Irrtümer. Die Bundestagswahlen des Jahres 1990. Notizen aus meinem Diensttagebuch.


Es ist an der Zeit, die alten Notizen wieder zur Hand zu nehmen und zu kommentieren, sonst werden sie immer schwerer verständlich und die Nachgeborenen können nicht mehr recht verstehen, was da notiert wurde. Deshalb nehme ich meine alten Dienst-Tagebücher nun wieder zur Hand, sehe sie durch und veröffentliche die eine oder andere Notiz, weil sie historisch interessant sein könnte. Ich war im Jahre 1990 Geschäftsführer des „Vereins für Politische Bildung & Soziale Demokratie e.V.“, der Vorläuferorganisation für die Friedrich-Ebert-Stiftung im Gebiet der ehemaligen DDR. Meine Diensttagebücher der Jahre 1990 bis 1995 sind komplett und vollständig und jetzt eine gute Grundlage für eine präzise Erinnerung.

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Dieses Foto zeigt meine Notizen während einer Veranstaltung in der heutigen Gewerkschaftsschule Bernau am 19. 7. 1990. Es ging darum, für die SPD den Bundestagswahlkampf zu planen. Versammelt waren Vertreter der Bundes-SPD und vor allem die Geschäftsführer der ostdeutschen SPD-Bezirke (die damals noch im Entstehen waren). Die Ost-SPD hatte ja keinerlei Strukturen zur Verfügung.  Die Friedrich-Ebert-Stiftung beteiligte sich an der Veranstaltung nicht, ich war sozusagen als „Beobachter“ dabei. Gottfried Timm hatte den Vorsitz der Versammlung, eine Werbeagentur (Rudolf Schäfer) war anwesend und Erik Bettermann von der „Deutschen Welle“ war als PR-Profi dazu gekommen.  Die von ihm referierten ZDF-Umfrage-Zahlen zeigten: „Die SPD liegt vorn“ und „Parteien aus dem Westen werden bevorzugt“. Die PDS lag damals bei 5% in den Umfragen, wie das Foto vom Protokoll belegt. Eins war klar: der Osten war ein besonderes „Problem“ in diesem Wahlkampf, mit dem keiner so richtig umgehen konnte. Wichtig sei, wie die SPD „in den elektronischen Medien“ (damit waren Radio und Fernsehen gemeint) vorkäme. Man wolle „Zeitungsanzeigen. Auch in der BILD-Zeitung“ schalten, pro SPD-Bezirk seien „100 Großtafeln“ geplant. Die ganze Unternehmung würde etwa „7 Millionen“ kosten, in den 4 letzten Wochenenden vor der Wahl solle es „Sonderzeitungen“ geben, man wolle „besonders in der DDR Grundbotschaften vermitteln“.

Die „inhaltlichen Schwerpunkte, Stand Juli 1990“ seien:
1. der Ökologische Umbau der Wirtschaft
2. für Soziale Gerechtigkeit
3. für sichere Arbeitsplätze
4. für gute Wohnung
5. für sichere Renten

Der „rote Faden“ solle sein: „Wir sind die erfahrenen Krisenmanager“ (die von der SPD regierten 7 Bundesländer seien allesamt „Krisengebiete“).

Und dann hat man sich allen Ernstes die Frage gestellt (rechts im Foto zu erkennen): „Womit fängt die SPD an, wenn sie die Regierung bildet?“
Hinzugefügt wurde: „Bis Anfang August ist Oskars Konzept fertig“. Die Rede war von Oskar Lafontaine, damals Ministerpräsident des Saarlandes und Kanzlerkandidat der SPD. Seine „Grundphilosophie“ sei: „keine konsumtiven Investitionen, sondern strukturförderne, innovative Investitionen“.

Ich erinnere mich noch ziemlich genau: die Vertreter der Ost-Bezirke der SPD hörten sich das alles ziemlich still an. „Der Westen“ redete. Er bezahlte die Sache schließlich auch.

Bei der Bildung der Wahlkreise wusste man im Juli 1990 noch nichts Genaues. Klar war nur, das Präsidium der Volkskammer bereite dafür ein Gesetz vor. Reinhard Höppner war der wichtige Mann dafür. Gleichzeit war jedoch zu erfahren, dass das Statistische Bundesamt im Auftrage des Bundesinnenministeriums bereits an dieser sensiblen Frage arbeite. Im Hintergrund wurden die Fäden gezogen. „Sollte es Schwierigkeiten mit den Wahlkreiszuschnitten geben“ meinte Bettermann, „müsse das mit Reinhard Höppner diskutiert werden.“

Dann wurde der „Rednereinsatz“ geplant. Sachsen-Anhalt (Höppner) und Brandenburg (Stolpe) sollten „direkt auf Landesebene koordinieren“. Für den „Osten insgesamt und für NRW“ sei Willy Brandt vorgesehen.
Man wolle „keine Riesenveranstaltungen“ im Osten machen, sondern „Pressebesuche in den Redaktionen; Betriebsbesuche in den Betrieben (die grade krachen gegangen waren ….), man solle bei den Veranstaltungen im Osten auch „Zeit für Fragen“ berücksichtigen.

So war die Planung am 19. Juli 1990 in Bernau.
Rausgekommen ist was andres: Kohl gewann die Wahl, die ganz im Zeichen der Feierlichkeiten anlässlich der „Wiedervereinigung“ am 3. Oktober 1990 stand. Er hatte mit dem „Druck auf den 3. Oktober“, den richtigen Riecher.

Beobachtungen aus der Provinz


Ähnliche Veranstaltungen habe ich seit 1990 schon viele erlebt. Ich weiß noch, wie mir 1990 in Leipzig ein Freund zuraunte, mit dem ich oben auf der Tribüne stand: „Ein Rauschen im Blätterwald – und weg sind sie“. Was er meinte: politische Stimmungen wechseln.
Und so war es ja dann auch.
Ich habe seither so manchen kommen und auch wieder gehen sehen.
So mancher, der anfangs ähnlich euphorisch gefeiert wurde, wurde wenige Monate später – nicht selten von den eigenen Leuten – heftig angegriffen.
So ist Politik.
Den Nominierungsparteitag in Berlin-Treptow habe ich bei phoenix verfolgt, weil mich interessiert hat, wie „die Stimmung“ derzeit ist und was konkret denn gesagt wird.
Bei dem „was gesagt“ wird, weiß ich wohl, wie solche Reden gemacht werden.
Da wird nur sehr wenig dem Zufall überlassen. Und man hat vorher bereits Aussagen in der Öffentlichkeit „getestet“. Das Team registriert sehr genau, was „ankommt“ und was weniger.
All dieses Handwerkliche ist mir bekannt und auch vertraut.
Und mit diesem geschärften Blick habe ich mir angesehen, was da heute in Berlin-Treptow vor sich gegangen ist.
Manches, was da heute an Stimmung zu beobachten war, wird sich ändern. Bis zur Wahlentscheidung im September ist noch ein sehr langer Weg zu gehen. Und schon vierzehn Tage sind in politics eine lange Strecke. Bis zum September sind es aber noch Monate.
Schulz weiß das. Und sein Team weiß das auch.
Aber drei Punkte sind aus meiner Sicht dennoch besonders:
1. Es gab noch nie in der langen Geschichte der Sozialdemokratie eine Wahl zum Vorsitz, die mit 100% für den Kandidaten entschieden wurde. Selbst die legendären Ergebnisse von Kurt Schumacher lagen darunter. Insofern ist das Datum eines, das in die Chroniken eingehen wird.
2. Wer der Rede des Kandidaten aufmerksam zugehört hat, wer seine Körpersprache, seine Mimik, seine Gestik zu interpretieren wusste, wer gemerkt hat, wo die „Textbausteine“ anfingen und wo es engagiert persönlich wurde – der konnte finden, dass der Kandidat beim Thema „Europa“ und bei der Auseinandersetzung mit den „Rechten“ besonders engagiert wurde. Da hat ein Mann gesprochen, dem Europa wirklich und aus tiefster Überzeugung am Herzen liegt. Und zwar deshalb, weil er Europa sehr gut kennt.
Das ist – gerade in der gegenwärtigen Situation – nicht nur wichtig, das ist nötig. Deshalb ist es gut und ein wichtiger Impuls für die ganze nun folgende Auseinandersetzung, dass da von Anfang an dieser starke europäische Impuls zu hören und zu sehen war.
3. Die politische Auseinandersetzung mit den Völkischen wird nun aufgenommen. Und zwar tritt da eine Partei an, die sich – anders lässt sich das Wahlergebnis nicht interpretieren – geschlossen hinter ihrem Kandidaten versammelt hat. Da kämpft nicht nur ein Kandidat. Da kämpft nun eine Mann- und Frauschaft von über 400.000 Mitgliedern.
Die Sozialdemokraten haben sehr viel Erfahrung in der Auseinandersetzung mit völkischem Gedankengut. Und diese Erfahrung werden sie nun einbringen.

Für mich ist diese Veranstaltung deshalb durchaus eine besondere gewesen, auch wenn ich sie nur aus der Provinz beobachten konnte. Sie war keine, „wie andere auch“.
Der politische Wettbewerb wird nun nach und nach konkreter werden und er wird auch an Schärfe gewinnen. Es ist eine große Sache. Denn Deutschland ist kein kleines Land in Europa.
Deshalb fand ich es sehr beachtlich, dass da ein politisch in Europa beheimateter, sehr erfahrener Kandidat von „Würde“ sprach. Und davon, für die eigenen Positionen zu werben. Damit war der Stil angesprochen, mit dem man die Auseinandersetzung zu führen gedenkt.
Derlei ist – gerade in Zeiten von fake news, überbordendem Hass und schlechtem Umgangsstil insbesondere in social media – durchaus bemerkenswert.

Ich habe so manche Wahlauseinandersetzung erlebt, auch selbst bestritten und manchmal habe ich in den zurückliegenden Jahren auch Müdigkeit empfunden.
Aber auf diese Auseinandersetzung, auf die freue ich mich.

Die Entscheidung ist gefallen.


Wie es ihre Art ist, trägt Barbara Hendricks nüchtern Zahlen vor:
369.680 Mitglieder der SPD haben sich am Votum beteiligt und ihre Unterlagen zurück geschickt.
31.800 davon konnten wegen Formfehlern nicht gewertet werden.
337.880 Stimmen wurden wirksam, davon waren 316 ungültig.
Mit „Ja“ haben gestimmt: 256.643 (das entspricht 75.96%)
Mit „Nein“ haben gestimmt: 80.921 (das entspricht 23,95%).

Soweit die Fakten.
Ich sehe viele klatschende Menschen, vor allem junge Menschen und erinnere mich an Wahlkampfzeiten, wenn Erfolge zu feiern waren. Engagierte Ehrenamtliche, die getan haben, was zu tun war: auszählen.
Sie haben allen Applaus verdient.
Ich sehe frühere Kollegen in den Saal kommen. Lächelnd. Klatschend. Sehe, wie sie sich kameragerecht aufstellen.
Dann folgt eine Rede, in der die Demokratie gelobt wird. Vor allem die innerparteiliche.
Das ist ein Abschnitt, dem ich sehr zustimmen kann: dieses Mitgliedervotum war eine mutige und richtige Sache.
Allerdings hat es aus meiner Sicht bei seiner Durchführung Fehler gegeben, die sind aber vermeidbar beim nächsten Mal. Auch innerparteiliche Demokratie in diesem Umfang will halt geübt sein und Fehler kommen halt vor. Man kann aus ihnen lernen.

Wozu haben 256.643 Mitglieder der SPD „ja“ gesagt?
Sie wollen, dass die SPD erneut in eine Große Koalition mit der Union eintritt. Als Juniorpartner.
Dadurch entsteht eine übergroße parlamentarische Mehrheit von 80% im Deutschen Bundestag.

Und daher kommt mein Unbehagen, beinahe ein Unwohlsein, trotz der lächelnden Gesichter und klatschenden Hände.

Die Mitglieder werden anfangs genau beobachten, wie die Kabinettsbildung vonstatten geht. Besonders wichtig: wer werden die Leute in der zweiten Reihe sein? Die beamteten und parlamentarischen Staatssekretäre?
Wird es gelingen, sich durchzusetzen innerhalb der Koalitionsdisziplin?
Ich weiß wohl, dass es selbst unter Ministerien die politisch gleichfarbig geführt werden, zu herben Rangeleien kommen kann, wenn es um konkrete Gesetze geht. Die gleiche politische Farbe an der Spitze von zwei Ministerien sagt nichts aus über die Harmonie zwischen den „Häusern“.
Noch schwieriger wird der Kampf zwischen den „Häusern“, wenn sie verschiedenfarbig politisch geführt werden.
Am Ende wird sich die Mehrheit innerhalb der Koalition durchsetzen. Letztlich entscheidet das Kanzleramt, bzw. die Kanzlerin selbst.
Das ist die ernüchternde Erfahrung.
Im Parlament gilt dann die Koalitionsdisziplin: abgestimmt wird gemeinsam. Es gibt keine Opposition innerhalb einer Regierung.

Was aber ist mit der Opposition, dem Grundpfeiler einer parlamentarischen Demokratie?
Sie kann nicht, was sie müsste, weil sie zu klein ist.

Wozu führt das?
Dass die Demokratie Schaden nimmt.
Daher kommt mein Unwohlsein.
Aus der Erfahrung als Parlamentarischer Staatssekretär in zwei Regierungen.

Ein guter Tag für die innerparteiliche Demokratie.
Kein guter Tag für die Demokratie im Parlament.
Ich hoffe sehr, dass diese übergroße parlamentarische Mehrheit nun nicht wie eine Dampfwalze Politik macht.
Ich hoffe sehr, dass der „Druck der Mehrheit“ nicht zu einer Ausgrenzung anderer Meinungen führt. Die Sorge darum ist – gerade in Deutschland – nicht unbegründet.
Die Entscheidung ist gefallen.
Meine Sorge ist stärker geworden.

Komm, wir gründen eine Partei – Anmerkungen eines silversurfers


Kann sein, dass ich sentimental werde, aber die Bilder dieser Tage von den „Piraten“ lassen doch die eine oder andre Erinnerung wach werden.
Oktober war’s. 1989.
Die Diktatur beherrschte alles.
Und doch gründeten wir damals unsere neue Partei. Was nicht ungefährlich war.
Ibrahim Böhme und Rainer Hartmann wollten mich mitnehmen nach Schwante, aber ich war in Wandlitz beim Kaffee und nicht zu Hause.
Eine Woche später war ich dabei, bei dieser „SDP“, wie sie sich nannte in bewusster Abgrenzung von der westdeutschen „SPD“.
Denn wir wollten „es anders machen“.
Internet hatten wir nicht. Wussten nicht mal, was ein fax ist. Handys – Fehlanzeige. Autos: alte Plastikkutschen. Kopierer? Was’n das?
Die Stasi war dabei, wie wir jetzt wissen und hat uns doch nicht aufhalten können.
Es galt, die Diktatur zu beseitigen und eine parlamentarische Demokratie einzuführen in ein Land, das 40 Jahre Diktatur verwüstet hatten.

Heute kommen die „Piraten“ und entern ein Landes-Parlament.
Junge, engagierte Leute, die den „alten Parteien“ mal ordentlich den Marsch blasen“ wollen. Oder genauer: twittern.
Und ich sehe, wie sie da sitzen bei „Phoenix“ bei ihrer ersten Pressekonferenz nach einer Wahl, die alle 15 ihrer Kandidaten ins Berliner Abgeordnetenhaus gespült hat.
Und erinnere mich.

Mit Handys haben sie’s gemacht, mit Laptops und Computern, tablets und viel „Internetzeugs“.
Spaßig rufen sie den Journalisten zu, es gäbe „nachher noch eine Gelegenheit für eine Nahaufnahme des Internets“.
Wofür sie stehen, ist noch nicht recht deutlich.
Um „mehr Demokratie“ soll es gehen.
Das ist gut.
Und verdammt schwer.
Denn viele Menschen haben „keinen Bock“ auf Demokratie, machen lieber dumme Sprüche oder amüsieren sich auf Kosten der Engagierten.
Das ist einfacher.
Demokratie jedoch macht Mühe.
In der Opposition zumal, denn für keinen einzigen seiner Anträge findet man eine Mehrheit.
Parlament aber funktioniert nach Mehrheiten der Gewählten.
Die jungen Leute werden also unter Druck kommen von denen, die „draußen“ sind, vor den Toren des Parlaments.

Ich erinnere mich an unser „Programm“ an unsere „Ideen“ – und wie sie scheiterten am Realen.
Nicht immer, darauf können wir stolz sein.
Aber doch oft.
Beispielsweise gibt es bis heute keine gesamtdeutsche Verfassung.

Ich erinnere mich gut, wie es war, als die Medien anfingen, sich für uns zu interessieren, denn das war ja das gefundene Fressen für die Neuigkeitsindustrie: ein ganzes Land geht unter!
Das hat was, wenn ein Land zusammenbricht. Das interessiert den Zuschauer.
„Wer sind die Neuen? Was wollen die?“
Auf den Fluren in der Rungestraße stand der NDR und der Spiegel, ZDF und wie sie alle heißen kamen hinterdrein, wir hatten nicht mal Stellplatz in den kleinen Räumen für die Kopierer, die uns Partner aus dem Westen zur Verfügung gestellt hatten.
Die Überschrift beim NDR hieß: „SDP – Hightech steht auf dem Klo“.
Wir lernten die Macht der Medien kennen.
Wie sie einen hochschreiben und wieder fallen lassen.
Wie sie sich einen aufs Korn nehmen oder unterstützen.
Wie sie jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben und einen verrückt machen damit.

Aber das haben wir erst nach und nach gelernt.
Später dann, als etliche von uns im Parlament saßen. Im gesamtdeutschen.
Und Minister wurden und Staatssekretäre, manche gar Ministerpräsidenten.

Das war ein langer Weg.
Wir haben den Unterschied gelernt zwischen Wünschenswertem und Machbarem.
Das war schmerzhaft und manch einer hat es nicht durchgehalten und ist von Bord gegangen.

Man wird sich denken können, dass ich die „Piraten“ deshalb mit besonders großem Interesse und auch großer Sympathie beobachte.
Junge Leute, engagiert, unkonventionell, noch etwas unklar.
Aber „die Grünen vertreten die alte Politik“ kann ich bei twitter lesen. Da ist man sich schon mal sicher.
Das ist der Anspruch einer neuen Generation.
Deshalb wäre es schade, wenn der Gründer der Piraten Recht behielte. „Wir sind nicht gekommen, um zu bleiben“ hat er der WELT gesagt.
Das wäre schade.
Denn die Demokratie braucht frischen Wind, Glasnost und Perestroika, Transparenz!
Das war die Forderung von Gorbatschow, das war unsere Forderung, und, wenn ich richtig höre, fordern es auch die „Piraten“.
„Macht mal einer das Fenster auf! Lasst Luft rein!“

Dieser Ruf ist so alt wie die Demokratie.
Und immer wieder kommen neue, frische junge Leute mit dieser Idee.
Sie wollen es besser machen als die Alten.
Das ist ihr gutes Recht.

Ich wünsche ihnen sehr, dass sie sich nicht blenden lassen von der Aufmerksamkeit der Medien grade in den ersten Tagen nach einem Wahlerfolg.
Das ändert sich.
Und wenn der Wind von vorn bläst, liebe Piraten, wer wüsste es besser als ihr: dann müsst ihr kreuzen!

Willkommen in der Demokratie, für die wir gemeinsam streiten.
(ich war von 1998 bis 2009 MdB und von 2005-2009 Staatssekretär in zwei Bundesministerien).

Liebe Freunde in der SPD-Bundestagsfraktion, sagt Nein!


Ulrich Kasparick
Parl. Staatssekretär a.D.
Berlin
13. Januar 2011

Liebe Freunde in der SPD-Bundestagsfraktion,
die vom Vorstand der SPD in Potsdam beschlossenen Texte lassen es zu, daß ihr Ende Januar „Nein!“ sagt zum Antrag der Regierung, das Afghanistan-Mandat für die Bundeswehr erneut zu verlängern.
Ihr habt geschickt formuliert. Das eröffnet nun die Möglichkeit, Nein! zu sagen. Denn ihr habt euch festgelegt: ihr wollt, daß die Regierung ein klares Abzugsdatum nennt, das 2011 beginnen soll.
Die Regierung ist sich nicht einig – wie üblich.
Der Außenminister will einen weichgespülten Beschluss „….sofern die Lage es zulässt“, die ihm eine Friedensdividende im Inland bringen soll angesichts der katastrophalen Werte für die FDP. Das ist einfach zu durchschauen.
Der Verteidigungsminister hat mehrfach öffentlich geäußert, daß er sich dies offen halten will. Er entscheidet rein nach militärischen Gesichtspunkten. Von einem Verteidigungsminister, der Mitglied der CSU ist, ist nichts andres zu erwarten.

Von den Sozialdemokraten jedoch erwarten die Menschen im Lande – immer noch – eine Menge.
Zum Beispiel, daß sie zu ihren eigenen Beschlüssen stehen.

Was die Menschen nicht wollen, sind unklare Beschlüsse.
Hohe Militärs haben heute (13.1.2011) gegenüber der Presse (u.a. Leipziger Volkszeitung) angekündigt, daß sich die Bundeswehr nach dem Beschluss des Parlaments an einer „Großoffensive“ beteiligen werde.
Man trifft die Vorbereitungen bereits jetzt, damit es schon am 28. Januar losgehen kann.

Ihr wisst wie ich, daß bei solchen militärischen „Maßnahmen“ vor allem Zivilisten leiden.
Der Angriff auf einen Tanklastzug bei Kunduz Ende 2009 hat es gezeigt.
Wenn man rein militärischer Argumentation folgt, kann man solche Katastrophen wie in Kunduz nicht ausschließen.
Wenn man einer rein militärischen Argumentation folgt, kann die Politik nach Hause gehen.
Die Bundeswehr ist aber eine Parlamentsarmee.
Die Abgeordneten entscheiden. Niemand sonst.

Ich kann verstehen, daß ihr auch die Bündnisverpflichtungen Deutschlands beachten müsst.
Ich kann euer Bemühen erkennen, dennoch einen Weg zu suchen, der verantwortbar und klar geregelt zu einem Abzug des deutschen Kontingents führt.

Die niederländischen Sozialdemokraten haben wegen dieser Frage sogar die Regierungsbeteiligung riskiert.
Ihr aber seid zur Zeit Teil der Opposition, braucht also nicht mal ein so hohes politisches Risiko einzugehen wie die niederländischen Kollegen.
Es ist nicht die Zeit falscher Rücksichtnahmen.
Sondern es ist die Zeit klarer Alternativen zur Regierungspolitik.
Macht euch nicht gemein mit einer Politik, die unklar, uneinheitlich und verworren ist.

Guttenberg hat heute (13.11.2011) erneut deutlich gemacht, daß er einem Abzugsbeginn in 2011 nicht zustimmen kann.

Das bedeutet: ihr könnt – nach dem Beschluss des SPD-Vorstandes – dem neuen Mandat nicht zustimmen.

Die Regierung wird das Mandat mit ihrer Mehrheit durchsetzen.
Deutsche Soldaten werden sich der geplanten Großoffensive im Norden Afghanistans beteiligen.
Dabei wird Blut fließen. Soldatenblut und Blut vor allem von Zivilisten.

Nehmt es nicht auf euch, daß durch unklares Abstimmungsverhalten die deutsche Sozialdemokratie dafür mit Verantwortung trägt!

Ich wünsche euch: klare Gedanken, ein heißes Herz und ein wenig Mut.

Sagt „Nein!“