Besondere Menschen. Eine Erinnerung an Klaus-Peter Hertzsch


Für mich ist er einer dieser wenigen besonderen Menschen, die einem im Leben begegnen.
Dieser zierliche, beinahe blinde kleine Mann mit den von Krankheit gezeichneten Händen und der zarten Jungen-Stimme.
Als mich gestern die Nachricht von seinem Tode erreichte – tauchten sofort Bilder auf. Bilder aus vergangenen Tagen, über ein Vierteljahrhundert liegen sie zurück und sind doch so gegenwärtig. Das Studium an der Friedrich-Schiller-Universität im schönen thüringischen Städtchen Jena unter den Bedingungen der Diktatur. Ich war von Naumburg gekommen, um bei ihm zu lernen.
Er hatte „etwas zu sagen“, etwas von der Sprache und etwas von der Hoffnung.
Als erstes kam die Erinnerung an seine zierliche Gestalt und die große Brille, die er brauchte, wenn er mal – was selten vorkam – etwas ablesen musste. Meistens sprach er auswendig. Sein phänomenales Gedächtnis habe ich immer bewundert. Egal, welches Lied angestimmt wurde – er konnte es auswendig. Früh schon hatte ihn seine Augenkrankheit gezwungen, zu improvisieren. Lesen war schlecht – aber auswendig lernen, das war möglich.
Und dann war da seine Stimme. Diese stets lächelnde, beinahe verschmitzte, oft hintergründige, zarte Stimme.
Wenn er ans einfache Pult trat im größten Raum der „Sektion Theologie“, wie das damals noch hieß, der überfüllt war von Menschen, die die Professor-Ibrahim-Straße aus der dunklen Stadt hinaufgestiegen waren, um ihm zu lauschen, wenn er vortrug. Ging da ans Pult, rückte mit der linken Hand die große Brille zurecht, schwieg einen Moment und begann. Und vom ersten Moment an hatte er uns gepackt, ergriffen, angefasst, berührt.
Vorlesungen über Literatur, die selbst Literatur waren. Gesprochenes Wort, Rede. Ja. Und doch druckreif. Erzählend, packend auch, heiter nicht selten und immer eröffnend. Eine Welt ging mir auf und nicht nur mir, das weiß ich von vielen, die bei ihm auch gelernt haben.
„Schattenland. Ströme“. Johannes Bobrowski und Max Frisch, Christa Wolf und andere. „Unsere Sprache ist klüger als wir“. „LTI“ von Klemperer haben wir gelesen – und daneben lag das „Neue Deutschland“. „Achtet auf die Sprache!“
Die Welt des in Verantwortung gesprochenen Wortes, die er hat er zugänglich gemacht, hat die Türen dahin geöffnet und die Ohren aufgeschlossen für DAS WORT, um das es ihm in allem, was er schrieb und sprach, immer zu tun war.
Erzählkurse gehörten zur Ausbildung. Wir sollten erzählen lernen. Ins gemütliche Dörfchen Tautenburg sind wir gefahren, um zu wandern, gemeinsam zu essen und – erzählen zu lernen.
Und: „Wenn es Ihnen schon möglich ist: legen Sie ihr Manuskript beiseite. Predigt ist Rede, nicht Lese……“
Weshalb wir erzählen lernen sollten?
Seine Antwort: „die angemessene Form, sich dem Geheimnis zu nähern, ist die Erzählung“.
Das war eine Theologie, die mich im Kern berührt hat, dazu hatte ich unmittelbaren Zugang. Das Buch der Bücher erschloss sich auf ganz neue Weise, wurde zum Lehrmeister, zum begehrten Studienobjekt.
Vielen anderen ging es ebenso.

Nun ist er gestorben. Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch. Ein großer Lehrer. Ein Stiller im Lande, auf den man aber gehört hat, der geprägt hat, der Hoffnung gegeben hat, der uns hingewiesen hat auf die Große Hoffnung, auf die wir zugehen. Nicht nur im kleinen Thüringen, sondern in ganz Deutschland und weit darüber hinaus.

Bei youtube gibt es eine kleine Dokumentation über Ausschnitte aus seinem Leben. Darin sagt Klaus-Peter Hertzsch: „Es ist schön, wenn man einem sterbenden Menschen sagen kann: Auf Wiedersehen. Das ist tragender Glaube.“

Ich sage das nun: „Lieber Professor Hertzsch, ich bin sehr dankbar, dass wir uns begegnet sind. Und ich bin dankbar dafür, dass wir einen für mich sehr wichtigen Abschnitt unserer Lebenswege gemeinsam gegangen sind. Auf Wiedersehen.“

Etwas über Bildung, Schulstifte, Gastfreundschaft und so’n Zeug. Aus Marmol. Das liegt in den Bergen….


Vom Tee will ich erzählen. Und vom klaren Wasser. Von Schulstiften und dem lachenden Buddha von Marmol. Weil wir grade über muslimische Kultur sprechen.
Wer mit Dr. Rupert Neudeck reist, sollte irgendwelche Hotels vergessen. Wer mit ihm reist, lernt Land und Leute wirklich kennen. Denn er geht in Orte, in die sich sonst keiner traut….
Daß wir durch Minenfelder fahren würden, sagte man uns erst hinterher, als wir wieder heil zu Hause angekommen waren….
In meinem Reisetagebuch vom 24. Juli 2003 habe ich folgendes notiert:
Wir wollen ins Gebirge. Die Fahrt beginnt wie immer morgens hektisch. Sultan fährt, als sei der Scheiitan hinter im her. Heute zeigt er uns, dass man im Kreisverkehr auch mal links herum fahren kann, wenn man abkürzen will.
Erst müssen wir in die Stadt, um weitere Begleiter mit ihrem eigenen Jeep in den Troß aufzunehmen. Später werden wir noch einen ortskundigen Führer abholen. Wir sind zu den Dörfern unterwegs. …Wir fahren tatsächlich querfeldein zwischen den Dörfern und fragen unterwegs immer mal, ob das Gelände minenfrei ist. Die Bauern beruhigen uns: „hier ist geräumt. Gerade vor acht Wochen sind sie hier durch.“

Kinder am Wasser in der Ebene von Gori Mor. Foto: Martin Zenker

Wir machen Halt in einem Dorf in der Ebene von Gori Mor. 5.000-6.000 Einwohner hat der Ort. Davon 1500 Kinder. 374 Kinder in der Schule.
Das ganze Dorf hat nur an zwei Tagen in der Woche Wasser, aber auch das ist nicht zuverlässig so.
Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal.
Insbesondere die Kinder nehmen das Wasser zum Baden und auch zum Trinken.
Seuchengefahr überall.
Es gibt zwar ein neues Schulgebäude im Ort mit vier Schulräumen, aber es fehlen fünf weitere – weil sie so viele Kinder hier haben.
Dieses Flüsschen hier auf dem Bild – das muss genügen. Für 6.000 Menschen und ihre Tiere. Zweimal pro Woche.
Aber wir wollen weiter. Wir wollen in die Berge.
Die Fahrt nach Marmol
ist so ziemlich das Abenteuerlichste, das ich bisher auf den Auslandsreisen erlebt habe. Die Wege hören bald hinter dem Dorf auf. Wir hatten extra einen „Spezialisten“ aus dem Dorf mitgenommen, damit er uns den Weg zwischen möglichen Minenfeldern zeigen konnte. For dieser Fahrt hatte sogar Sultan Sorgenfalten….

Reise auf dem ausgetrockneten Flussbett....Foto: Martin Zenker

Wir fahren also die ausgetrockneten Flusstäler bergauf, „fahren“ auf dem „Schotter“ des Flussbettes.
Wir machen Rast in einer Klamm, die im Frühjahr 4mannhoch vom Schmelzwasser durchschossen wird. Hier kommt man eigentlich nur noch mit Eseln voran. Die Wege werden steiler und steiler. Aber die Fahrer schaffen es irgendwie. Tadsh und seine afghanischen Freunde. Und der ortskundige Führer kennt die Stellen, wo es geht.
Weit weit oben erreichen wir einen Ort: Marmol.
Wir kommen überraschend. Man ist nicht eingestellt auf Gäste. Dennoch bittet uns der Direktor der Schule in den Garten. Es ist etwa vierzehn Uhr am Nachmittag. Wir leben wie im Paradies: jetzt, nach diesem exorbitanten Aufstieg in die Berge sitzen wir unter dem kühlen Nussbaum beim wunderbaren schwarzen Tee und reden mit dem „lachenden Buddha von Mar Mol“ über seine Schule. Es ist ein wunderbarer Platz:  Wir sind wie in einer anderen Welt. Grün ist es ringsum! Sehr gutes Wasser hat man hier. Deshalb schmeckt der Tee vorzüglich. Nie habe ich solch exquisiten Tee getrunken.
Wir sitzen und reden mit dem Schuldirektor, einem sehr dicken, großen, autoritären aber sehr freundlichen und herzlichen Menschen, Abdul Satar Palwan. Ich nenne ihn für mich den „Buddha von Marmol.“ „Vor 63 Jahren wurde hier die Schule gebaut“, erzählt er. Es ist die einzige Schule in der Region. 1000 Schüler hat man. Es ist eine Mittelschule bis zur neunten Klasse. „Die Lehrer, die hier arbeiten, sind eigentlich keine Lehrer, sondern machen das nebenberuflich“. Wir hörten schon in anderen Orten von sol chen Umständen. UNICEF war zwar schon hier, hat drei Zelte und ein paar Lehrmittelkoffer dagelassen. „Die werden nicht wiederkommen“ meint Rupert. „Sie haben ihre Aufgabe erfüllt: Zelte sind aufgestellt, Koffer mit Lehrmaterial sind abgeliefert….“. Man überlegt, ob man eine Mädchen- und eine Jungsschule gründet, aber es hängt natürlich alles an verfügbaren Mitteln.
Nun wird der Tee serviert, man reicht Bonbons dazu, Süßigkeiten müssen sein zum Tee. Rupert gefällt der Ort. Er fragt genauer nach, was hier möglich wäre. Bisher hatte man zehn Räume in einer insgesamt großen Schule. Durch die Kämpfe jedoch hat die Schule stark gelitten. Allein 500 Mädchen aus der Region gehen hier zur Schule. Weil die Räume nicht reichen, kann man nur im Sommer unterrichten, da helfen die Zelte. Im Winter wird die Schule geschlossen, weil er dann keine Möglichkeit mehr zum Unterricht hat. Im November macht man zu, im März wieder auf. Rupert wird immer neugieriger und fragt, wo man hier Baumaterial kaufen könne. Das geht in Mazar i sharif. Von dort muss man alles herauschaffen in die Berge.
Wir fragen nach den Panzern, die wir am Wege gesehen haben. Herr Dostum und sein Kollege General, Herr Bossum, haben sich hier oben gezankt, erfahren wir, deshalb lägen die alten Tanks hier noch im Gebirge herum. ISAF hat die Zänkereien beendet. Der Ort liegt genau im Grenzbereich zwischen beiden Warlords. Rupert sagt seinen Spruch: „Wir haben noch nie etwas versprochen, ohne es zu halten“, aber man merkt, er würde gern was versprechen….Das Baumaterial also könnte man von Mazar aus hier heraufbringen.
Es ist wirklich ein traumhafter Ort. Herrlichstes Quellwasser steht zur Verfügung. Der Geschmack des Tees verrät es.

die Kinder in Marmol. Afghanistan. Foto: Martin Zenker

Man hat es auch im Ort gesehen: die Kinder sind wesentlich sauberer als in anderen Dörfern. Man hat schlicht mehr Wasser, um die Kinder zu waschen!
Rupert sagt: „Ihr werdet bald Nachricht von uns bekommen. Wenn wir kommen, dann müsst ihr uns einen Raum zur Verfügung stellen und wir müssen mit den Behörden zusammenarbeiten etc. etc.“. Es deutet vieles darauf hin, dass er sich im Grunde schon entschieden hat. Wir fragen weiter. Wie ist es mit der Gesundheitsversorgung? Vor einem Jahr ist hier ein Medizinraum errichtet worden. Er ist nicht ständig besetzt. Doktor und Krankenschwester gibt’s hier auch nicht. Die sind im Moment in Mazar i Sharif.
Was ist mit Telefon? Kommunikation nach Mazar gibt es nicht: kein Telefon, kein Fernsehen, kein Radio. „Hier leben nur glückliche Menschen“ denke ich mir. Es gibt ein spezielles Handwerk zur Turbanherstellung im Ort. „Es gibt gutes Handwerk im Ort“ sagt der dicke lachende Buddha von Marmol nicht ohne Stolz. Aber: im Winter ist man hier oben völlig abgeschnitten. Dann kommt man höchstens über ein paar schwierige Pässe mit den Maultieren raus oder in den Ort.
Eigentlich hat der Ort auch gutes Obst. Aber im letzten Winter waren so starke Fröste, dass viel kaputt gegangen ist. Die Menschen des Dorfes sind hier auch alle im Dorf geboren, denn die Entfernungen zum nächsten Krankenhaus erlauben keine Außerhausgeburten. Man hat Generatoren im Ort für den Strom. „Deshalb kann man auch Video gucken“, lächelt der Buddha. Also doch nicht nur glückliche Menschen…..
Wir versuchen, die Informationen zu verdichten. Wir fertigen auf einem Zettel eine Liste der Orte der Umgebung an und fragen sie einzeln nach den Daten ab: Einwohnerzahl, Schulräume usw. So verschaffen wir uns eine Übersicht, was in der Region los ist. „Die erste Statistik dieser Gegend“ meint Rupert. „Ich bin sicher.“
Die Gegend ist einfach grandios. Über 250 Meter erheben sich die Steilwände der Felsen in den Himmel. Es ist wie ein gewaltiger Wall rund um den Ort. Insgesamt 10.000 Schüler, davon 3.000 zwischen sieben und zehn, leben in der Gegend.

der lachende Buddha von Marmol. Foto: Martin Zenker

Als ich hier meine mitgebrachten Stifte verteilen will, macht der Buddha einen herrlichen Witz: Ich hatte ihm schön Packung um Packung herüber gereicht. Auch die losen Stifte. Schließlich langt er zu mir herüber und nimmt mir auch noch die Tüte aus der Hand, stopft alle Stifte wieder hinein und meint: „das ist ja eine nette Geste lieber Freund. Aber wir können dich hier nicht weglassen mit so wenig Stiften. Das reicht ja für unsere 10.000 Kinder überhaupt nicht. Wir halten dich jetzt solange hier, bist du so viel angeliefert hast, dass es für die Kinder reicht.“
Ja, so werden wir es machen. Ich bleibe hier, und die anderen müssen noch mehr Stifte besorgen. Soll sich doch das Auswärtige Amt drum kümmern, daß sie ihren Abgeordneten wieder ins Parlament zurück bekommen…..
Ein praktischer Mann, der sich für seine Kinder ins Zeug legt, nicht wahr. Er arbeitet mit 45 Kollegen, „nicht alles Pädagogen…..“.

Jetzt, abends um sechs sitzen wir wieder an unserem Platz in Mazar i Sharif im Elternhaus von Tadsh und Sultan.
Wir haben die Fahrt gut überstanden, nachdem wir eine Stelle überqueren mussten, die sehr danach aussah, als könnten da Minen liegen. Sultan raste mit dem Jeep über diese Stelle: „Wenn wir schnell drüber fahren, erwischen sie uns nicht, wenn sie hochgehen“ war seine Hoffnung. Alles lief gut. Weiter unten dann hatte er sich zu weit rechts gehalten. Die anderen mussten uns wieder über ein Stück Niemandsland auf den richtigen Weg lotsen. Auch das ging gut.
Ich hatte einen Fehler gemacht.
Vorgestern hatte ich mal einen kleinen Wunsch geäußert: gern würde ich mal über den Bazar gehen, um eine Kleinigkeit zum Mitbringen zu erstehen.
Jetzt sehen wir das Ergebnis dieses Fehlers: Im Quartier hatte man uns im Hof wunderbare Geschenke ausgebreitet: einen kompletten afghanischen Anzug, den nehme ich für B. mit und ein Kleid und eine Mütze und solche Sachen und eine ganze Discothek mit afghanischer Musik. Wir sind sprachlos über soviel Großzügigkeit…..
Das Essen, man isst sitzend auf dem Fußboden ist einfach: zwei Flaschen Cola, Melonen, Fladenbrot, ein wenig Gemüse.
Später erfahre ich Folgendes: wenn ein afghanischer Bauer 15 Stunden am Tag seine Feldarbeit macht (bei einem Anmarsch zu Fuß von bis zu drei Stunden und entsprechendem Weg zurück inclusive gerechnet), verdient er umgerechnet einen Euro.
Eine Flasche Cola kostet jedoch ungerechnet 1,50 Euro.
Was da also vor uns steht: ist fast ein Wochenlohn! Ich bekomme ein Gefühl dafür, was im Islam Gastfreundschaft ist. Es ist ein sehr hohes Gut. Der Gast genießt den Schutz des Gastgebers.
Deshalb waren wir nie wirklich in Gefahr. Wir hatten die Gastfreundschaft von Tadsh, Sultan und seiner Familie.
Ich werde davon in Deutschland erzählen, wenn sie wieder anfangen zu diskutieren, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. Ich werde ihnen dann vom Gebot der Gastfreundschaft erzählen, das im Islam gilt…..
Vielleicht können wir ja etwas lernen, vom lachenden Buddha von Marmol und seinen 10.000 Kindern …..

Meine Begegnung mit dem Islam ist vor allem eine Begegnung mit wundervollen Menschen.


Der neue Innenminister hat erneut eine Debatte begonnen. Ob der Islam zu Deutschland gehöre.
Natürlich gehören Menschen muslimischen Glaubens zu Deutschland, denn es gibt sehr viele deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens.
Ein Besuch in Berlin und anderen Städten zeigt es überdeutlich.
Man mag Politikern bei ihren öffentlichen Äußerungen Interessen unterstellen. Zumal in Wahlkampfzeiten. Doch das interessiert mich nicht wirklich.
Mich interessieren die Menschen muslimischen Glaubens.
Schön während des Studiums gehörte die Beschäftigung mit dem Islam zur Ausbildung. Wir hatten – als einzige Fakultät der ostdeutschen Universitäten – in Jena das Fach vergleichende Religionswissenschaft. Das war ein großer Gewinn. War doch vier Jahre Zeit für ein ausgiebiges Studium nichtchristlicher Religionen, ihrer Geschichte, Theologien und Strömungen. Ein wichtiger Beitrag für mehr Verständnis. Sind doch religiöse Fundamentalismen in allen Religionen oftmals Grund für fürchterliche Kriege und Auseinandersetzungen gewesen.

Später dann bin ich Muslimen begegnet. Erst bei den „Grünhelmen“, als ich mit Aiman Mazyek in Kontakt kam, der als Mitglied des Zentralrats der Muslime die wichtige interreligiöse Aufbauarbeit der Grünhelme unterstützt. Wir sind nun schon etliche Jahre befreundet.
Dann, im Jahr 2003, war ich in Afghanistan.
Als ich die Reise vorbereitete, war schnell klar, ich wollte nach Balkh. Der Ort liegt westlich von Kunduz.
Balkh ist ein uraltes spirituelles Zentrum.
Dshellaludin Rumi soll dort zur Schule gegangen sein.
Ich habe in einem eigenen blog-Beitrag auf diesen großen Poeten hingewiesen.
Der Besuch in Afghanistan liegt nun schon etliche Jahre zurück – und doch ist mir die Begegnung mit zwei Menschen dort in besonderer Erinnerung geblieben. In meinem Reisetagebuch habe ich damals folgendes festgehalten:
23. Juli 2003.
….Wir laden frische Getränke und fahren hinaus aufs Land in die Region von Balkh. …Neben Mekka und Medina ist Balkh ein wichtiges religiöses Zentrum für den ganzen Islam. Eine besondere Stätte. Manche Historiker glauben, Balkh sei älter als Jericho (von Jericho nimmt man ca. 10.000 Jahre an)….Am Straßenrand sehen wir bald die ersten historischen Festungsanlagen, die noch aus der Zeit von „Mister Dshingis Khan“ stammen, wie sich unser Begleiter Sultan ausdrückt. Wir betreten uraltes afghanisches Gelände, das schon viele Jahrtausende gelebter Geschichte hinter sich hat. Ein Kraftort.
…Wir nehmen uns Zeit für diesen besonderen Ort. Wir haben noch zwei Führer mitgenommen, die man für diese Tour extra für uns besorgt hat. Auf diesem Gelände braucht man Fachleute für Spiritualität.
Wir halten im Zentrum des Ortes und betreten einen großen Park, der mit alten Bäumen bestanden ist. Man sieht eine kreisrunde Allee, die von unserem geraden Weg geschnitten wird. Die Wege laufen in der Mitte in einer großen Wasseranlage zusammen.
Wir bewegen uns unter großen alten Bäumen, etliche Platanen darunter, die mit Sicherheit hundertfünfzig, zweihundert und mehr Jahre gesehen haben. Der Ort hat eine alte Handwerkstradition. Man ist aus der ganzen islamischen Welt, selbst aus Konya und anderen entfernten Orten hierher gekommen, um hier ein gutes Handwerk zu lernen.

Die Moschee in Balkh. Foto: Martin Zenker

Wir stehen vor der Moschee. Ziehen die Schuhe aus. Betreten den halbdunklen Raum. Einige Männer knien im Gebet. Wir setzen uns hinter der Schwelle im Eingangsbereich der uralten Muhammad Parsa Moschee in Balkh zu den beiden Alten, die hier Frühstück machen und hören, was sie uns zu berichten wissen.
Der eine Alte sitzt seit 15 Jahren hier. Er lebt in der Moschee. Von früh vier Uhr vom ersten Gebet bis abends neun Uhr zum letzten Gebet des Tages. Dann kommt die Nachtwache. Hodshar Boswhar Delee heißt der alte Mann, so jedenfalls verstehe ich seinen Namen.
Der Alte erzählt, das Gebäude sei über 1000 Jahre alt. „Die Menschen in der Region glauben, dass hier das Fundament der Welt zu finden ist“, übersetzt uns Tadsh. „Ich habe nicht genug Kenntnis, um Ihnen all die Daten und Zeiten zu erklären“ sagt der Alte. „Aber hierher kommen viele Leute, die haben Fragen zum Gebet. Da kann ich ihnen antworten.“
Vielleicht ist das ja auch wichtiger als die Geschichte der Architektur dieses Gebäudes? Vielleicht findet man deshalb hier die „Fundamente der Welt“, weil hier ein Alter sitzt, der den Menschen ihre Fragen zum Gebet beantworten kann? Wer weiß das schon. Alahu akbar, Gott ist größer als unsere Vorstellungskraft.
Und dann steigen wir hinab in den Raum unter der Moschee, nur mit einem Feuerzeug als Leuchte. Wir finden einen runden Raum, dessen Decke von nur einer Säule getragen wird, ein Raum mit wunderbarer Akustik. Eine alte Schule. Unsere Begleiter sind begeistert. Hier waren sie auch noch nie.
Wir schauen uns um in den Räumen, lassen uns Details erklären, so gut die Alten antworten können, dann gehen wir hinaus zur Grabstätte der Rabecha Balkhi gleich gegenüber dem Eingang der Moschee. Rabecha Balkhi ist die vielleicht berühmteste unglücklich Liebende, die bekannt ist in der ganzen islamischen Welt. 1045 ist sie gestorben. Durch ein weinziges Fensterchen sollen wir hinabklettern in das Grab. Es ist beeindruckend. ….
Wir verabschieden uns von den Alten, durchqueren den Park und fahren weiter hinaus aufs Gelände der alten Festung.
Wir treffen einen denkwürdigen Mann.
Shah Husseini Maulans Husseini nennt er sich. Er erzählt uns von Samtshi. Er sei aus dem Iran gekommen, „um hier zu leben und zu bleiben“ wie er sagt. Er hatte oft von Samtshi geträumt, sagt uns der Mann. Der Traum sei immer wieder gekommen. Er hatte deshalb seinen Vater gefragt, was diese Träume zu bedeuten hätten. Und sein Vater, selbst ein religiöser Mann, hatte zu ihm gesagt: „folge deinen Träumen! Geh an diesen Ort, von dem du immer träumst, dann wirst du es sehen, was der Traum bedeutet“.
Da hat er sich auf den Weg gemacht und ist seinen Träumen gefolgt.
Als er das sagt, fallen mit Personen aus dem Alten Testament ein. Menschen, die ihren Träumen gefolgt sind. In den Träumen spricht Gott – das ist altes Wissen aller Religionen. Im Abendland fordert man junge Leute zwar auch auf: „folge deinen Träumen“, aber das sagen halbherzig Menschen, die ihre Träume selbst längst verloren haben …. Der hier hat sich ganz konkret auf den Weg gemacht.
Zu Fuß: Vom Iran ist er gekommen.
„He is happy for praying and he like ist, to stay here“ übersetzt uns Tadsh.
Shah Husseini zeigt uns seine Schlangen  und Skorpione, die er in Gläsern hält. Er öffnet ein Glas, lässt sich einen Skorpion über die Hand laufen. Nimmt ihn auf die andere Hand, wechselt wieder in die eine. Wie harmlose Tierchen lässt er sie über die Hände klettern. Er will uns sagen: schaut her, sie tun mir nichts, so stark ist der Glaube.
Er erzählt uns, Samtshi sei vor 3000 Jahren gestorben. Und doch habe er immer wieder von ihm geträumt. Nun sei er also seinem Traum gefolgt und habe nach einem sehr langen Fußmarsch vom Iran bis hierher nach Balkh „seinen Platz“ im Leben gefunden.
Mit gefällt der Mann. Er ist ein glücklicher Mensch. Man merkt es ihm an. Dieser Mann ruht völlig in sich.
….Was ich so beeindruckend finde, ist, dass hier ein wirklich „frommer“ Mann vor uns steht. Der lebt, was er glaubt. Außer einem Brunnen und einer kleinen Lehmhütte hat er nichts.
Er hat von diesem Ort geträumt, als er noch im Iran lebte. Er hat geträumt, daß er an diesen Ort gehen solle. Und er hat sich auf den Weg gemacht, ist gekommen von weit her – und er ist glücklich.. Ein wenig schmutzig ist er zwar, vielleicht auch etwas sehr schmutzig, aber glücklich und sehr authentisch.
Wir sind nun auf dem riesigen Gelände der alten Balkh-Festung weitergefahren an einen anderen Ort, an dem ein anderer frommer „Wächter“ lebt. Je weiter wir voran kommen, je mehr Gespräche wir führen, um so seltsamer wird unseren afghanischen Begleitern zu Mute. Unsere beiden westlich orientierten Afghanen kommen erheblich ins Rätselraten, wie es denn sein könne, dass die Zahnschmerzen bei einem Menschen weggehen, nur wenn da oben bei dem Iraner ein Nagel in den Holzstamm an der Grabstelle geschlagen werde. Das sei doch alles fauler Zauber. Denen ist das alles nicht recht geheuer, sie haben Zweifel, ob man uns hier nicht einen Bären aufbindet.
Tadsh, Sultans Bruder, sieht das anders.
Er steht sehr aufmerksam und offen an diesen heiligen Stätten und spricht stille Gebete.
Ich sage zu Rupert: „Schau, hier hast du beide möglichen Reaktionen auf erlebte Spritualität. Beide so alt wie die Religion selbst. Die einen sagen: alles Spinnerei. Der andere steht und spricht sein Gebet.“
Wie fahren weiter und treffen einen alten, vielleicht siebzigjährigen Mann, der in einer einfachen Grashütte lebt und eine Grabstätte bewacht.
Mit ihm leben zwei kleine Kinder, ein Junge und ein schlafendes Mädchen, drei oder vier Jahre alt vielleicht, der Junge vielleicht fünf oder sechs. Wir schauen uns die Grabstelle an.
Ich frage den Alten, warum die Kinder nicht in der Schule sind. „Es gibt hier keine Schule“ sagt der Mann. Wir reden noch ein paar Worte, dann bitten unsere Begleiter ihn um ein Gebet. Er spricht ein Gebet für uns und wir verabschieden uns. Mich beeindruckt diese einfache, selbstverständliche Art, mit der dieser Mann für die wildfremden Menschen, die für einen winzigen Moment in seinem Leben auftauchen, ein Gebet spricht.
Wir ziehen weiter an einen anderen Ort auf dem Gelände: auch hier wieder eine Grabstelle. Mir fällt auf, dass auch an diesem zweiten Ort sehr große alte Bäume stehen. Heilige Orte und uralte Bäume – das gehört zusammen. Solche Plätze gibt es überall auf der Welt. Solche Plätze kennt man im Hinduismus, alte Bäume an heiligen Orten kennt man im Judentum, solche Orte kennt das Christentum. Dies hier muss unter den besonderen Orten ein ganz besonderer Ort sein: die Bäume sind besonders alt. ….Rupert und die anderen reden mit dem Wächter. Seit fünfzig (!) Jahren arbeitet er hier am Grab, sagt uns der alte Mann. 65 Jahre sei er alt und seit fünfzig Jahren sei er hier an diesem Platz. Viele Kinder kommen und staunen uns an. Mustafa Tarib heißt er. „Er kennt seinen Geburtstag nicht“ übersetzt uns Sultan. Aber anhand des uralten Ausweises, den der Mann aus seinem Überwurf hervornestelt, können wir errechnen, wie alt er ist.
„Das ist alles, was ihn identifiziert“ sagt Rupert Neudeck mit einem besonderen Ton in der Stimme und plötzlich sind sie wieder da, die Flüchtlingsschicksale, von denen Rupert so viele gesehen hat: man hat sie mit bloßen Händen aus dem Wasser gezogen aufs Deck der CAP ANAMUR, häufig haben sie nur noch einen solchen Wisch, der den Behörden zeigen kann, dass sie wirklich geboren wurden und ein Recht haben zu leben ……“
Diesen uralten „Ausweis“ zeigt uns der Mann, der gar nicht lesen und schreiben kann.
„It’s no birthday – it’s no death – so leben hier die Menschen“ übersetzt uns Sultan. „Wer keinen Geburtstag hat – kann auch nicht sterben.“

….Wir sehen die Reste der Schule, die Dshallaludin Rumi besucht haben soll. Wir klettern auf ihr herum, machen Fotos. Wir haben ein wunderbares Motiv, das in einem einzigen Bild das Thema unserer ganzen Reise zusammenzufassen in der Lage ist: wir stehen auf einer Schule, die deutschen „Humanitären„, der junge afghanische Geschäftsmann, der bewaffnete Wächter, die jungen Leute, die früher gekämpft haben gegen die Taliban.

Dieses Foto wird zum Titelbild für jenes kleines Bändchen, in dem ich den Reisebericht aus dem Jahre 2003 niedergelegt habe. Damals schien es überdeutlich: „Der Krieg ist vorbei“. Damals gab es noch keine deutschen Soldaten in Kunduz. Nur ein kleines britisches Team, das wir besucht haben.
Seither aber wächst die Gewalt.
Die Zahl der zivilen Opfer steigt.
In Deutschland fragt ein Minister in diesen Tagen aus durchschaubaren innenpolitischen Gründen, ob der Islam zu Deutschland gehöre….

Ich kann nur sagen: ich wünsche der Diskussion in Deutschland sehr die Weisheit der Sufis, die wir in Balkh getroffen haben. „Alahu akbar – Gott ist größer als unsere Vorstellungen“.
Wenn wir diesen klugen Satz in unseren Herzen trügen, würden manche Debatten einen bescheideneren Ausdruck finden.
Wir könnten lernen, daß wir zusammen gehören.
Religionen sind nur verschiedene Wege zum Gipfel.
Es ist gut, daß auch in Deutschland Menschen muslimischen Glaubens leben.
Sie gehören zu uns und wir gehören zu ihnen.
Denn wir sind allesamt nur Wandernde.
Wir streiten vielleicht über den richtigen Weg zum Ziel.
Und viel zu oft schlagen wir uns dabei gegenseitig die Köpfe ein, statt uns gegenseitig zu stützen.

Es wäre besser, wenn wir uns gegenseitig stützen würden: denn das Ziel der Wanderung ist ein gemeinsames…..

in kalten Zeiten


Ich werde mich nicht beteiligen
an der Kritik anderer Religionen
denn sie steht mir nicht zu

Ich werde mich nicht beteiligen
am gegenseitigen Vorhalten alter Verfehlungen
denn mein Urteil greift zu kurz

Ich werde Schritte der Versöhnung gehen
heute und morgen
und in den Tagen, die mir gegeben sind

Ich werde mich nicht beirren lassen
von denen, die glauben, die Wahrheit zu kennen

Ich suche das Gespräch,
nicht die Diskussion;

suche die Begegnung
nicht das Urteil.

Suchende sind wir allesamt
mehr nicht.

Was wir tun können:
wir können uns die Hand reichen
und versuchen, uns behilflich zu sein
auf dem Weg nach Hause.

Beiträge zur inneren Sicherheit – Leben mit und ohne Gott. Eine Rezension


Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann haben bei HERBIG diesen Sammelband vorgelegt, der „ein Forum von Gläubigen, Zweiflern und Ungläubigen“ sein will.

Ich bin neugierig und fange an zu lesen.

Ist es ein interessantes Buch? Es ist ein lesenswertes Buch. Auch ein nachdenkens-wertes.
Viele verschiedene Stimmen kommen zum Wort. Benützen Worte wie Boote, die etwas Unfassliches transportieren sollen.
Eine Annäherung also.
Zugänge werden versucht zu einem Phänomen, zu einer Erfahrung, zu einem “Wissen” oder einem “Thema”, das wir uns angewöhnt haben, mit “Gott” zu bezeichnen.
Atheisten kommen zu Wort und Theologen;
Apologeten und Künstler;
Fragende und Zweifler.
Abstrakt rational argumentierende Texte sind dabei und warmherzige, persönliche Worte.

Für mich ist das Buch ein Gewinn.
Ich werde reicher durch das, was ich da lesen kann.
Ich kann die Vielfalt besser sehen, in der menschliches Leben und Glauben möglich ist. Es weitet meinen eigenen Horizont.
Das Buch erlaubt es mir, meine Sicht der Dinge hinzuzufügen wie ein weiteres Teil in einem farbigen Mosaik.
Es lehrt mich Bescheidenheit.
Denn meine Möglichkeit, zu glauben und zu zweifeln, zu wissen und zu fragen, ist nur eine unter sehr vielen verschiedenen Möglichkeiten.

Das Buch lädt ein zum Gespräch; lädt ein, eine Antwort zu finden auf eine einfachen Frage: “Und – wie ist es bei dir mit dem Glauben?”

Deshalb ist das Buch „Leben mit und ohne Gott?“ sehr empfehlenswert.

Die erzählenden Texte gefallen mir besser als die analytischen. Die rationalisierenden, eher theoretisch/theologisch/philospphischen Texte eröffnen mir nicht so den Zugang zum Thema wie die dichterisch-erzählenden Texte von  Donata Rigg oder Sibylle Sterzik,Christine Preißmann und anderen .

Gut finde ich, dass auch andere Religionen zur Sprache kommen: Islam und Judentum.

Nicht sofort einleuchtend ist der Umstand, daß es sich in diesem Sammelband nicht nur um  Texte zum Phänomen des Religiösen, sondern auch umTexte handelt, die sich mit dem “Bodenpersonal” der Religionen beschäftigen (z.B. Kritik am Islam bei Arzu Toker; oder bei Henryk Broder).
Vielleicht wäre eine Konzentration auf das Phänomen des Religiösen noch sinnvoller gewesen, als diese “Vermischung” beider Bereiche.

Hilfreich finde ich, dass im Anhang Kurzbiografien der Autoren angefügt sind, die es noch ein wenig besser ermöglichen, die Texte auf dem biografischen Hintergrund ihrer Autoren zu verstehen

Was  fehlt, ist der Beitrag eines Mystikers; ein glühendes, im Innern funkelndes “Glaubensbekenntnis”, ein “Liebeslied”, wie es z.B. von Rumi sein könnte.

Man könnte kritisch anmerken: für jeden ist et was dabei….. Eine Art Lesebuch, das bestenfalls helfen kann, die jeweils eigenen Überzeugungen durch zusätzliche Argumente zu verstärken.
Es ist kein Buch, das Atheisten oder Glaubende von der jeweils anderen Sicht überzeugen könnte.
Die Beiträge dieses Sammelbandes stehen wie Monologe nebeneinander.
Sie beziehen sich nicht aufeinander.
In diesem Sinne ist das Buch selbst kein “Gespräch”, sondern eben eher ein “Lesebuch”.

Aber: Die Zugänge des jeweiligen Lesers zum Thema sind eben verschieden, denn der Leser geht in Resonanz mit dem, was in ihm selbst schwingt.
Deshalb ist es gut, dass das Buch verschiedene Zugänge zu einem schwierigen “Thema” öffnet.

Lohnende Lektüre!
„Leben mit und ohne Gott“. Herausgegeben von Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann.
Herbig-Verlag 2010
ISBN 978-3-7766-2645-
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Mit Beiträgen von Hanns-Dieter Hüsch, Burkhard Müller, Axel Noack, Heinrich Misalla: Welt ohne Gott? Die Frage nach der Theodizee, gestellt von einem Weltkriegsüberlebenden. “Auch in der Bibel ist der Glaube an Gott nicht selbstverständlich. Sie ist voller Geschrei nach einem Gott, der schweigt und den Menschen alleinlässt.” (37) “Die Botschaft vom Reich Gottes hat nichts mit Wellness zu tun, sie zielt auf eine Verwandlung jetziger Lebensverhältnisse und -Ordnungen.” ( 41). “Angesichts der Begrenztheit unseres Wissens über den, den wir Gott nennen, wie auch der Unzulänglichkeit der insgesamt wenig überzeugenden Glaubenspraxis der “Gläubigen” sind Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Formulierung von “Glaubenswahrheiten” angebracht.” (41); Donata Rigg: Die Sprache der Fische. Ein Nachruf. Eine Erzählung über den Tod ihrer Großmutter, die als letztes “Vater!” ruft und der Enkelin ist nicht klar, ob sie Gott oder ihren Mann meint.  “Gläubig ist sie ja gewesen, wenn sie auch nicht in die Kirche gegangen ist.” (45);6. Sibylle Sterzik: Gott, der Supermarktdetektiv. Die persönliche Erzählung einer Frau, deren Ehe in die Brüche geht und ihren Neuanfang im Leben versucht.  Matthias Vernaldi. Spiegeleien.Es stellte sich früh heraus, dass ich nie würde gehen können. … (54). Erlebt eine sozialistische Sonderschule für Behinderte, studiert später Theologie; aber: “den Weg der Gewissheiten habe ich verlassen” (56), lebt als Schwerbehinderter, der 24 h Betreuung braucht. Der Spiegel, durch den wir die Wirklichkeit sehen, “kann beides zeigen: sowohl, dass alles an uns liegt, als auch, dass wir nichts in der Hand haben.” (58) “Ich halte ein Universum der totalen Selbstbestimmung für einen trostlosen Ort. Ohne Gott, den immer Anderen, den Überraschenden, den uns der Kontrolle Beraubenden, wäre es ziemlich kalt und vor allem langweilig.” (58) Andreas Krenzke. Abenteuer im Jenseits. Der Atheist, der nach einem Unfall in den Himmel kommt. Beinahe eine Humoreske. “Der eigene Atheismus, so gut und vernünftig er auch sein mag, ist doch irgendwie problematisch, wenn man Gott gegenübertreten soll.” (61).Henryk M. Broder: Woran ich glaube (Auszug aus einer Rede). “Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern allen möglichen Unsinn.” (68) Arzu Toker. Allah kam nicht mit. Meine Gedanken zum Islam. Schreibt über die Arabisierung und Islamisierung der Türkei (74). Kritischer Beitrag gegenüber Islam und Mohammed (75), über Verschleierung, Sexualität und Rollenverhalten von Frauen und Männern. “Fazit: Die Wut Mohammeds erfand einen Rachegott, der ihm und mit ihm den männlichen Gläubigen erlaubt zu morden, zu rauben und Frauen Gewalt anzutun. …. Ein Muslim jedoch, der in einer Demokratie lebt, ist meiner Meinung nach aufgefordert, ein Bürger zu sein.”(80) Markus Liske. Vor der Himmelstür. Ein Text über Harald Juhnke und Papst Karol Woytila im Himmel. (81 ff.), eine Satire, bei der am Ende Gott, der auch an keinen Sinn glaubt, mit Juhnke einen alten Whisky säuft, während der Papst nicht in den Himmel aufgenommen wird.Karsten Krampitz: Im Nachtasyl (Zu Besuch in der Massennotunterkunft der Berliner Stadtmission – Ein Selbstversuch). Eine Reportage. Christoph Ludszuweit. Zur “Ehe” von Feuerstuhl und Kanzel “Ich glaube, ich glaube nicht an viel, weder an Kirchen noch an Religion, und doch empfinde ich ein Gottvertrauen, Gottesehrfurcht” (93). “Was hat uns denn immer mehr von dir, Gott, entfernt? Es ist das jahrhundertealte Bündnis von Thron und Altar, eine Verbindung, welche die Kirchen in geschichtliche und politische Mitschuld verstrickte” (94). “Lieber Gott, ich kann meine protestantische Herkunft trotz Kirchenaustritt nicht an der Garderobe ablegen wie einen Mantel.” (96).Christine Preißmann: Draußen ohne Gott? Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, die am Asperger-Syndrom leidet;  “Ohne meinen Glauben hätte ich vermutlich längst resigniert” (98). “Gerade für mich als Mensch mit vielfältigen Einschränkugen ist es unendlich tröstlich zu erfahren, dass er auch meinetwegen Mensch geworden ist und sich von Herzen wünscht, dass auch mein Leben gelingen möge. So habe ich beschlossen, nicht aufzugeben sondern für mich und andere Menschen in ähnlichen Situationen zu kämpfen” (99).Bodo Ramelow. 42 oder wie ich lernte, die Weisheit der Computer zu lieben. Der ethische Zugang. (103). Für Zinsverbot; Paulus als Ratgeber in der Weltfinanzkrise; (103); “Es wäre lohnenswert, aus all diesen Quellen die Kraft zu sammeln um den Weltethos zu erkennen. Es könnten dann die Gläubigen, die Nichtglaubenden und auch die bekennenden Atheisten sein, die sich der gleichen humanitären Idee verschrieben sehen.” (105). Claudia Schattach. Gefallene Engel (Erzählung über ihre spirituelle Entwicklung von der Katholikin zur Feministin, zur Zenistin;  “Woher kommt diese Sehnsucht nach “Gotteserfahrung”? Wie bin ich nur in dieses religiöse Fahrwasser geraten, in diese Sucht nach Erleuchtung, von klein auf schon?” (109). Über die Verbindung von Kunst und Religion. (110). Armin Pfahl-Traughber: Das Scheitern der Gottesbeweise.“es ist von der Unwahrscheinlichkeit Gottes auszugehen” (116). Lea Ackermann: So leben, als gäbe es Gott (autobiografisch; Mitglied bei den “Weißen Schwestern“)). “Um es vorwegzunehmen: Ich glaube an Gott, nach wie vor, im Alter von 72 Jahren.” (118) “Diese Art zu leben bedeutet für mich, dass Glaube und soziales Engagement eine untrennbare Einheit sind.” (118) Michael Schmidt-Salomon: Sind Atheisten die besseren Menschen? Interessant: über die religiöse Seite eines unaufgeklärten Atheismus (131). Interessant auch der Abschnitt über die “politischen Religionen” Nationalsozialismus und Kommunismus (133 f.). Walter Homolka: Durch Wissen zum Glauben. Wir sind Gottes Hoffnung zur Heilung der Welt (ein Beitrag aus dem Judentum). Tilmann Moser. Aus der Arbeit eines Psychoanalytikers. “Wichtig ist, dass Religiosität und Spiritualität nicht von vornherein als “Schiefheilung” des Seelenlebens, als “Opium fürs Volk” oder als zweifelhafte Lösung für kindliches Elend und lebensbedrohliche Angst denunziert werden.” (143). Nun ist es ihm gelungen, in dem relativ kurzen Text gleich mehrfach den Hinweis auf sein Buch “Gottesvergiftung” unterzubringen; dennoch: es hat schon etwas Anrührendes, wenn ein eher kritischer Therapeut zum Gebetshelfer wird, weil es um die Ganzheit seiner Klientin geht. Gita Neumann. Tod und letzte Dinge. (autobiografische Sicht einer humanistischen Sterbebegleiterin). Der Text bemüht sich um eine argumentative Abgrenzung von christlicher Spiritualität und Begründung der eigenen Anschauung. Caritas Führer: Leben ohne Gott? (autobiografisch, eine Krankenhauserfahrung aus der Kindheit) Frieder Otto Wolf: Zwei Überlegungen zur Gottesfrage (aus der Sicht eines Atheisten, der als Philosoph arbeitet). Manfred Lütz: Der Atheismus aus christlicher Sicht. Ein missionarischer Ansatz Richtung Ostdeutschland: nicht nur den kalten Kapitalismus bringen, sondern auch “eine Ahnung von der wärmenden christlichen Seele Europas”. Dabei wird mir etwas schwül, offen gesagt…..Fiona Lorenz: Gott gibt es nicht. Kirchenkritisch vor allem gegen evangelikale und islamistische Fundamentalisten. Sie weist vor allem auf ihr Buch “Wozu brauche ich einen Gott” hin….eine Schwäche, die auch andere Autoren in diesem Sammelband in ihren Beiträgen offenbaren: sie nutzen es zur Selbstwerbung….Gründerin des humanistischen Landesverbandes Rheinland-Pfalz….und ziemlich negativ religiös “gebunden”: sie hat sich die Auseinandersetzung und den Kampf gegen die Religion zum Lebensthema gemacht. Karl Giebeler: Oma Bertha geht heim (Erzählung). Ein Text über die Sehnsucht und vom Nach-Hause-Kommen. Schön erzählt. Stefan Seidel: Zwischen den Welten. Stationen einer persönlichen Gottessuche. (Erzähltext). Interessant: der Weg vom in der Kirche sozialisierten Jungen zu einem, der seinen eigenen Weg findet. “Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Mystiker recht hatten: Je leerer ich bin, desto mehr kann ich erfüllt werden.” (200). Alexander Garth: Kein Gott – eine gute Nachricht?. Atheismus auf Missionstour. Eine Auseinandersetzung mit einem “missionierenden Atheismus”. (Bleibt m.E. leider etwas in behauptendenden Indikativsätzen stehen) Jakob Hein: Wirklichkeitserschließung – Sinnsuche – Gottesfrage. Zum Dialog von Kunst und Theologie. “Kunst und Religion sollten sich selbstbewusst auf das Spirituelle konzentrieren, das ist ihre Stärke und Chance.” ( 219). Uwe von Seltmann: “Ach Gottchen, sprach Lottchen” . gemischt erzählender Text über seinen Deutschlehrer und seinen sich verändernden Glauben. “Kohelets ungeschminkte, illusionslose Beschreibung de Lebens ist – je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir – der Grund, warum ich noch immer an Gott glaube.” (224). “Und so ist der Glaube stets voller Zweifel, denn Glaube und Zweifel sind keine Gegensätze, sondern sie gehören untrennbar zusammen.” (225).Horst Groschopp: Ein ostdeutscher “Volksatheist”. Biografischer Text. “Der Eifer, mit dem heute mitunter meine politischen Freunde Religionen als falsches Denken entlarven, wird mir aufgrund meiner Biografie immer fremd bleiben. (236). Für ihn war Atheismus etwas derart Selbstverständliches, dass ihm die kämpferische Auseinandersetzung mit den Religionen fremd blieb.Harald Krille: Jenseitsvertröstung oder Diesseitströstung? Biografischer Bericht: Mutter Christin, Vater Atheist und SED-Genosse).  Er hat später “eine bewusste Entscheidung für den Glauben an Gott getroffen” (237). “Natürlich lief nicht alles glatt und einfach. Aber in der Gesamtsumme blieben stets das Gefühl und die Überzeugung von Getragensein und Geborgenheit. Mal mehr die Überzeugung, mal mehr das Gefühl ….” (237). Johanna Martin: Hat es je einen Mann ohne Mutter gegeben? Über Madonnen und Jungfrauen. Die Künstlerin. “Die ältesten Kunstwerke sind Kultgegenstände, die zur Ausübung unterschiedlichster Rituale und Kulte dienten. Hier hat das Wort “Kultur” seinen Ursprung.” (242). Ein Text über einen künstlerischen Zugang zu Figuren der Kultur- und Religionsgeschichte. Angelika Obert: Herausgerufen. (autobiografisch). “Ich habe immer mit Gott und ohne innere Sicherheit gelebt. Darüber Rechenschaft zu geben, fällt mir schwer. Es rührt an ein Inneres, das sich dem Zugriff entzieht. So wenig ich direkt in die Sonne gucken kann, so wenig scheint es mir möglich, ins Wort zu bringen, wie Gott mit mir ist. An Erörterungen über das Sein oder Nicht-Sein Gottes oder gar darüber, ob wir ihn brauchen oder nicht brauchen, mag ich mich gar nicht beteiligen. Sie kommen mir ein bisschen wie mentale Turnübungen von Menschen vor, die vor den Türen ihres Herzens wohnen.” (245). “Doch mehr und mehr will mir scheinen, dass der Weg von außen nach innen führt.” (247) Mantja Prakels: Im Trüben. Ein Dialog von zwei Anglern. “Die deutsche Hausfrau trinkt Morgenurin aus Klangschalen…. Und die Fische? Sind auch nur Menschen. Petri Heil!” (253)