Die Wintersonnenwende dieses zu Ende gehenden Jahres werde ich wohl lange nicht vergessen. Als „Blutmond“ war Frau Luna am morgen aufgegangen, hatte gar ihre Finsternis gezeigt. Und am Abend, wir waren schon irgendwo im Nirgendwo kurz vor dem Schneehaus, das uns Herberge sein würde für die Feiertage, zeigte sie sich in einer Größe und Pracht am klaren Winterhimmel, wie ich sie noch nie gesehen habe. Das Schneeland leuchtete, Schatten gab Frau Luna, die wir merkwürdigerweise als „den Mond“ bezeichnen. Ein Ton klang über das Land im Frost, wie ich ihn noch nie gehört habe.
Der Klang des Mondes.
In jener Nacht konnte ich ihn hören.
Mit dem Licht kam der Klang.
Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen Farbe und Klang. Die Sprache weiß es. Sie hält Worte dafür bereit: „Klangfarbe“ und „Farbklang“, „Farbton“ auch. Farben klingen. Töne lassen sich in Farbtönen ausdrücken. Es ist eine Frage der Schwingung. Denn Farben sind nur schneller schwingende Töne. Der „Sonnenton“ – hinreichend oft oktaviert-, ergibt Orange – die Farbe des Mönchsgewandes im Buddhismus. Joachim-Ernst Berendt hat in seinem Buch „Die Welt ist Klang“ darauf hingewiesen.
Die zarten Gräser im Schnee klingen ebenso. Ganz fein ist ihre Farbe, sehr fein ihr Klang. „Schläft ein Lied in allen Dingen“ wusste Eichendorff. Es ist seltsam, wunderbar, merkwürdig – wie die Dinge ineinander fließen. Klänge in Farben, Farben in Klänge. Der Krach, der uns im Alltag umgibt, überdeckt diesen feinen Zusammenhänge. Man braucht tiefe Stille, um eine Ahnung vom Zusammenhang zwischen Klang und Farbe zu bekommen.
Eine Stille ist gut, wenn selbst die Schritte im frostigen Schnee störend und zu laut wirken. Sie ist tief, wenn sich das feine Sirren im Ohr einstellt, das eintritt, wenn die Schritte still stehen.
„Wenn du auslöschst Sinn und Ton – was hörst du dann?“ fragt ein KOAN im ZEN.
Ein KOAN kann man nicht mit dem Kopf beantworten.
Denn es zielt auf eine Erfahrung, die aus der Praxis kommt.
Aus der Praxis der Sammlung.
Aus der Praxis der geübten Stille.
Wenn ich die Stille betrete, vielleicht genauer: wenn ich in sie eintrete wie in einen großen Raum, dann weitet sich der Horizont. Die Welt wird groß. Im Kleinen kann ich das Große wahrnehmen. In der Stille den Klang. Und Altes klingt ganz neu und frisch.
Wir haben alte Lieder gespielt und gesungen an diesen Feiertagen im Schnee, irgendwo im Nirdendwo in einer kleinen Ferienwohnung in einem winzigen Dörfchen irgendwo zwischen Hamburg und Bremen.
Die Stille hatte uns aufgenommen. Der Mond hatte sein Licht und seinen Klang geschickt zum Beginn dieser Tage. Der Klang wurde intensiver, je mehr wir die Stille an uns heran ließen.
Und dann traten die alten Melodien hinzu. Fünfhundert Jahre alte Lieder, manche noch älter. Lieder von der Weih-Nacht. Menschen haben sie immer wieder gesungen, diese alten Lieder. Von dem feinen Sproß, der auch am abgehauenen Stamm wieder wächst. „Es ist ein Reis entsprungen aus einer Wurzel zart…..“.
Wenn ich das stille Jahr bedenke, das nun hinter mir liegt, die Erlebnisse und Erfahrungen, die es gebracht hat, dann fühle ich mich beschenkt. Viel Überraschendes ist da in meine leere Schale gefallen. Diese leere Schale, die ich am Morgen des Tages dem Leben hinhalte, damit es sie füllen möge.
In dem Maße, wie ich mir nichts vornehme für den Tag, in dem Maße werde ich beschenkt. Es ist eine wundersame Erfahrung.
Mein Leben wird reicher, je weniger ich mir vornehme.
Begegnungen werden überraschend.
Je mehr ich lasse, um so gelassener werde ich.
Meister Ekkehart hat wie kaum ein anderer über dieses schöne Wort nachgedacht. „Gelassenheit“.
Es geht um das sich einlassen auf das, was uns im Tiefsten trägt. „Sitz nehmen“, „sich niederlassen“, „seinen Ort finden“ – dazu führt Gelassenheit, die aus dem Los-Lassen kommt. Es ist seltsam, klingt paradox: je mehr ich loslasse, um so mehr erfahre ich mich als eingebunden, verwurzelt, getragen. Gerade das Los-Lassen führt zur Erfahrung von Sicherheit und Halt.
Gerade das Nicht-Tun, das Nicht-Wollen führt zur Erfahrung großer Intensität, führt zur Erfahrung von sprudelnder Lebendigkeit.
Wir haben Nikolai Gogol gelesen. Erzählungen aus der Sammlung „Abende auf dem Weiler in Dikanka“. Geschichten aus der Ukraine. „Die Nacht vor Weihnachten“.
Und die Bauern kamen vom Ofen wieder herunter, auf den sie sich schon gelegt hatten, um den Winter zu überstehen.
Ihre Lieder klangen wieder.
Und ihre schönen alten Geschichten.
Die Frauen hatte ihre schönsten Farben angelegt. Und die Männer ihre schweren Pelze.
Der Frost klang in jedem Schritt der Pferde, die den Schlitten zogen hinüber ins Dorf, wo man schon von ferne die Lieder hören konnte.
Farben und Klänge mischen sich.
Sehe ich das eine, höre ich das andre.
Der Horizont wird weit.
Das Große zeigt sich im Kleinen.
In der Sprache der Alten hören wir: „und Gott wurde Mensch“.
Am späten Abend des 24. Dezember waren wir in einer Musik. Jaques Brel war unser Wegbegleiter. „Was wäre, wenn es wahr wäre……“ fragt er in einem seiner Lieder.
Was wäre, wenn das wahr wäre: das Große zeigt sich im Kleinen.
Der Klang in der Farbe.
Der Mondklang im Schnee.
„und Gott wurde Mensch“ sagen die Alten.
Ich lausche den alten Worten nach.
Ihre Farben gefallen mir.