„Weisst du, Marie, ich habe gelernt, Mitarbeiter zu führen, Kunden zu betreuen und Millionen zu investieren. Doch wie ich das eigene Leben gelingend führen soll, das habe ich nie gelernt. Beruflich war ich ein Profi, privat jedoch immer ein Amateur. Du hast recht, wenn du dich der grossen Fragen des Lebens annimmst.“ (16).
Da schreibt ein Mann (Jahrgang 1965) aus der Perspektive eines 11-jährigen Mädchens. Das ist mutig. Und Ausdruck einer großen Einfühlung. Er schreibt vom Gehirntumor des Vaters und von den Gefühlen und Fragen der Tochter.
„Ist das wohl das grosse Geschenk der Schwachen? Sie ermöglichen es den anderen, helfen zu können. Werden wohl deshalb starke Personen zwar geachtet und verehrt, jedoch selten geliebt? Weil sie diese Möglichkeit nicht bieten? Ist das der grösste Irrtum der Menschen, die geliebt werden möchten? Dass sie meinen, je mehr Leistungen und Erfolg sie anhäufen, desto mehr würden sie geliebt? Doch letztlich wird niemand geliebt wegen seiner Leistungen und Erfolge.“ (25).
Es ist eine doppelte Liebesgeschichte. Die des Vaters zu seiner Tochter. Und die der Tochter zu ihrem Vater.
Marie schreibt ihre Fragen auf. Und ihr Vater versucht, sie zu beantworten. So kommen sie sich näher.
Die Krankheit des Vaters führt zu großer Nähe zwischen den beiden.
Marie fragt zum Beispiel: „Wie muss ich leben, damit ich keinen Krebs bekomme?“
Sie fragt auch: „Warum machen wir die Umwelt kaputt?“ (35 ff.) „Ein sonderbares Geschöpf, dieser Mensch“ sagt der Vater. „Wir, die wir die Erde an den Rand des Abgrundes gebracht haben, nennen unsere Zivilisation hoch entwickelt. Und Naturvölker, die über Jahrhunderte auf einfachste Weise im Einklang mit der Natur lebten, ohne diese auszubeuten, nennen wir rückständig oder gar primitiv.“ (38).
Marie fragt weiter: „Wieviel brauchen wir für ein glückliches Leben?“ (38).
Und dann kommt die Idee: Marie soll durchs Haus gehen und alles, was im Haus ist, in drei Gruppen teilen. „I“ markiert alles, was man wirklich zum Leben braucht. „II“, was man nicht unbedingt braucht, was aber Leben und Alltag erleichtert. „III“ bekommen Sachen, „die wir nicht wirklich brauchen, die nur unser Leben bequemer und schöner machen, die uns ablenken oder die unserem Ansehen gegen aussen dienen.“ (40).
„Soll ich auch einmal Mami werden?“ (48 ff).
Kapitel 6: Freundschaft, die Freude schafft (54 ff).
Marie lernt den Unterschied von Kollegen, Freunden und Lebenspartnern kennen.
„Von wem bekommst du Trost und Mitgefühl? Von Kollegen, Freunden oder vom Lebenspartner?“ fragen sie beim Frühstück.
„Und Papa erzählte, wie es ihn schmerzte mit der Krankheit feststellen zu müssen, dass er nur einen einzigen richtigen Freund hatte, mit dem er über alles reden konnte.“ (55).
„Und wie gewinnt man richtig gute Freunde, mit denen man über alles reden kann und mit denen man sich mitfreuen und mitleiden kann?“ fragte ich.
Papa überlegte lange. „Echte Freundschaft entsteht dann, wenn ich alles einbringe. Alles, was ich denke, was ich besitze. Alle meine Gefühle.“
„Wieso tun wir uns so schwer damit?“
„Schau mich an.“ Papa zeigte auf sich. „Vermutlich braucht es Krankheiten, Trennungen und Ähnliches, um sein Inneres nach aussen kehren zu können. Was wir als Lebenskrisen abtun, sind eigentlich Türöffner. Wir werden schwach und damit offen für neue Freundschaften.“ Papa machte eine kurze Pause. „Solange wir uns stark fühlen, zeigen wir nur unser Schaufenster.“ (57).
Kapitel 7 Ruf der Berufung
„Wie finde ich den richtigen Beruf?“ ist die nächste Frage, die Marie auf ihr Engelchen-Zettel schreibt, um sie dem schwerkranken Vater vorzulegen.
„Weißt du, meine Berufswelt war die meiste Zeit wie der Wilde Westen. Alles Cowboys – meine Manager-Kollegen. Zwar Mittagscüli statt High Noon, Krawatte statt Lederhose, Laptop statt Colt – aber alles voll im Griff. Schwächen? Denkste! Gefühle? Nur für Weicheier! Und anstelle der Steigbügel gibt es heute diese kleinen Technogerätchen….“ (61) schreibt Michael Egli, Jahrgang 1965, studierter Staatswissenschaftler, der seit 1992 in diversen Managementfunktionen gearbeitet hat – wie der Klappentext verrät und erzählt uns damit etwas von sich. (61).
Der Vater muss zum zweiten Mal operiert werden. „Diesmal blieb er länger im Krankenhaus. Er musste regelmässig in die Bestrahlung. Er hasste das“ (67).
Kapitel 8 Gedankenlos glücklich. Ein Kapitel über die Meditation und die „Mühle im Kopf“.
„Das ist kein Wegtreten, Marie. Im Gegenteil. Es sind doch diese dauernden Gedanken, die uns ablenken. Wir Menschen sind Denkmaschinen. Und vor lauter Nachdenken über die Vergangenheit und die Zukunft entgeht uns die Gegenwart. Ohne Gedanken sind wir viel aufmerksamer. Wie viele Katastrophen durchdenken wir im Kopf und begegnen ihnen nie im Leben.“ (71)
Kapitel 9 Gefühlsklavier
„Wieso ist man zornig und wütend? Wie soll ich mit meinen Gefühlen umgehen?“ fragt Marie ihren kranken Vater. (79).
Ein schönes Kapitel über Gefühle, Carl Gustav Jung und das Unbewusste.
Kapitel 10 Kann, aber muss nicht
„Ich hatte mir Zeit gelassen mit der nächsten Frage. Absichtlich. Denn ich hatte mit dem lieben Gott eine Vereinbarung getroffen. Er durfte Papa erst zu sich holen, wenn alle meine Fragen beantwortet waren“ erzählt Marie. (89). „Wie weiß ich, daß ich richtig entscheide?“. Ein Kapitel über die Philosophie
Kapitel 11 Du da oben
„Während der Adventszeit musste Papa häufiger ins Krankenhaus….“ (98) Und er zieht sich wieder mal in ein Benediktinerkloster zurück. Marie besucht ihn.
Und hat eine Frage: „War es wirklich so mit der Weihnachtsgeschichte und Jesus in Bethlehem? Gibt es den lieben Gott wirklich?“ (99)
Ein Kapitel über die Weisheit der Klöster, über Mystik und die Welt, über Weihnachten und den Buddhismus.
„Wir Menschen meinen, so wie unsere Sinne und unser Geist die Welt sehen, so sei sie. Das ist die grosse Täuschung. Es gibt sie nicht, die Welt. Wir machen sie uns selber. Tag für Tag.“ (102)
„Je mehr ich über den Tod nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass nicht die Angst vor dem Tod es ist, die die Menschen blockiert. Es ist die Angst zu leben.“ (104).
Kapitel 12 Liebe
„Ja, Marie. Wenn der liebe Gott das Meer ist und unsere Seele eine Welle darin, dann ist die Liebe der Wind.“ (114).
„Die Tage wurden wieder länger. Der Frühling nahte. Neues Leben erwachte. Neues Unheil nahte. Als ich am Mittag von der Schule nach Hause kam, winkte mich meine Nachbarin zu sich. „Dein Papa wurde von der Ambulanz abgeholt!“ (119)
Kapitel 13 Zeit läuft davon. Oder etwas über Denki und Smiley
„Es gibt keine weiteren Bestrahlungen mehr, auch keine Chemo. …..“ (122).
„Schön, wieder Zeit mit dir zu verbringen, Marie.“
„Ich weiss Papa. Es ist echt streng im Gymnasium. Ich hatte einfach zu wenig Zeit.“
„Ja, Marie, keine Zeit ist die grosse Plage unserer Zeit. Ich kenne sie nur zu gut. Sie hat mich über viele Jahre verfolgt. Ich meinte immer, diese Plage komme von aussen, bis ich feststellte, dass sie aus mir selbst kommt.“ (124).
Kapitel 14 Lebensrad
„Das, worauf sich deine Aufmerksamkeit richtet, das wächst.“ (138)
„Marie, auf dem Weg der Lebenskunst fällst du immer wieder zurück. Das gehört dazu. Grosser Glaube, grosse Zweifel und grosse Entschlossenheit sind die drei Wegbegleiter. Sie begegnen jedem Wanderer auf dem Weg des Lebens. Grüsse sie freundlich und gehe mit ihnen.“ (138)
Kapitel 15 Kokon und Schmetterling
„Marie, denke immer daran. Wenn du das Rauschen der Tannen hörst, einen Windzug an deiner Wange spürst oder Regentropfen auf deiner Haut, dann bin das vielleicht ich.“ (139).
„Marie, warum stellst du letzte Engelchen-Frage nicht?“
„Welche Frage?“
„Marie, zu den Fragen, wie man leben soll, gehört auch jene, wie man sterben soll.“ (140).
Um es kurz zu sagen: es ist ein sehr gutes Buch! Es gehört zu seiner Qualität, dass es Resonanzen auslöst im Innern.
Ein passendes Geschenk zum Fest. Nicht nur für Jugendliche, sondern für alle, die auf dem Wege sind.
Michael Egli
Marie und das Lebensrad
Eine Erzählung zu den großen Lebensfragen
Lokwort Verlag 2010
150 Seiten € 19,80
ISBN 978-3-906786-37-7
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