Die Skepsis überwiegt. Eine ungehaltene Neujahrsrede.


Schaue ich mir die erkennbaren langfristig wirkenden Entwicklungen im zurückliegenden Jahr an, überwiegt die Skepsis. Man muss nicht erst Erwin Chargaff lesen, um zum begründeten Skeptiker zu werden.
Fukushima: in San Francisco hat man mittlerweile erhöhte Radioaktivität gemessen. Das, was da tagtäglich in Fukushima ins Meer fließt an hochkontaminiertem Wasser ist durch die Meeresströmungen nun in Amerika angekommen. Und wird sich weiter über die Welt verteilen. 650 Jahre etwa dauert das, wie Meeresforscher wissen. Bei einer Halbwertzeit von 16.000 Jahren kein Problem. „Fukushima ist überall“ haben einige zutreffend formuliert. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass die maßgeblichen Industrienationen das Desaster nicht wirklich begriffen haben. Denn es fehlt an einem wirksamen Ausstieg aus dieser Art der Energiegewinnung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Kraftwerk in die Luft fliegt. Günther Anders hatte Recht: der Mensch steht entsetzt vor den von ihm erschaffenen Maschinen und beherrscht sie schon längst nicht mehr. Fukushima ist längst das Symbol für eine zerstörende Art des des Wirtschaftens geworden.
„Diese Wirtschaft tötet“ hatte Papst Franziskus kürzlich markant formuliert. Sie tötet nicht nur Andere, Schwächere, Marginalisierte. Sie tötet sich selbst.

TTIP. Das geplante Freihandels-Abkommen zwischen der EU und den USA. Streng geheim verhandelt unter Ausschluss der Parlamente. Es sieht einen „Investitionsschutz“ für Multis vor, der es ihnen ermöglichen soll, Staaten auf Schadenersatz zu verklagen, falls deren nationale Gesetzgebung geplante Investitionen – in Kraftwerke beispielsweise – „behindert“. Der Widerstand dagegen formiert sich zwar, ist aber bislang völlig ohne Einfluss. Nicht mal die Berichterstatter im EU-Parlament sind über das Abkommen informiert. Nur weniges sickert an die Öffentlichkeit.
Dieses Abkommen wird zu einer weiteren Beschleunigung der Zerstörung natürlicher Ressourcen führen, denn das durch das Abkommen beabsichtigte Wachstum ist nicht nachhaltig. Es geht im Kern darum, die bestehende Art des Wirtschaftens noch „effektiver“ zu machen. Hauptziel: Gewinnmaximierung. Das zwischen den USA und Europa geplante Abkommen ist ja nicht das einzige seiner Art. Der Prozess der beschleunigten Gewinnmaximierung im Namen des Wachstums wird ja auch durch zahlreiche vergleichbare Abkommen gesichert.

Geheimdienste. Der Chaos-Computer-Club hat nun auf seiner Jahrestagung in Hamburg die schlichte, aber verstehbare Formulierung gefunden: „Der NSA gehört das Internet“.  Totale Überwachung der weltweiten Kommunikation durch die „Dienste“ der reichen Welt. Egon Bahr warnt deshalb vor einem Krieg: „Es wäre das erste Mal, dass eine grundlegend neue Technik nicht für einen Krieg eingesetzt würde“. Hört man solche Stimmen? Nein.
Das Grundgesetz gilt nicht mehr. Die Grundrechte der Bürger, einst streng durch die Verfassung geschützt, sind beliebig geworden. Die Geheimdienste schert das alles nicht. Das Parlament und die Regierung auch nicht. Das ist katastrophal. Denn das Fundament der Demokratie hat keine wirksame Verteidigung mehr. Das Fundament wankt.
Es gibt keinen wirksamen Widerstand gegen diese Entwicklung. Weder in den Parlamenten, noch in den Regierungen, noch in den Bevölkerungen. Das Wort vom „cyber war“ ist längst gängiger Sprachgebrauch. Und die Sprache zeigt wie ein Seismograf, was zu erwarten ist.

Europa. Die Fundamentalismen nehmen zu. Rechtsorientierte Parteien werden stärker. Der bevorstehende Europa-Wahlkampf wird dies überdeutlich zeigen. Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab geworden. Über 20.000 Flüchtlinge sind mittlerweile auf dem Weg nach Europa ertrunken. Und die Union schottet sich immer mehr ab (FRONTEX etc.). Der Widerstand dagegen ist marginal (von einigen Weihnachtsansprachen abgesehen) und völlig folgenlos. Leute wie der unermüdliche Jean Ziegler werden zwar gelesen, man klatscht ihm auch Befall. Aber es bleibt folgenlos.

Der Kampf um die Sicherung der letzten Rohstoffe nimmt weiter an Schärfe zu. Sogar der international eher bedeutungslose deutsche Koalitionsvertrag nimmt das Stichwort von der „Rohstoffsicherung“ auf und verlangt entsprechende „Maßnahmen“, um der „Wirtschaft“ den „Zugang zu den Ressourcen“ zu ermöglichen. Man erwartet von der Politik, „behilflich“ zu sein. In Afrika vor allem. Denn dort lagern die für eine IT-gestützte Wirtschaft die wertvollen seltenen Erden.
Die Spannungen zwischen reicher und armer Welt nehmen zu.
Das Tempo der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens nimmt zu.
Der politische Widerstand gegen solche Zerstörungstendenzen ist minimal, eigentlich gar nicht vorhanden, denn der Glaube an das „Wachstum“ ist ungebrochen.

Demokratie. Politische Stiftungen haben darauf längst hingewiesen: die Skepsis sehr vieler Menschen gegenüber demokratischen Systemen nimmt weltweit ab. Fundamentalismen gewinnen Oberwasser. Die Spannungen steigen weiter an, weil die Ungerechtigkeit wächst. In der stärksten Volkswirtschaft Europas führt die übergroße Koalition zu einer weiteren Entmachtung des Parlaments, ein schon seit längerem zu beobachtender Trend. Die politische Klasse, insbesondere Regierungen und Parlamente haben eine erschreckend geringe Akzeptanz.

Zynismus. Verfolgt man die öffentliche Debatte insbesondere in den Netzwerken, fällt der zunehmende Zynismus, der sich als „Humor“ tarnt, sofort ins Auge. Viele Menschen haben im Grunde ihre Fahne eingezogen, haben „resigniert“, retten sich ins Kabarettistische und in den Zynismus, verkriechen sich in noch verbliebene private Nischen.

Nun ist es zwar auch so, dass ausserparlamentarische Initiativen und Netzwerke durch das Internet an Bedeutung gewinnen. Die Zivilgesellschaft organisiert sich auf diesem Wege weltweit. Das ist eine tröstliche Entwicklung. Ihre politische Wirksamkeit jedoch ist – abgesehen von einigen wenigen Petitionen – marginal.

Nun habe ich nicht wenige Jahre meines Lebens – um genau zu sein, mehr als die Hälfte des bisher gelebten Lebens – als politisch aktiver Mensch verbracht. Während der zweiten deutschen Diktatur und in dem Vierteljahrhundert danach.
Mir sind Abläufe und Gepflogenheiten in Parlament und Regierung aus eigener Arbeit und eigenem Erleben durchaus vertraut.
Vielleicht auch gerade deshalb überwiegt die Skepsis, ob es noch gelingen kann, wirklich umzusteuern.
Das kommende Jahr 2014 wird an die „Schlafwandler“ erinnern. Christopher Clark hat dieses bemerkenswerte Buch 2013 vorgelegt.
Manchmal ist mir, als taumelten die modernen Gesellschaften ähnlich wie 1914 gleichsam „wie Schlafwandler“ in eine erneute, weltweite Katastrophe.
Es sollte mich freuen, wenn ich mich irre.

„…und der Zukunft zugewandt“ oder: etwas über das „Menetekel“


Eine Gruppe japanischer Journalisten wird nun in die Todeszone von Tschernobyl aufbrechen, um sich ein „Bild von der Zukunft“ zu machen.
So berichtete es am 4. April 2011 die abendliche „Tagesschau“.

Ist das eine mögliche Zukunft? Nicht nur in Nordost-Japan?
Leben wir in einer Zeit, in der man in „Todeszonen“ erfahren kann, wie es in Zukunft aussehen könnte?
Die Worte versagen angesichts dessen, was in und um Fukushima geschieht.
Die Sprache hat dafür keine Worte.
„Fukushima“ selbst wird zu einem neuen, mit Erfahrung erfüllten Wort werden, vielleicht gar zu einem Symbol.
Worte entstehen, wenn Menschen ihren Erfahrungen Ausdruck geben.
Worte transportieren Erfahrung.
Wenn sich der gesellschaftliche Kontext verändert, verlieren Worte Bedeutungsinhalte. Manchmal geraten Worte gar ganz und gar in Vergessenheit.
„Fukushima“ klingt schon heute, etwa drei Wochen nach der Katastrophe, nach vielerlei: es klingt nach tausendfachem Tod; es klingt nach Verantwortungslosigkeit; es klingt nach Hilflosigkeit von Regierung und Wirtschaftseliten; es klingt nach unaussprechlicher Not; es klingt nach unabsehbaren Folgen, es klingt nach Zeitenwende, es klingt nach millionenfachem Protest, es klingt nach Ende einer Entwicklung.
Das Wort trägt Bilder von gewaltigen Demonstrationen gegen Atomenergie in sich; es trägt Bilder einer entsetzlichen Katastrophe in sich. Zerstörte high-tech-Anlagen heißen „Fukushima“; das mit radioaktivem Wasser verseuchte Meer heißt „Fukushima“.
Nun also heißt Fukushima auch „Zukunft“.
Die japanischen Journalisten wollen – ziemlich genau 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl – besichtigen, wie die Zukunft um Fukushima sein wird.
Schon vor 25 Jahren sprachen einige vom „Menetekel“. Jenes „Zeichen an der Wand“, das König Belsazar nicht „lesen“ konnte, weshalb er einen Deuter kommen ließ, denn sogar die Weisen des Hofes konnten die Schrift nicht lesen.
Der König sah diese Schrift „während eines Festes“ (wer wollte nicht sehen, daß wir mit unseren Industriegesellschaften „auf der Höhe des Festes“ angekommen sind) plötzlich an der Wand, wie uns die alten Schriften überliefert haben.
Es ist eine grandiose uralte Erzählung, überliefert im Daniel-Buch.
Blind ist der König, denn er kann „die Schrift nicht lesen“.
Untauglich sind die Weisen des Hofes, denn sie können „die Schrift nicht lesen“.
Alle „Ehtikkommissionen“ werden der „Königin“ nicht raten können. Alle „Fachleute“ werden nicht weiterwissen.
Wir können es sehen. Täglich.
Wie sie improvisieren und fummeln und ausprobieren und ratlos mit leerem Blick vor die Kameras treten, um all das Elend, das sich da ausbreitet gebetsmühlenartig als „harmlos“ und „für den Menschen ungefährlich“ zu klassifizieren.
Und täglich wird es schlimmer.

Diese japanischen Journalisten jedoch wollen dem Spektakel, das ihnen da Regierung und TEPCO täglich vor Augen führen (spectaculum!), nicht länger folgen.
Sie wollen sich „ein eigenes Bild“ machen von der Zukunft.

Deshalb fahren sie nach Tschernobyl.
Was für ein Vorgang!
Sie holen sich Rat auf einem Friedhof.
Sie wollen sich einstellen auf eine mögliche Zukunft in ihrer Heimat.
Weil sie den Oberen nicht mehr länger glauben wollen, nehmen sie Kontakt auf mit Menschen, die die „Zeichen“ zu „deuten“ wissen: sie suchen das Gespräch mit Menschen von Tschernobyl.

Spät in der Nacht finde ich einen ersten Bericht über diese Reise bei den Tagesthemen und füge ihn hier ein.

Alte Texte


Ich lebe in Worten. Worte sind Heimat und Fremde seit Jugendtagen. Worte bergen und zerstören. Worte halten und lassen.
In diesen Tagen, in denen die Erde wankt, lese ich alte Worte. Denn die Worte meiner Zeit erweisen ihr Unvermögen.
Seit Jahrtausenden wurden diese alten Worte weitergegeben von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter.
Es sind hebräische Worte.
Der große „Steller der Schrift“ Martin Buber hat sie verdeutscht, hat ihre Sperrigkeit und Vorzüglichkeit  in Worte unserer Sprache umgegossen, ihre Form und Gestalt, ihr Inneres bewahrend, damit sie auch bei uns und in unserer Sprache funkeln wie Edelsteine.
Ich lese sie am Morgen nachdem man gestern den Tod gefunden hatte. Man fand ihn in Pfützen. Man fand ihn im Rauch. Man fand ihn in der Erde. Man fand ihn im Meer.
Gestern erfuhr die Welt, dass im fernen Japan, das uns doch so nah ist, der Tod gefunden wurde in Fukushima. 10.000fach seien die Grenzwerte überschritten in jenen Pfützen von Kühlwasser, die man in Kellerräumen fand unter den Reaktoren. Unsere Vorstellungskraft wird gesprengt. Da liegt ein Material in den Kellern, daß noch nach 340.000 Jahren den Tod bringt. Nun tritt es an den Tag.
Behälter bersten und geben den Tod frei.
Er kommt still.
Man findet ihn in Pfützen, man findet ihm im Rauch, man findet ihn im Meer.
Nur der Ticker des Zählers zeigt ihn an.
Unsere Kraft, sich vorzustellen, was das bedeutet für die vielen Millionen Menschen, die in der Umgebung leben, reicht nicht aus.
Dafür haben wir keine Bilder, keine Sprache. Dunkle Ahnungen vielleicht. Annäherungen an das Unvorstellbare. Mehr nicht. 1 Kilogramm dieses Materials genüge, so sagen es Physiker, die Menschheit zu zerstören. Man weiß aber, daß in jenen feuchten Kellern mehrere Kraftwerksladungen lagern….

Die Erde bebte. Und das Meer erhob sich.
Nur eine Welle kam.
Gemessen an der Größe des Ozeans eine winzige. Gemessen an der Größe unserer Zivilisation eine gewaltige.
Sie spülte einfach hinweg, was wir „Zivilisation“ nennen. Ganze Orte. Ganze Häuser. Viele zehntausend Menschen mitsamt ihren Autos und Fernsehern, Kühlschränken und Computern.
Die Zerbrechlichkeit unserer „stolzen Zivilisation“ stand uns plötzlich vor Augen.
Das Menetekel an der Wand. Die Schrift, die der König nicht zu lesen verstand.
In diesen Stunden, in denen das Unvorstellbare Realität wird Stunde um Stunde, Tag um Tag, lese ich alte Worte.
Man hat sie weitergegeben von Generation zu Generation, von Jahrtausend zu Jahrtausend.

Das Menschlein, wie des Grases sind seine Tage,
wie die Blume des Feldes, so blühts:
wenn der Wind drüber fährt, ist sie weg,
und ihr Ort kennt sie nicht mehr.
Aber SEINE Huld,
von Weltzeit her und für Weltzeit
ist über den ihn Fürchtenden sie,
seine Bewährung für Kinder der Kinder
denen, die seinen Bund hüten,
denen, die seiner Verordnungen gedenken,
sie auszuwirken.
ER hat seinen Stuhl im Himmel errichtet,
und sein Königtum waltet des Alls.
Segnet IHN, ihr seine Boten
-starke Helden, Werker seiner Rede-,
im Horchen auf den Schall seiner Rede!
Segnet IHN, ihr all seine Scharen,
die ihm amten, Werker seines Gefallens!
Segnet IHN, ihr all seine Werke
an allen Orten seines Waltens!
Segne, meine Seele, IHN!

(aus Psalm 8, verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Stuttgart 1976).