Ich habe in meiner Predigt gesagt: ich weiß nicht, wer im Recht ist, es ist aber die Aufgabe der Kirche, den Familien und Betroffenen beizustehen.“
Sie erklärt mir ziemlich barsch, ich solle „derartige Handlungen“ in Zukunft unterlassen und man werde „Angriffe auf die Staats- und Rechtsordnung der DDR, unter welchem Vorwand auch immer“, nicht dulden.

Sonntag 31. Januar 1988
Die Informationsabende in der JG Stadtmitte werden jetzt von ca. 60 bis 80 Leuten aufgesucht. Die Diskussionen darum, ob man sich mit den Ausreisewilligen solidarisieren solle, oder nur um die „eigenen“ Leute kämpfen solle, bestimmen die Abende. Täglich kommen neue Informationen. Täglich ist neu zu entscheiden, ob wir nach außen aktiv werden wollen oder lieber den behutsameren Weg gehen sollten, kirchliche Veranstaltungen zu nutzen. Wir verabreden, uns jetzt täglich zu treffen, um flexibel reagieren zu können. Die jungen Leute werden ungeduldig und wollen „auf die Straße“.

Montag, 1. Februar 1988
Abends gibt es ein Treffen des „Vorbereitungsteams“, VT, in der Johannisstraße. Sup. Siebert ist auch gekommen. Ungefähr 50 Leute sind da. Es sind bewegte Zeiten. Siebert rät von „übereilten Aktionen“ ab, die Jugendlichen drängen auf Aktionen.

Dienstag, 2. Februar 1988
Ich muß nach Weimar. Dort findet ein Treffen des Koordinierungsausschusses des Thüringer Basisgruppentreffens in der Herderkirche statt. Walter Schilling und andere werden dort sein. Abends sitzen wir wieder in der Johannisstraße in Jena.
80 Jugendliche sind gekommen.
Die heutige Nachricht: Stefan Krawzcyk und Freya Klier sind ausgereist. Alle sind überrascht über diese Wendung der Dinge.

Die Friedensgebete finden jetzt wöchentlich in der katholischen Kirche statt.
Die wöchentlichen ökumenischen Friedensgebete, die ohnehin jeden Mittwoch stattfinden, werden jetzt genutzt. Die Landeskirche will keine „Sonderveranstaltungen“ in der Stadtkirche zu den tagesaktuellen Themen.
Auch wieder so ein Beispiel für vorauseilenden Gehorsam.

Mittwoch, 3. Februar 1988
Wir haben Konvent der kirchlichen Mitarbeiter im Lutherhaus.
Ich halte zusammen mit Rainer H. ein Einführungsreferat über Gorbatschows „Perestroika“. Das Buch gibt es nur unter dem Ladentisch. Oder man hat Glück, und Freunde aus dem Westen bringen es einem mit. Wir haben es gelesen und Superintendent Udo Siebert hatte uns gebeten, es den Kollegen vorzustellen.

Samstag, 13. 2. 1988
Im Stadtzentrum Jenas findet eine „Wanderung[3] von Ausreisewilligen statt. Etwa zwanzig Leute haben sich zusammengefunden.

13. – 15. Februar 1988
Die Partner-JG aus Hofgeismar ist in Jena zu Gast. Die jungen Leute sind wie immer privat untergebracht. Ralf Kleist hilft in bewährter Weise mit guter Organisation. Die Hofgeismarer wollen uns mit einer Geldspende für das Rüstzeitheim in Kunitz helfen.

Samstag, 20. Februar 1988
Im Stadtzentrum findet wieder eine „Wanderung“ von Ausfreisewilligen statt. Die Zahl der beteiligten Leute wächst von Woche zu Woche. Heute sind es ungefähr 60.

Sup. Siebert ist im Urlaub. Dr. Lehmann, Pfarrer in Cospeda, vertritt ihn. Er ist an diesem Tag zu einem Gespräch beim Oberbürgermeister, wie ich später in der Stasiakte finde. Lehmann wurde aufgefordert „dem Mißbrauch kirchlicher Räume in der Stadt Einhalt zu gebieten“. Lehmann „beurteilt den Ernst der Lage nicht anders“, sagt die Gesprächsniederschrift. Lehmann berichtet dem Oberbürgermeister, daß ich ein politisches Tagebuch führe; er habe sich mit mir auch schon auseinandergesetzt. Auch zu ihm seien zwei Ausreisewillige gekommen, er habe „diese Leute abgewiesen, sein kirchlicher Auftrag sei die Wortverkündigung“. Lehmann erklärte sich bereit, „nochmals mit Pfarrern zu sprechen und mit ihnen über Methoden zu beraten, um im Vorfeld Provokationen auszuschließen“ schreibt Frau Krause in ihrem Bericht.
Damals weiß ich von alledem nichts. Ist vielleicht auch gut so. Ich hätte ihn vermutlich öffentlich in der Dienstbesprechung angegriffen.

19. – 21. Februar 1988
In Hirschluch gibt es eine Vollversammlung der Initiative „Kirche von unten“. Einige Jenaer werden hinfahren, um die aktuellen Informationen aus Berlin mitzubringen.

Samstag, 27. 02. 1988
Im Stadtzentrum findet wieder eine „Wanderung“ statt.
Diesmal sind es schon ungefähr 300 Beteiligte.
Es gibt Verhaftungen. Ich bemühe mich um Kontakte zum Büro des Rechtsanwalts Vogel. Es gibt Mitarbeiter von ihm auch im Raum Gera. Ich bekomme Kontakt zu Rechtsanwalt Wohlrab.
Abends kommen aufgeregt Punks in die Johannisstraße gerannt, verschanzen sich im Hinterhaus. Sie hatten in der Privatwohnung eine Geburtstagsfete begonnen, waren von der Polizei „aufgelöst“ worden. Jetzt saßen sie im Hinterhaus. Ich muß nachts raus und mit der Polizei über einen friedlichen Abzug verhandeln.

Bei den Ausreisewilligen finden jetzt nachts halb drei Hausdurchsuchungen statt, Kinder müssen z.T. sehr lange alleine bleiben, die Eltern sind verschwunden, haben für Freunde zur Betreuung der Kinder keine Vollmachten geschrieben.
Insgesamt sind 32 Personen inhaftiert worden.
Weitere 180 wurden „zugeführt“ und „befragt“. Sie mußten ein Papier unterschreiben, „daß sie kirchliche Veranstaltungen und kirchliche Einrichtungen nicht zu staatsfeindlichen Aktivitäten mißbrauchen“ würden. Man versucht, ihnen die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen zu verbieten.
Besonders fordert man die Leute auf, nicht mehr an Veranstaltungen „bei Stadtjugendpfarrer Kasparick“ teilzunehmen.

Donnerstag, 3. März 1988 Werner Leich trifft sich mit Erich Honecker.

Samstag, 05. März 1988
Wieder findet in Jena eine „Wanderung“ statt. Die Übergriffe der Polizei werden härter.
Rechtsanwalt Wohlrab hält es für wahrscheinlich, daß es zu Schnellverfahren kommt. In Gera werden Geldstrafen von mindestens 1000.- erwartet, in Halle habe man 2.500 DM festgesetzt, die innerhalb einer Woche zu zahlen sind.

Dienstag, 08. März 88
Die Krause von Abteilung Inneres schreibt an diesem Tag eine „Einschätzung zur zentral beantragten kirchlichen Dienstreise von Pfarrer Kasparick“, an deren Ende sie die Reise natürlich ablehnt. Damals weiß ich davon nichts, rechnete allerdings nicht damit, dass man mich in den Westen fahren lassen würde. Ich fand die sauber veranlasste Ablehnung der Reise später in den Stasiakten.

In der JG Stadtmitte halte ich den ersten Perestroika-Abend[1]. Es sind eine ganze Reihe Leute gekommen. Das Buch ist gut. Besonders die Analyse.

Montag, 14. März 1988 Erklärung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR: Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, „zu Verhältnissen beizutragen, unter denen Menschen gerne leben können und Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht mehr stellen wollen.“

Dienstag, 15. März 1988
Ich habe in Stadtmitte den zweiten Perestroika-Abend.

Mittwoch, 16. März 1988
In der Dienstbesprechung gebe ich einen ausführlichen Bericht über die Lage bei den Ausreisewilligen. Albrecht Schröter[2] unterstützt mich, andere widersprechen heftig. Besonders kritisch ist Pfarrer K, Siegfried Nenke und unser neuer Kollege am Melanchthonhaus. Er argumentiert: Er habe die Bitte von Theologiestudenten, auch in Melanchthon Fürbittgottesdienste zu halten, mit dem Argument abgelehnt, die Studenten würden sich ja sonst auch nicht in Gottesdienste einbringen.
Tja. Der Druck auch von den Kollegen auf uns in der Jugendarbeit war recht massiv. Es war eben nicht so, wie später die Legenden lauteten, die Kirche sei das Dach der Opposition gewesen. Es waren wenige, die uns unterstützten.

Samstag, 19. März 1988 Basisgruppentreffen in Weimar. Neueste Berichte aus Berlin und anderen Orten.

Dienstag, 22. März 1988
Ich biete „Perestroika-Abende“ an. Heute der Dritte Teil. Es ist die öffentliche Lesung aus dem gleichnamigen Buch von Michail Gorbatschow. Heute fragen wir nach den „Konsequenzen für uns“. Die Teilnahme ist eigentlich gut, ich überfordere die jungen Leute aber ein wenig. Eine Diskussion kommt kaum auf. Ihnen ist mehr nach konkreten Aktionen.
Vollversammlung der „Kirche von unten“ in Weimar.
Die JG Stadtmitte plant im Vorderhaus die Einrichtung eines „Leseladens[3]“.

Die Vormittage sind mit den Beratungen von Ausreisewilligen gefüllt. Es hat sich herumgesprochen, daß ich ihnen zuhöre und mit ihnen nach Wegen suche, die ihren Protest einerseits deutlich machen, sie andererseits aber möglichst vor dem Knast bewahren. Sie sitzen bei mir in der Wohnung auf dem langen Flur in einer langen Wartereihe wie beim Zahnarzt.
Ich berate immer nur unter vier, maximal unter sechs Augen, wenn es Verwandte sind. Insbesondere geht es darum, anhand des Strafgesetzbuches der DDR sich auszurechnen, für welche Aktion man wieviel Strafe bekommen kann.
Die Entscheidung, ob man dann dennoch an der geplanten Aktion festhält, muß jeder für sich treffen.

Freitag, 25. März 1988
„Jugendkreuzweg“. Diesmal beginnen wir im Albert-Schweitzer-Sprengel in Jena Ost und gehen bis nach Kunitz. Wir gehen immer schön oben auf den Hängen des Saaletals[1]. In der Ruine der Kunitzer Kirche halten wir die Schlußandacht. Ich wollte ganz bewußt in diese Bauruine gehen. Sehr eindrücklich ist diese Andacht mitten in der kaputten Kirche. Oben über der Empore steht irgendwas von Ewigkeit….

Samstag, 26. März 1988
In der Johannisstraße findet die Vollversammlung des „Kirchentages von unten“ statt. Wir reden vor allem über die Ausreisewilligen unter uns, über den Wehrersatzdienst, die SoFD-Initiative[3]. Es wird eine Erklärung verabschiedet, die unsere Beziehungen zu den Ausreisewilligen klären soll: sie werden aufgefordert, die Arbeit der kirchlichen Basisgruppen nicht für ihre persönlichen Ziele zu mißbrauchen. Aber, wir sagen auch, daß der Staat das Ausreiseproblem lösen muß. Er kann es nicht durch Kriminalisierung dieser Leute erreichen, sondern er muß endlich anfangen, den Dialog mit den Menschen zu führen, die das Land verlassen wollen.

Dienstag, 5. April 1988
Superintendent Siebert muß wieder mal beim Rat der Stadt bei Herrn Jähn antanzen. Diesmal geht es um die „ausländischen Künstler“, die in den Orgelkonzerten in der Stadtkirche spielen sollen, um eine neue Veranstaltung „Hoffnung für Nicaragua“ Ende April und um meine abgelehnte Dienstreise. Siebert will Gründe hören, warum ich die Reise im Auftrag des Bundes der Evangelischen Kirchen nicht antreten darf. Jähn, der Scheinheilige dazu: „Der Mitarbeiter verwies auf das mit Pf. Kasparick am 31.3.1988 gemäß Auftrag durch den Rat des Bezirkes geführte Gespräch und stellte erneut fest, daß uns seitens des Staatssekretariats keine Gründe mitgeteilt worden seien.“ Tja, so verlogen haben sie diskutiert: er selbst hatte ja die Gründe für die Ablehnung geliefert, wie ich später in der Stasiakte nachlesen konnte.

Siebert läßt nicht nach, will immer wieder die Gründe erfahren. Der Stasibericht dazu:
„Dabei äußerte er: Pf. Kasparick beschäftige sich unter hohem Verantwortungsgefühl und beinahe heldenhaftem persönlichem Einsatz mit den Problemen von Antragstellern; dabei habe er diese u.a. vor Demonstrationen in der Öffentlichkeit gewarnt. Zur Bemerkung des Mitarbeiters, daß bei dem Gemeindeabend am 16. im Niemöllerhaus einige Antragsteller, die mindestens 30 Jahre oder älter waren, äußerten, sie würden seelsorgerisch durch Pf. Kasparick betreut, bemerkte Sup. Siebert: Es sei innerkirchliche Entscheidung, welcher Pfarrer eine solche seelsorgerische Arbeit durchführe; die Kirche habe sich das Problem nicht ausgesucht. Ihm sei darüber hinaus bekannt geworden, daß Antragsteller bei Zuführungen bzw. Befragungen vor der Teilnahme an einer Veranstaltung von Pf. Kasparick am 11.3. gewarnt worden seien und eine entsprechende Ormig-abgezogene Erklärung unterschreiben sollten. Es sei für die Kirche ein unerträglicher Zustand, daß einer ihrer Amtsbrüder, Pf. Kasparick „in den Augen von MfS oder der Kriminalpolizei „suspekt“ sei, ohne daß Gründe dafür genannt würden. Anschließend äußerte Sup. Siebert u.a., Landesbischof Leich habe im Gespräch vom 5.3.88 darauf aufmerksam gemacht, daß es eine Reihe ungeklärter gesellschaftlicher Fragen gebe, auf die man der Kirche eine Antwort geben solle; bei manchem Bürger entstehe der Eindruck, unser Staat sei nur für den Staatsapparat da.“
Der „Mitarbeiter“, wie sich Jähn in seinen Protokollen immer gern bezeichnet, schreibt zum Schluß dieses Protokolls:
„Das Gespräch machte deutlich, daß Sup. Siebert sich mit den im Gespräch am 3.5. 88 durch Landesbischof Leich erhobenen Gesprächsforderungen voll identifiziert und daß er mit den Aktivitäten von Stadtjugendpfarrer Kasparick, besonders der Arbeit mit Antragstellern, einverstanden ist und sie gutheißt“.

Das gehörte zu den unschönen Aufgaben von Superintendent Udo Siebert: Er musste „den Buckel hinhalten“ in solchen Gesprächen. Das hat er gut gemacht, er hat sich, so gut er konnte, eingesetzt. Ich werd’ es ihm nicht vergessen.

Im April finden erste Dialog-Veranstaltungen statt, zu denen ich hingehe. Die „Christlichen Kreise“ der CDU laden den Studentenpfarrer und mich zur Diskussion ein. Die Bude ist voll. Die Stasi ist natürlich auch da. Wir üben den Dialog.

Dienstag, 03. Mai 1988
Die Stasi gibt ein Telegramm nach Jena durch: „Unserer DE[1] wurde bekannt, daß Pfarrer Kasparick, Ulrich in Abstimmung mit dem Greizer Pfarrer Matthias P für den 27.05.88 19.30 Uhr im Lutherhaus (Greiz, Gerichtsstraße) eine Veranstaltung mit dem Thema: „Neues Denken und die Gemeinde“ die Durchführung eines Informations- und Gesprächsabends über das Buch von M.S. Gorbatschow „Perestroika“ plant. Darüber hinaus wurde vereinbart, daß der zum Umgangskreis des Pfarrers P. gehörende Greizer Karli Coburger (Mitglied einer kirchlich orientierten alternativen Umweltgruppe) am 5.6. um 16.00 Uhr in Jena einen Umweltvortrag zum Thema „Bewahrung der Schöpfung – eine Herausforderung für uns“ hält. Zur Realisierung gezielter operativer Maßnahmen bitten wir um Rücksprache.“

Samstag 7./8. Mai 1988
Wieder mal ein Startversuch, das Rauchen zu lassen. Ergebnis: den ganzen Tag der Kopf wie leer. Gotha ist noch nicht fertig[1], geistert mir den Abend über durch den Kopf. Klare Gedanken wären hilfreich. Für Gotha.
„Umkehr“ – ein Riesenthema.
Problem: für den Abend in Gotha: Ich habe noch keine „Botschaft“ für die Jugendlichen. Ich hab’ noch nichts für sie, das ich in eine Methode gießen könnte. Am besten wird sein, wenn ich einfach den „Ideen“ morgen Abend noch mal im Einzelnen nachgehe. Vielleicht ergibt sich da etwas, mit dem man etwas anfangen kann. Jetzt geht es wieder mal auf halb eins zu, ich muss mich für ein paar Stunden hinlegen.

Sonntag 8. Mai 1988
Leicht bedeckt. 7.30 Uhr. Die Nacht war nicht die längste, aber wohl ausreichend. Der Schreibtisch lenkt mich immer noch zu sehr ab. Eigentlich gehören diese Morgenstunden mit zu den besten, wenn ich sie für mich habe. Aber innerlich bin ich noch nicht so ausgeglichen, wie ich’s bräuchte für die Arbeit.

Donnerstag 12. Mai bis Sonntag 15. Mai 1988 Jugendversammlung in Gotha
Schließlich hatten wir die zündende Idee: das Thema „Umkehr führt weiter“ wollten wir als Pantomime gestalten.
Dazu vier Sprecher, die die unterschiedlichen thematischen Zugänge liefern konnten. Die Texte sind sehr gut geworden, das Zusammenspiel mit Musik und Pantomime war hervorragend.
Es ist eine Glanzleistung der beteiligten Jugendlichen geworden, wir haben die Herzen der jungen Leute erreicht.
Über 400 waren in der Kirche, als unser sehr kurzes Stück aufgeführt wurde. 10 Minuten, die es in sich hatten. Manchen ist die Sprache weggeblieben, andere haben geweint. Sehr viele waren regelrecht beeindruckt und haben noch lange danach davon gesprochen. Ein schöner Erfolg.


[1] Die Vorbereitungen zur „Jugendversammlung“ im Vorfeld des Kirchentages


[1] Diensteinheit


[1] Gern wären wir durch die Stadt gegangen, aber ich war es leid, wegen einer solchen „Demonstration“ ständig wieder zu den Genossen zu müssen.

[3] Für die Einführung eines „Sozialen Friedensdienstes“


[1] wir hatten das Buch aus dem Westen. Und weil nicht alle Zugang hatten zu dem Buch, deshalb machte ich Gemeindeabende darüber, damit möglichst viele hören konnten, was sich in Rußland tat.

[2] Dr. Albrecht Schröter wird später Oberbürgermeister in Jena sein.

[3] Etwa nach dem Beispiel der Berliner Umweltbibliothek. Die Idee war, dort Literatur zugänglich zu machen, die man sonst nicht kriegen konnte.


[1] Auch er ein IM der Stasi.

[2] Stadträtin für Inneres, die Dienstvorgesetzte von Herrn Jähn

[3] Bei mir waren Ausreisewillige in der Sprechstunde gewesen, die „öffentliche Aktionen“ machen wollten, um ihre Ausreise zu beschleunigen. Wir haben zusammen das Strafgesetzbuch der DDR gelesen, damit ihnen klar wurde, was sie riskieren (Gefängnis). Und dabei sind uns diese „Wanderungen“ eingefallen: statt „Demonstration“ – die waren verboten, konnte man „wandern“ gehen, das war noch nicht verboten.


[1] Margot Honecker, DDR-Ministerin für Bildung. Sie legte großen Wert darauf, dass „Bildung“, insbesondere „Bildung der Jugend“ ausschließlich Sache des Staates sei, Kirche solle sich da raushalten.

[4] Sie wollten eine Stellungnahme der Brandenburgischen Evangelischen Kirche verlesen, was ihnen verwehrt wurde.

Museumsbesuch. Oder: etwas über Vorurteile


Berlin-Karlshorst

Berlin-Karlshorst. Zwieseler Straße 4, 10318 Berlin.
Hier wurde die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands unterschrieben. Heute beherbergt das Haus ein Deutsch-Russisches Museum. Für jeden Berlinbesucher ein „Muss“. Denn es gibt wenige Orte, die für Europa von so einschneidender Bedeutung waren.
Gestern war ich nun endlich einmal da. Hatte mir viel Zeit mitgebracht, wollte in Ruhe besehen, was da an Weltgeschichte zu besehen ist.
Die Deutschen und die Russen. Die Russen und die Deutschen. Europa und die Russen. Die Russen und Europa – was für eine große, wechselvolle Geschichte. Zeiten der Konfrontation und des Krieges – aber auch Zeiten der Entspannung und Kooperation. Ein überaus interessanter Ort mit einer sehr sorgfältig gearbeiteten Dauer-Ausstellung.
Es gibt im Hause auch eine kleine Bücherstube mit sehr bemerkenswerter Literatur.  Auf ein Buch will ich besonders hinweisen:  „Unsere Russen. Unsere Deutschen. Bilder vom Anderen. 1800 bis 2000.“ Erschienen im Christoph-Links-Verlag Berlin, ISBN 978-3-86153-460-0.
Es geht um Vor-Urteile. Die Vorurteile zwischen Russen und Deutschen, Deutschen und Russen. Und die haben eine sehr lange, wechselvolle Geschichte.

Der SPIEGEL 5. März 2007
Titelbild

Exemplarisch sei das hier im Beitrag an einem Plakatmotiv gezeigt, das wohl jedem in Deutschland bekannt vorkommt. Man „kennt das“:
Der „bedrohliche Russe“, der den Westen „fest im Blick“ hat und ihn „abhängig machen“ will.
Nun hat dieses Motiv jedoch eine sehr lange Geschichte, die im Band glücklicherweise erzählt wird.
Es ist die lange Erzählung vom „Antikommunismus“, vom „Antibolschewismus“ (unter Hitler war noch die Rede vom „jüdischen Bolschewismus“, den es zu „vernichten“ gelte).
Länger als ein halbes Jahrhundert wirkt dieses Motiv bis tief ins Unterbewusstsein.
„So ist der Russe“ soll die Botschaft sein. „Er bedroht uns“. „Gegen den müssen wir uns schützen“…..
Eine solche Rede ist allerdings meilenweit entfernt von der Entspannungspolitik unter Willy Brandt in den siebziger Jahren.
Das ist auch meilenweit entfernt von jener bemerkenswerten Rede, die der russische Präsident in deutscher Sprache im Deutschen Bundestag gehalten hat – am 25. September 2001; auf Einladung des deutschen Bundeskanzlers.
Ich erinnere mich noch sehr genau, ich war junger Abgeordneter. Putin hat damals unter anderem vor dem Erstarken des IS gewarnt und eine internationale Zusammenarbeit gegen den IS gefordert – man hat nicht auf ihn gehört.
Im Jahre 2007 sah die Welt schon wieder anders aus, da tauchte „das Motiv“ wieder auf. Auf der Titelseite des SPIEGEL. Der Hauch des Kalten Krieges war wieder zu spüren. Aus jenen Jahren stammt das hier verhandelte Plakatmotiv: aus dem Jahre 1953, um genau zu sein:

Geschichte eines Plakat-Motivs von 1953 bis 2007

da ist das Plakat der CDU von 1953 (links oben);
und das Plakat der NPD von 1972 (rechts oben);
dann ist da ein amerikanisches Plakat von 1982 – und immer hat man diesen „Russenblick“ und die „roten Linien“, die von ihm ausgehend, den Betrachter des Szene bedrohlich fixieren.

Es ist interessant, wie die europäische Wahrnehmung des „Russen“ von diesem Motiv geprägt worden ist. Ein halbes Jahrhundert – das ist nicht wenig.
Verfolgt man die aktuelle Debatte um die russisch-europäischen Beziehungen, wird man wieder auf diese sehr alten Vor-Urteile stoßen.
Da ist er wieder, der „bedrohliche Russe“……
Es ist ein großes Verdienst dieses sehr sorgfältig gearbeiteten, umfangreichen Buches vom Chr. Links Verlag, der langen wechselvollen Geschichte der gegenseitigen Vorurteile einmal nachzugehen, sie genau aufzuzeigen – damit sie ihre Macht verlieren können und Verständigung möglich wird.

Erhard Eppler ist in Anknüpfung an Egon Bahr zuzustimmen: Friede zwischen Europa und Russland wird nur mit Russland gelingen, niemals gegen Russland. Deshalb ist es gut und richtig, die gegenseitigen Vorurteile wahrzunehmen – und sie dann beiseite zu legen.
Denn sie behindern, was dringend notwendig ist: den Dialog.

Ein Lob an die Ministerin. Die Debatte ist eröffnet


Dr. Barbara Hendricks hatte gestern (19.04.2017) via social media darauf hingewiesen, dass der Kampf um die Erreichung des sogenannten Zwei-Grad-Ziels im Klimaschutz sicherheitspolitisch (!) klüger sei als die Aufstockung des Militärbudgets auf 2% des BIP, wie es die NATO vor etlichen Jahren verabredet hatte.
Sie hat mit diesem Hinweis völlig Recht.
Denn, wie die Adelphi-Studie im Auftrag des Auswärtigen Amts nun aufzeigt, gibt es einen Zusammenhang zwischen Klimawandel und sich stark verändernden Sicherheitsstrukturen in der Welt: wenn Staaten instabiler werden, haben terroristische Gruppen bessere Möglichkeiten, zu agieren. Das Auswärtige Amt hatte schon 2006 in einer Studie den Zusammenhang von Sicherheit und Klimaschutz thematisiert.
Diese Auseinandersetzung um die Verwendung der knappen finanziellen Ressourcen zwischen Klimaschutz und Militärbudget muss geführt werden.
Es wird eine harte Auseinandersetzung werden. Aber diese Auseinandersetzung muss geführt werden, denn es geht um Zukunftsfähigkeit.
Sowohl die „Falken“ in den Kreisen der Rüstungsindustrie und in Militärkreisen als auch rechtspopulistische Klimawandel-Leugner sowie Vertreter einer alten Energie-Politik werden sich verbünden, um eine Verbindung der Themen Klimawandel und Sicherheit grundsätzlich zu leugnen und in Frage zu stellen. Das ist erwartbar und deshalb nicht sonderlich aufregend.
Die Frage ist allerdings: wer wird sich auf der anderen Seite dieses Verhandlungstisches niederlassen? Welche Allianzen sind da zu schmieden?

Auf dem Hintergrund dieser zu erwartenden heftigen argumentativen Konfrontation stellt sich mir eine einfache Frage:
Was machen die Grünen eigentlich so?

Das angesprochene Thema berührt ihre Kernthemen: Klimaschutz und Sicherheit.
Aber: man hört nichts. Reineweg nichts.
Man überlässt es der Bundesumweltministerin, dieses zentrale Thema zu platzieren. Das verstehe, wer will.
Mich geht das im Grunde nichts an, bin ich doch nicht verantwortlich für die Partei der Grünen. Aber: mich wundert das schon.
Man tanzt bislang im Bundestagswahljahr auf allerlei kleinen und diversen Sonderbühnen herum, die Umfragen sprechen eine deutliche Sprache, aber das eigentliche Kernthema, die Basis, das Fundament ökologischen Engagements: Klimaschutz und Sicherheit lässt man „links liegen“.
Die Grünen müssen das mit sich ausmachen.

Ich bin jedenfalls Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks ausgesprochen dankbar, dass sie nun dieses zentrale Thema öffentlich angesprochen und damit die Debatte eröffnet hat.

Wenn euch jemand befiehlt „Helm auf!“ – nehmt den grünen.


Als mich Dr. Rupert Neudeck vor einigen Jahren fragte, ob ich für das Kuratorium der Grünhelme zu gewinnen sei, habe ich ihm sofort zugesagt.
Der Grund dafür war simpel:
Das Kuratorium ist überkonfessionell und überparteilich zusammengesetzt.
Und wir brauchen dringend Menschen, die Gräben zuschütten.
Menschen, die Gräben ausheben und vertiefen, gibt es schon genug.
Die Grünhelme folgen einer alten Idee von John F. Kennedy. Es geht darum, in Krisengebieten mit kleinen Aufbauteams, die möglichst überkonfessionell zusammengesetzt sind, konkrete gemeinsame Aufbauarbeit zu leisten: Schulen, Krankenhäuser, feste Böden für Zelte (wie gerade in Idomeni), Ausbildung von Handwerkern.

Wenn man in diesen Tagen die Nachrichten aufmerksam liest und sich auf die Seele fallen lässt, könnte man verzagen. Denn diejenigen, die von „Abgrenzung“ oder gar „Ausgrenzung“ reden, sind viel  zu laut.
Die Eine Welt braucht aber vor allem Zusammenarbeit, nicht Auseinandersetzung.
Und deshalb sind die Grünhelme nötiger denn je.
Ich habe eine sehr große Achtung vor den jungen Menschen, die als Tischler, Maurer, Elektriker und aus anderen Gewerken einfach „raus gehen“. Für drei Monate zunächst. Für ein Taschengeld und eine kleine Versicherung.
Das sind Menschen, die brauchen keine „Selfies“, weil sie für andere Menschen in Not konkret anpacken.
Das sind Menschen, die reden auch nicht lange, sondern packen an.
Einige von diesen besonderen jungen Menschen habe ich persönlich kennengelernt bei einem Workshop der Grünhelme in der Nähe von Bonn vor einigen Jahren. Und mir hat die unaufgeregte, konkrete und sachliche Art sehr gefallen, mit der diese jungen Leute da ihre Aufgabe wahrnehmen.
Freiwillige allesamt.
Da ist keiner, der ein „Amt“ will, keiner, der die Öffentlichkeit sucht.
Keiner, dem es um Selbstdarstellung ginge.
Bescheidene, engagierte, gut ausgebildete junge Leute, Handwerker zumeist, die ihre Gaben und Fähigkeiten für eine gemeinsame Sache zur Verfügung stellen, die Gräben zwischen Religionen und Konfessionen überwinden durch konkrete, gemeinsame Arbeit.
So kann Frieden wachsen.
Und diese jungen Leute geben mir Hoffnung.
Deshalb unterstütze ich die Grünhelme gern. Und ich wünsche mir, dass der Kreis der Unterstützerinnen und Unterstützer weiter wächst.
Man findet sie nicht nur über ihre Homepage, sondern natürlich auch auf facebook.
Und: Weitersagen hilft ihnen.

Bombenstimmung im Advent

Bombenstimmung im Advent

Das Tempo ist diesmal sehr besonders. Am 13. November 2015 gab es Terroranschläge in Paris. Und bereits am 4. Dezember 2015 beschließt der Bundestag , in den Krieg gegen den IS einzutreten. Es werde „sehr lange dauern“, ist zu erfahren und „gefährlich“ sei das auch. Das wars dann auch schon.
Das Mandat dazu ist überaus schwammig. Man bezieht sich auf die Bitte Frankreichs um Unterstützung und auf einen EU-Vertrag, der zum gegenseitigen Beistand verpflichtet. Ein Mandat des Weltsicherheitsrates gibt es nicht. Und das Mandat bedeutet im Kern einen blanko-Scheck fürs Militär: nicht nur über Syrien soll geflogen werden, sondern über einem Gebiet bis zum Persischen Golf und über dem Roten Meer – also fernab von Syrien.
Das eigentliche Ziel ist unklar, selbst Militärs wundern sich über die unprofessionelle Vorbereitung, denn es gibt nicht mal eindeutige Kommandostrukturen.
Die Regierungsfraktionen werden zustimmen (in der Probeabstimmung 1 Gegenstimme bei der Union, 13 Gegenstimmen bei der SPD); Linke lehnt ab, Grüne lehnen mehrheitlich ab.
Ich erinnere mich gut, wie wir nach den Anschlägen vom September 2001 um eine Position gerungen haben – Afghanistan betreffend. Nächtelang ging das. Tagelang. Freundschaften sind zerbrochen. Um Grundsätzliches wurde gestritten. Niemand hat es sich irgendwie leicht gemacht.
Auch damals ging es ja um den „Krieg gegen den Terror“. Völlig klar war uns: ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates würde gar nichts gehen.
Das ist diesmal alles sehr anders.
Deutschland hat sich an den Krieg gewöhnt.
Es gibt ihn zwar noch, den „Kampf um die Bedeutung der Worte“ – Frau von der Leyen, die derzeitige Verteidigungsministerin, weigert sich strikt, – ähnlich wie einer ihrer Vorgänger im Afghanistan-Krieg – von „Krieg“ zu sprechen, die Armee spricht „selbstverständlich“ von Krieg. Es hat auch rentenrechtliche Konsequenzen, das war schon beim Afghanistan-„Einsatz“ so. „Einsätze“ sind billiger als „Kriege“.

Der eigentliche, der zentrale Punkt aber – der kommt im Grunde gar nicht vor in der Debatte. Es geht um die Frage, die schon Erhard Eppler und andere in früheren Jahren nachdrücklich gestellt haben:
Was kann man tun gegen „privatisierte Gewalt“, die eben nicht von Staaten, sondern von Terrorgruppen oder terrorbereiten Einzelpersonen ausgeht?
Die Regierung vertritt eine „Doppelstrategie“ – einerseits der „Wiener Prozess“, andererseits das militärische Bündnis mit Frankreich („damit Europa nicht auseinanderbricht“ (Steinmeier)). Der „Wiener Prozess“ ist schon deshalb nötig, weil sich die Teilnehmer der „Allianz gegen den IS“ nicht einig sind. Man muss sich überhaupt erst mal über die Frage verständigen, wen man eigentlich zu bekämpfen gedenkt. Das kann dauern.
Solange wird gebombt. (Die Verteidigungsministerin hat gerade gestern und heute darauf hingewiesen, dass die Dauer des „Militäreinsatzes“ vom Erfolg des Wiener Prozesses abhinge).

Aber: kann man mit Bomben privatisierte Gewalt bekämpfen?
Nein, das kann man nicht.
Denn mit jeder Bombe, die das Haus eines Zivilisten trifft – und das wird reichlich geschehen – entsteht eine neue Terror-Zelle. Bomben vergrößern die Gefahr.
Wenn eine Staatengemeinschaft privatisierte Gewalt, wie sie in Terroranschlägen zum Ausdruck kommt, mit Krieg bekämpft, mit Flugzeugträgern, Fregatten, Tornados und Bomben – dann zeigt sie damit lediglich nur, dass sie der Logik der Gewalt folgt – und nicht der Logik des Rechtsstaates.

Denn: privatisierte Gewalt in Gestalt von Terroranschlägen ist nichts andres als ein Gewaltverbrechen.
Und ein zivilisiertes Land stellt Gewaltverbrecher vor Gericht.
Die mittlerweile beinahe „automatische“ Logik auf einen Terroranschlag, nun müsse eine „eindeutige Antwort“ – in Gestalt von Bomben – gegeben werden – das entspricht steinzeitlichem Denken. Haust du mich, hau ich dich. Sprengst du meine Leute in die Luft, spreng ich deine Leute in die Luft.
Mit Rechtsstaatlichkeit hat das jedoch gar nichts mehr zu tun.

Die Völkergemeinschaft wird eine neue Antwort auf die global grassierende privatisierte Gewalt entwickeln müssen.
Ich will mich nicht von der Hoffnung verabschieden, dass es der Völkergemeinschaft schon bald gelingen möge, nicht mehr der Logik der Gewalt, sondern der Logik der Rechtsstaatlichkeit zu folgen. Gewaltverbrecher gehören vor ein Gericht. Und das steht in Den Haag.

Das aber bedeutet: Weltinnenpolitik.
Willy Brandt hat schon 1979 auf die Notwendigkeit eines solchen neuen Denkens hingewiesen.

Die Völkergemeinschaft ist noch weit von diesem Ziel entfernt. Die USA haben bislang Den Haag noch nicht mal anerkannt – aus naheliegenden Gründen.
Aber:
wenn die internationale Staatengemeinschaft der privatisierten Gewalt in Gestalt von Terroranschlägen (die man niemals von der Erde wird verbannen können, sowenig wie man Gewaltverbrechen verhindern kann) wirklich fundamental etwas entgegensetzen will – dann wohl das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.
Und zu diesem Prinzip gehören Anklage und Verteidigung. Es genügt nicht, jemandem zum „Terroristen“ zu erklären und ihm Bomben auf den Kopf zu werfen. Denn das erzeugt nur neue Anschläge.

Das alte Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wurde abgelöst vom Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Das war ein gewaltiger zivilisatorischer Schritt.
Es war ein Ausdruck von hohen zivilisatorischen Standards, dass die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs die Täter nicht einfach abgeknallt haben.
Nein, man hat sie vor Gericht gestellt. Das war der Fortschritt. Wir dürfen nicht zurückfallen in altes Denken.
Das Gegenteil ist not-wendig.
Die Welt braucht mehr Rechtsstaatlichkeit, nicht noch mehr militärische Gewalt.

Confessio – ich bekenne


Jede Religion hat ihr „Bekenntnis“, ihr – mündlich oder schriftlich fixiertes – Fundament. Bei manchen Religionen – im Christentum beispielsweise – gibt es gar mehrere, unterschiedlich alte Bekenntnisse. Bekenntnisse sind Zeitzeugnisse, weil sich Glaube immer aktuell in der jeweiligen Zeit ausdrückt.
Wie kann man nun umgehen mit dieser Vielfalt in einer globalisierten Welt?
Schlecht ist es, wenn sich Religionen gegenseitig ihre Bekenntnisse um die Ohren hauen nach dem Motto: „nur ich habe Recht“ oder nach dem Motto „du musst genau so glauben, wie ich“.
Das christliche Glaubensbekenntnis beginnt deshalb nicht mit „du sollst glauben“, sondern mit „ich glaube“ (lateinisch: credo).
Es steht auch nirgends geschrieben, dass man sein Bekenntnis seinem Nachbarn ins Ohr brüllen solle. Schon gar nicht wird verlangt, dass man sein Bekenntnis dem anderen mit Gewalt aufzwingen solle. Weshalb das Grundgesetz klugerweise auch von Religionsfreiheit spricht.
Was also dann?
Am überzeugendsten wirkt ein Bekenntnis, wenn Wort und Tat übereinstimmen, wenn also das Handeln dem gesprochenen Wort entspricht.
Wenn im Christentum bekannt wird: „Ich glaube, dass Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde ist“, dann wird damit ausgesagt, dass alles Geschaffene, also auch der Mensch aus einem anderen Land mit einer anderen Religion, Gottes Geschöpf ist. Solches Bekenntnis macht den anderen Menschen mir gleichrangig.
Solches Bekenntnis verbietet mir geradezu, den Vertreter einer anderen Religion als „geringer wertig“ zu behandeln.
Wir wissen, das Religionskriege besonders brutal verlaufen. Nicht nur die europäische Geschichte kennt zahlreiche solcher Kriege und Auseinandersetzungen.

Deshalb ist allen Versuchen zu wehren, „im Namen des Christentums“ andere Menschen dergestalt zu bekehren, dass sie ein christliches Bekenntnis annehmen müssten. Solche Versuche gibt es jedoch nach wie vor. Sie sind nicht selten versteckt, kaschiert und eingewickelt in Vorstellungen davon, dass sich Menschen aus anderen Ländern „unseren Sitten und Gebräuchen“, womöglich unseren „Werten“ unterzuordnen hätten. Wenn dieser „Wert“ die Einsicht ist, dass alle Menschen von Gott geschaffene und mit gleichen Rechten ausgestattete Menschen sind, ist dagegen nichts einzuwenden.
Wenn dieser „Wert“ allerdings bedeuten sollte, „ihr habt euch unseren Vorstellungen anzupassen“ – dann ist Gefahr im Verzuge. Denn das birgt gewaltigen Konfliktstoff.
Gegenwärtig sind – wieder mal – Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, die sind der Auffassung, das „christliche Abendland“ müsse insbesondere gegenüber „dem Islam“ verteidigt werden. Ja, mehr noch, gar der christliche Glaube müsse „verteidigt“ werden.
Dazu ist zu sagen: Glaube wird nicht verteidigt.
Glaube wird bekannt.

Am besten geschieht das dadurch, dass Reden und Handeln übereinstimmen.