„…denn deine Sprache verrät dich“


Der Mann hatte zweimal geleugnet. Gar geschworen. Und doch: seine Sprache verriet ihn als einen Kombattanten, als einen Genossen, einen Weggefährten, einen Gleichgesinnten. Der Satz stammt aus einer alten Geschichte, die von einem berühmten Gerichtsprozess handelt. Ein Hahn kommt auch drin vor. Seither findet man jenen Hahn oben auf der Wetterfahne vieler Kirchen. Der Hahn als Zeuge des Meineids und der Lüge.
Lüge beginnt im Denken.
Die Sprache folgt.
Und schafft Wirklichkeit.
Deshalb ist es interessant, wenn absichtliche Veränderungen an Sprache vorgenommen werden. In Ministerien zum Beispiel.
Man kann mit Hilfe der Sprache Zusammenhänge verschleiern, kann sie deuten, kann Beabsichtigtes vorweg nehmen.
Wer mit wachem Auge die Titel von Gesetzen liest, findet hundertfachen Beleg für solches Denken.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, vor langen Jahren in jenem „Land hinter den Bergen“, wie es mir manchmal vorkommt, in dem die Beobachtung der Sprache zu einem Hilfsmittel wurde, um herauszufinden, was die Obrigkeit tatsächlich im Schilde führte.
Die zweite Diktatur hat gar einen eigenen „Wortschatz“ hervorgebracht, wobei mir das Wort vom „Schatz“ gar nicht gefallen will. Denn die Sprache der Diktatur war vor allem eins: Instrument zur Vernebelung der Hirne.
Zu meinem Handwerkszeug zur Entschlüsselung gesellschaftlicher Wirklichkeit wurde seit meinen Studienjahren das großartige Buch von Victor Klemperer „LTI – Lingua Tertii Imperii. Sprache des Dritten Reiches“. Man konnte es bei Reclam kaufen für ein paar Groschen.
Ich weiß noch, wie ich manches Mal gemeinsam mit Freunden den Klemperer las und daneben das „Neue Deutschland“, das „Zentralorgan der SED“. Wir wollten entschlüsseln, was um uns vorging. Wollten aus der Sprache der Oberen erraten, wie es um sie und uns stand.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einem unserer Professoren, dem ich viel verdanke. Er machte uns auf das zunehmend Religiöse in der Sprache der Diktatur aufmerksam. Nur wenige Jahre vor dem Ende der Diktatur begann sie, die sich doch eigentlich atheistisch verstand, religiöse Vokabeln zu benutzen. Da war von „ewiger Freundschaft zur Sowjetunion“ zu lesen. Man sprach zu einem Zeitpunkt von „ewiger Freundschaft“, als die Reformbemühungen Gorbatschows einen ersten Schwall frische Luft ins System bliesen. Als Kurt Hager auf die Frage, wie er zur Perestroika stünde, lakonisch kommentierte: „Wenn mein Nachbar renoviert, brauche ich nicht auch gleich neue Tapeten“ wurde klar, daß es mit dem „Ewigen“ in jener Freundschaft nicht gut bestellt sein konnte. Der Kaiser war nackt.
Als die Titel, die die Gazetten, allen voran das „Neue Deutschland“ dem „Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretär des ZK der SED“ beigaben, immer länger und die eigentliche Nachricht immer kürzer wurde, war klar: er hatte um seine Macht zu fürchten. Manche Meldung bestand zu drei Vierteln aus den Titeln jenes Herrn und im letzten Satz konnte man erfahren, daß er verreist sei. Ins „Bruderland“ zum Beispiel.
Auch vom „neuen Menschen“ konnte man erfahren, dies schon vom Anbeginn der Diktatur. Je religiöser die Sprache der Diktatur wurde, um so näher war die Diktatur vor ihrem Ende. Wenn ein Staat beginnt, religiöse Sprache zu benutzen, führt es zum Ende. Die Generation meiner Eltern hatte es schon einmal erlebt.
Wenn eine Diktatur eine von Handwerkern unter Polizeischutz gemauerte Wand als „antifaschistischen Schutzwall“ bezeichnet, liegt offen zu Tage, daß es sich um Propaganda handelt. Man hört die Absicht und ist verstimmt.
Wer an einem Geschäft, in dem es tote Hühner gibt „Goldbroiler“ lesen kann, weiß, daß es um den Versuch der Diktatur geht, „dem Westen“ etwas „entgegenzusetzen“.
Ich lese in einer kleinen Wortesammlung über die Sprache der zweiten Diktatur bei Wikipedia und tauche plötzlich wieder ein in jene seltsame Atmosphäre in jenem Land, in dem ich dreißig Jahre gelebt habe. Es berührt mich, wie sehr diese dort gesammelten Vokabeln mir das Gefühl zurückbringen, das meinen Alltag hinter der Mauer bestimmte. Sprache als Heimat. Vertrautes, bekanntes Land. Gewohnte Worte. Bilder werden wieder klarer. Erinnerungen kehren zurück. Sie sind in den Worten enthalten. Ganze Geschichten stecken in den Worten. Zum Beispiel im „Bausoldat“. Die Geschichte von der Verweigerung des „Wehrdienstes“ in der Diktatur. Ich seh mich noch stehen vor den vier Männern hinter dem Tisch. Wie ich ihnen erklärte, weshalb ich keine Waffe nehmen würde. Und wie die Angst erst bemerkbar wurde, als ich schon auf dem Weg nach Hause war.

Seit über zwanzig Jahren lebe ich nun in dem anderen Land vor oder hinter den Bergen, je nachdem, von wo aus man schaut.
Beinahe ebenso lang. Ich kann vergleichen. Und viele Millionen mit mir, die beide Länder hinter den Bergen kennen.
Eine neue Sprache ist über uns gekommen wie ein fremdes Hemd. Anfangs fühlte ich mich wie „ein Fremder im eigenen Land“. War es Christa Wolf, die so sprach, oder war’s ein anderer? Ich weiß es gar nicht mehr sicher. Aber das Gefühl weiß ich noch sicher. Das sich verband mit der neuen Sprache.
Sie ist subtiler, weniger offensichtlich. Aber doch auch wieder sehr direkt.
Und, was mir immer mehr auffällt. Sie wird immer gewaltsamer. Ich bin über die Aggressivität erstaunt, die ich beispielsweise „im Netz“ finden kann, in „Dialogen“ zu „postings“. Denkwürdigerweise nicht selten von Menschen vorgetragen, die sich „gegen Gewalt“ aussprechen. Wenn ich „streams“ lese, in denen Menschen über der Umgang mit rechtsextremen Gedanken streiten, fällt es mir oft besonders auf: wie gewaltsam die Sprache ist, wie offen aggressiv. Die Bereitschaft, die Meinung eines Menschen offen aggressiv anzugreifen, wenn man selbst eine andere Meinung vertritt, ist überraschend groß. Da ist viel Wut im Lande. Die Sprache verrät es.
Auch lässt sich jene depressiv gestimmte Aggressivität in „streams“ erkennen, die sich mit Sozialreformen beschäften. „Hartz IV“ zum Beispiel. Da kocht die Wut.
In der Politik dann war schließlich alles „auf einem guten Wege“. Vor allem, wenn es von der Regierung kam. Und, vor allem, es war „eine Erfolgsgeschichte“.
Denn: nur der „Erfolg“ zählt. Woran man ihn misst, hat man mir nicht verraten.
Die „Performance“ war entscheidend. Das „Bild in den Medien“, das doch täglich wechselt, je nachdem, welche Sau grad wieder durchs Dorf getrieben wird.
Das Reden vom „guten Weg“ und der „Erfolgsgeschichte“ war ein Ritual: was Regierung tat, war eine „Erfolgsgeschichte“. Per se. Aus sich selbst. Es war ein Axiom. Ein Voraus-Gesetztes.
Die Antwort der jeweiligen Opposition war nicht weniger ritualisiert. Man kann es finden in Redeprotokollen.
Die Rede von der „Erfolgsgeschichte“ verrät, wie sehr unsere Gesellschaft am „Erfolg“ orientiert ist. Sie hängt an diesem Wort wie der Junkie an der Nadel. Mit „Erfolg“ wird assoziiert, daß man „sich durchgesetzt“ hat; man hat dann „Erfolgszahlen vorzuweisen“ zum Beispiel. Oder Mehrheiten.
Wenn nun ein Bundesminister, dessen Ressort zu über 90% von europäischer Gesetzgebung betroffen ist, in „seinem Hause“ Anglizismen zugunsten deutscher Vokabeln verbieten will; wenn er von „Klapprechnern“ statt „Laptop“ redet, dann zeigt sich nationales Denken. Es ist sicher unbedacht und unbeabsichtigt. Aber offensichtlich. Denn in einer Welt, die von einem hohen Maß internationaler Arbeitsteilung bei der Herstellung von Waren geprägt ist, in einer Welt, in der die Worte oft dem Produkt „folgen“, folglich englisch sind, wenn sie aus englischsprachigem Ausland stammen, in einer solchen Welt wirkt der Versuch, Anglizismen verbieten zu wollen wie der Kampf des Don Quichotte gegen jene Windmühlenflügel, von denen man lesen kann. Der Bundesminister scheint noch nicht wirklich in Europa „angekommen“ zu sein.
Aber das soll meine Sorge nicht sein. Es ist nur eine Beobachtung.
Was mich begleitet all die Jahre bleibt: so, wie ich in jenem Land hinter den Bergen die Sprache beobachtet habe und die Veränderungen in der Gesellschaft, die von den Veränderungen in der Sprache angezeigt werden, lange bevor sie eintreten; so beobachte ich die Sprache in diesem Land hinter oder vor den Bergen, je nachdem, von wo aus man schaut.
Der Klemperer ist immer noch gut.
Man kann ihn für ein paar Groschen bekommen….
Und das jüdische Sprichwort ist vermutlich wahr:
„Achte auf dein Denken, denn aus ihm kommt deine Sprache.
Achte auf deine Sprache, denn aus ihr werden deine Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn aus ihnen wird dein Schicksal“