Ich lebe in Worten. Worte sind Heimat und Fremde seit Jugendtagen. Worte bergen und zerstören. Worte halten und lassen.
In diesen Tagen, in denen die Erde wankt, lese ich alte Worte. Denn die Worte meiner Zeit erweisen ihr Unvermögen.
Seit Jahrtausenden wurden diese alten Worte weitergegeben von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter.
Es sind hebräische Worte.
Der große „Steller der Schrift“ Martin Buber hat sie verdeutscht, hat ihre Sperrigkeit und Vorzüglichkeit in Worte unserer Sprache umgegossen, ihre Form und Gestalt, ihr Inneres bewahrend, damit sie auch bei uns und in unserer Sprache funkeln wie Edelsteine.
Ich lese sie am Morgen nachdem man gestern den Tod gefunden hatte. Man fand ihn in Pfützen. Man fand ihn im Rauch. Man fand ihn in der Erde. Man fand ihn im Meer.
Gestern erfuhr die Welt, dass im fernen Japan, das uns doch so nah ist, der Tod gefunden wurde in Fukushima. 10.000fach seien die Grenzwerte überschritten in jenen Pfützen von Kühlwasser, die man in Kellerräumen fand unter den Reaktoren. Unsere Vorstellungskraft wird gesprengt. Da liegt ein Material in den Kellern, daß noch nach 340.000 Jahren den Tod bringt. Nun tritt es an den Tag.
Behälter bersten und geben den Tod frei.
Er kommt still.
Man findet ihn in Pfützen, man findet ihm im Rauch, man findet ihn im Meer.
Nur der Ticker des Zählers zeigt ihn an.
Unsere Kraft, sich vorzustellen, was das bedeutet für die vielen Millionen Menschen, die in der Umgebung leben, reicht nicht aus.
Dafür haben wir keine Bilder, keine Sprache. Dunkle Ahnungen vielleicht. Annäherungen an das Unvorstellbare. Mehr nicht. 1 Kilogramm dieses Materials genüge, so sagen es Physiker, die Menschheit zu zerstören. Man weiß aber, daß in jenen feuchten Kellern mehrere Kraftwerksladungen lagern….
Die Erde bebte. Und das Meer erhob sich.
Nur eine Welle kam.
Gemessen an der Größe des Ozeans eine winzige. Gemessen an der Größe unserer Zivilisation eine gewaltige.
Sie spülte einfach hinweg, was wir „Zivilisation“ nennen. Ganze Orte. Ganze Häuser. Viele zehntausend Menschen mitsamt ihren Autos und Fernsehern, Kühlschränken und Computern.
Die Zerbrechlichkeit unserer „stolzen Zivilisation“ stand uns plötzlich vor Augen.
Das Menetekel an der Wand. Die Schrift, die der König nicht zu lesen verstand.
In diesen Stunden, in denen das Unvorstellbare Realität wird Stunde um Stunde, Tag um Tag, lese ich alte Worte.
Man hat sie weitergegeben von Generation zu Generation, von Jahrtausend zu Jahrtausend.
„Das Menschlein, wie des Grases sind seine Tage,
wie die Blume des Feldes, so blühts:
wenn der Wind drüber fährt, ist sie weg,
und ihr Ort kennt sie nicht mehr.
Aber SEINE Huld,
von Weltzeit her und für Weltzeit
ist über den ihn Fürchtenden sie,
seine Bewährung für Kinder der Kinder
denen, die seinen Bund hüten,
denen, die seiner Verordnungen gedenken,
sie auszuwirken.
ER hat seinen Stuhl im Himmel errichtet,
und sein Königtum waltet des Alls.
Segnet IHN, ihr seine Boten
-starke Helden, Werker seiner Rede-,
im Horchen auf den Schall seiner Rede!
Segnet IHN, ihr all seine Scharen,
die ihm amten, Werker seines Gefallens!
Segnet IHN, ihr all seine Werke
an allen Orten seines Waltens!
Segne, meine Seele, IHN!
(aus Psalm 8, verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Stuttgart 1976).