Was für eine schlechte Sprache! Ich bin entsetzt.
„Nach Gott 4.0 müssen Sie sich zu Gott 5.0 weiterentwickeln“ lese ich schon auf Seite 15 des neuen Buches von Tiki Küstenmacher und lege das Buch zur Seite. Nein, auf eine solche Sprache habe ich eigentlich keine Lust.
„So kommt es durchaus vor, dass Menschen ein Glaubenssystem mit Gott 4.0 haben, im Berufsleben reibungslos in 5.0 funktionieren, in Partnerschaft und Freundeskreis aber ist für sie bereits 6.0 Standard“ gehts gleich danach weiter.
Was sagt eigentlich solche Sprache? Sie sagt nichts. Sie ist hohl. Sie ist eine Phrase, die sich „modernem“ Sprechen anbiedert. Mir ist ohnehin der Bezug zwischen Religiosität, Spiritualität und der Computersprache überaus fremd. Möglicherweise ist solche Sprache Absicht. In der Hoffnung vielleicht, Menschen anzusprechen, die sich mit Computersprache ausdrücken. Mir ist es fremd. Denn es gibt kaum etwas lebendigeres als wache, wachsende Spiritualität und kaum etwas abgestorbeneres als diese Computerplastiksprache, die sich im Kern mit Programmierung beschäftigt. Weshalb sich die Frage aufdrängt, warum sich ein Buch, das sich mit spirituellem Wachstum beschäftigt, sich solch anbiedernder Sprache bedient.
Nun lese ich weiter von der Einteilung der Menschen in „Typen“, lese von „Bewusstseinsstufen“ und spüre weiteren inneren Widerstand. Bin drauf und dran, zornig zu werden. Ich habe Tiki Küstenmacher als fröhlichen und warmherzigen Menschen erlebt, der seinen Vortrag klug entwickelt und sehr authentisch spricht. Ich habe ihn als Kreativen wahrgenommen. Und nun kommt er mir mit Einteilungen daher. Mit Fragmentierungen. Mit einem System gar. Ich mag Systeme nicht. Weil sie die fließende Wirklichkeit unseres Lebens niemals wirklich erfassen. Ständig schwappt da was über die Ränder der Systemkästen. Weil es lebendig ist. Was also soll mir ein Buch, das einen erneuten Versuch unternimmt, lebendiges Leben in ein System zu zwängen? Soetwas ist vielleicht etwas für den Kopf. Die Seele macht es nicht satt. Inneres Wachstum lebt von erzählten Geschichten, nicht von Baukastensystemen.
Nun habe ich Tiki Küstenmacher glücklicherweise persönlich erlebt als einen warmherzigen, humorvollen, sehr geschickt Vortragenden. Deshalb will ich für einen Moment weiter seiner Sprache folgen. Aber: der erste Schock sitzt. Solche Sprache verrät nichts Gutes.
Nach einer kurzen Erklärung der Forschungsarbeiten des amerikanischen Erkenntnistheoretikers Clare Graves – wesentliche Grundlage des vorliegenden Buches – lese ich: „Paulus könnte man als Apostel für die Ich-Stufen bezeichnen“ (S. 44). Aha. Auf das Schubfach. Paulus rein. Ein wenig nachstopfen, damit er ins neue System passt. Fertig. Und nichts ist gewonnen. Ich möchte rufen: „Tiki, was machst du da? Mal lieber eine schöne heitere Zeichnung vom Apostel, aber doch nicht sowas! Schubfächer sind nicht deine Sache! Deine Sache sind die Bilder!“ Aber nein. Es geht weiter mit den Schubfächern.
Dann folgt das Kapitel „Gott 1.0 – Beige“. Und ich beschließe, das Buch nicht weiter Seite für Seite zu lesen. Ich werde es überblättern. Werde mir nur die interessanter klingenden Abschnitte ansehen. Ich kann nichts anfangen mit einen „Gott 1.0 – Beige“. Da schau ich mir lieber die Fenster in St. Stephan in Mainz an. Die sind von Chagall. Und erzählen mir mehr über die Wirklichkeit, die unsere Sprache „Gott“ nennt. Denn mit diesen Bildern kann ich wirklich (etwas) anfangen. Mit Schubfächern nicht. Die kann ich nur auf- und zuschieben.
Lesenswerter finde ich den Abschnitt „Zustände“. Da geht es um lebendige Spiritualität. Und stolpere schon wieder: „Wir teilen Wilbers Überzeugung, dass die saubere Unterscheidung zwischen Stufen und Zuständen das heutige Verständnis von Religion revolutionieren kann, weil sie „den einzigen und wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Wesens spiritueller Erfahrungen enthält.“ (S. 237).
Ah, da ist es wieder. Dieses Wörtchen, das ich so sehr liebe: „einzig“. Der „einzige und wichtigste Schlüssel“ also. Zum Verständnis.
Nein! Tiki, nein! Es ist ein Schlüssel.
Neben vielen anderen.
Ob ein solches Verständnis von Religion der „wichtigste Schlüssel“ ist, sollen Spätere entscheiden.
Solche exklusive – ausschließende – Sprache sagt mir nicht zu.
Sie ist nicht einladend. Sie ist nicht offen.
Sie erzählt nicht. Solche Sprache deklamiert. Ich fühle mich angepredigt, nicht eingeladen.
Großartig stattdessen Marc Chagall. Der malt mir ein Bauernhäuschen mit einer offenen Tür. Einladend. Eine solche Tür braucht gar keinen Schlüssel. Denn sie ist offen.
Damit man eintreten kann.
In ein „erkenntnistheoretisches System“ noch dazu „mit einem einzigen und wichtigsten Schlüssel“ kann ich nicht eintreten.
Will ich auch nicht.
Anschaulich erzählt sind Abschnitte im Buch wie „Das Sakrament des Augenblicks“ (S. 241 ff). Da geht es um Achtsamkeit, um Wachsamkeit für das Leben im Jetzt. Da geht es um die Wiederentdeckung einer lebendigen Spiritualität. Dazu habe ich besseren Zugang. Auch was über die „Tiefseetaucher des Bewusstseins“ (S. 242) geschrieben ist, ist mir zugänglich. Vielem kann ich zustimmen, was da über die großen Lehrer der Religionen geschrieben steht. Aber schon wieder kommt da so eine Tabelle daher. Zwar hübsch und heiter gezeichnet, wie es Küstenmachers Art ist – man sieht diverse Knollennasenmännchen in Meditation versunken – aber eben doch als „Tabelle“. Und da es mit dem „Wilber-Combs-Raster“ (S. 245) weitergeht, lese ich das Schlusskapitel.
Den letzten Worten kann ich zustimmen.
Hier wird Paulus zitiert:
„In Wirklichkeit ist Gott
jedem von uns überhaupt nicht fern.
Denn wir leben in ihm.
Wir sind mit unserem ganzen Leben und Sein
in ihn hinein verwoben.
An seinem göttlichen Wesen
haben wir teil.“
Ich wünsche, daß „Gott 9.0“ zu dieser Erkenntnis beiträgt.
Denn der Anspruch des Buches ist gewaltig: 100.000 Jahre menschliche Geistesgeschichte zwischen zwei Buchdeckel zu kriegen.
Ob das Buch aber nur ein „gemalter Kuchen“ ist, etwas für den Kopf oder ob es auch die Seele sättigt, das mögen die Leser für sich herausfinden.
Für mich ist es so: dieses Buch wirkt auf mich wie ein „gemalter Kuchen“.
Von jenem sagt man im ZEN: „Ein gemalter Kuchen macht nicht satt.“
Da nehme ich mir nun doch zur Versöhnung lieber den Chagall aus dem Regal und betrachte seine Bilder. Oder ich nehme den Martin Buber, diesen großartigen „Steller der Schrift“, wie er sich selbst bezeichnet hat und lese eine chassidische Geschichte.
Die hat mehr Nährwert.
Sehr schön auch, dass Computersprache als synthetisch empfunden wird, was sie technisch gesehen auch ist, jedoch der eigentliche Createur doch noch human ist. Und diese Werbung links auf Ihrer Seite für ein Unternehmen, dass für mich Code herstellt – ist das Absicht?
Mir ist auch eher der Inhalt des Buches nahegegangen, zugegeben – geklaut und wiedererzählt – und nicht die Sprache – hat mein Denken in eine andere Richtung gelenkt, ohne das ich mich gewehrt hätte.
In mir hat’s auch soviel Widerstand ausgelöst, dass ich rumblättern kann, aber nicht fortlaufend lesen mag. Mir kommt es vor wie 19. Jahrhundert – die Vorstellung mit Tabellen und Enzoklopädien die Welt erfassen zu können und Höher- und Weiterentwicklung zu postulieren, heftig beurteilend und benotend, Das ist alles nicht mein Ding. Es hilft im Verstehen verschiedener Ebenen. Oder noch besser: statt Phasen der Entwicklung sprechen wir von einem Haus mit verschiedenen Räumen. Dann wird es menschlich und lebendig, wir können von einem Raum zum anderen gehen und die Bewertung ist unnötig. Dafür könnten die Einteilung dienen und sogar nützlich sein. Aber so – die Haltung ist unerträglich…
Vor dreitausend entwickelt der Jahwist ein Gottesbild: ich bin der, als der ich mich für euch erweisen werde. Da ist dieses Höherentwicklunggelabere doch einfach zum Kotzen!
Wer sind Sie, Ulrich Kasparick – Ihre Kritik gefällt mir sehr!
Susanne Domnick
Ich bin mittendrin im Buch, irgendwo Bei Gott 4.0. Ja, die Sprache ist platt und ich möchte ständig kritisieren. Trotzdem gebe ich den drei Autoren schon mal Fleißpunkte. Ich muss mindestens bis gelb lesen, bis ich mir eine Meinung erlauben darf. Ich habe viel Ken Wilber gelesen und habe nun noch Hoffnung, da Pulpclon dem Buch auch etwas abgewinnen konnte.
Bücher die mystische Spiritualität nahebringen wollen gibt es bereits zu hauf. Da schadet es sicher nicht, wenn mal ein formal sprachlich ein etwas lockerer Zugang versucht wird. Wer es akademischer haben möchte kann ja zu Ken Wilber „Eros, Kosmos, Logos“ greifen.
Sie selbst blenden wichtige Teile der orangen (rationalen) Stufe aus, wenn sie Systematiken grundsätzlich als negativ empfinden – viele Menschen brauchen einen rational reflektierten Glauben.
Ein wichtiger Punkt der Systematik Ken Wilbers und der Buchautoren ist ja herauszuarbeiten, dass alle Aspekte („die vier Quadranten“, das Objektive, Subjektive in Singular (ich) und Plural (wir) berücksichtigt werden müssen. Also auch das Objektive.
> Für mich ist es so: dieses Buch wirkt auf mich wie ein „gemalter Kuchen“.
Ich habe bereits einige Bücher von Ken Wilber gelesen und muss feststellen, dass das Buch eine hervorragende Zusammenfassung und Einführung in die integrale Spiritualität bietet, die auch der (Selbst)erkenntnis sehr dienlich ist. Es beschreibt meine eigenen Erfahrungen auch sehr gut. Mir ist einiges klarer geworden dadurch. Es ist ein Augenöffner, auch wenn man es bei der Aufmachung und den Zeichnungen Küstenmachers so gar nicht vermuten würde. Es ist eben kein hingemalter Kuchen, sondern das Destillat von 20 Jahren hervorragender Arbeit an integraler Spiritualität durch Wilber und andere.
das freut mich. ich finde immer interessant, wie verschieden worte auf die menschen wirken können. es ist dasselbe buch, das sie lesen und doch ist die wirkung eine völlig verschiedene.
Ich hab Marion Küstenmacher letztes Jahr auf dem Kirchentag auf dem Weg in Leipzig auf einer Podiumsdiskussion erlebt und dadurch das Buch „Gott 9.0“ kennengelernt. So umfassende Theorien sind natürlich immer ein bisschen problematisch. Da das ganze auf empirischen Untersuchungen beruht und sich mit der persönlichen Erfahrungen vieler Menschen deckt, ist es, denke ich, schon ein recht solides Modell – wie Richard Rohr ja auch in seinem Vorwort schreibt. Mein Eindruck ist auch, dass in dieser Richtung die Zukunft des Christentums und aller Religionen liegt.
Die Integrale Bewegung hat ja auch eine große Nähe zur Mystik und ist insgesamt gesehen gar nicht so verkopft und theoretisch, wie man beim Lesen von Gott 9.0 denken könnte.
Im englischen Sprachraum gibt es schon viel mehr zum Thema „Integral Christianity“ – sogar integral churches. Ich versuche mich gerade mit anderen zu vernetzen, die sich für das Thema interessieren und sich gezogen fühlen, das auch praktisch umzusetzen. – Weiß jemand, ob es in Berlin „integrale Christen“ oder entsprechende christliche Projekte gibt? Oder hat jemand Lust mitzumachen?