Das Bild hing bei uns zu Hause in der Garage. Niemand hat es wirklich beachtet. Jetzt, knapp 50 Jahre später, sehe ich es mir genauer an.
Zu sehen ist mein Urgroßvater Gustav (rechts) und mein Großvater Walter.
Beide tragen Uniform. Ich verstehe nichts von Uniformen, muss mich also zunächst belesen und versuchen, herauszufinden, was ich da überhaupt sehe. Lebensdaten helfen, mich zu orientieren: Gustav wurde am 15. Mai 1845 in Ströbitz bei Cottbus geboren. Gestorben ist er am 10. Juni 1923 in Halle/Saale. Am 5. August 1876 kam sein Sohn Walter (links im Bild) in Wilhelmshaven auf die Welt.
Daraus ergeben sich Fragen: Wie kommt ein junger Mann aus Gröbitz bei Cottbus nach Wilhelmshaven? Was hat er in Wilhelmshaven gemacht?
Bekannt ist, Gustav hat 1873 in Kiel geheiratet. Soweit, so gut.
Nun kommt eine „Familienlegende“ hinzu: es heißt (die schriftliche festgehaltene Information der Schwester meines Vaters stammt aus dem Jahre 1957), Gustav sei „als junger Matrose“ am 16. November 1869 bei der Eröffnung des Suez-Kanals dabei gewesen. Der preußische Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich III sei auf ihn zugekommen, weil er die äußerliche Ähnlichkeit zwischen dem „jungen Matrosen“ und ihm selbst festgestellt hätte. Beide hätten sich Rücken an Rücken gestellt, der Kronprinz sei „4 Zentimeter größer“ gewesen. Wilhelm III. habe dem Gustav anlässlich dieses Ereignisses zugesichert, wenn er mal in Not käme, könne er sich an Wilhelm wenden.
Soweit die Familienlegende, die nie wirklich überprüft wurde.
Außerdem heißt es in jener Notiz von 1957, Gustav habe „bei Nordlicht Tagebuch geschrieben“.
Das also sind die wenigen Informationen, die am Beginn der Recherche zur Verfügung stehen.
Wir sehen einen Mann in einer Uniform, auf deren linkem Ärmel ein Anker mit einer Krone zu sehen ist. Offenbar eine Marine-Uniform. Zeitraum: Kaiserliche Marine nach 1845. Wir sehen weiterhin, der Mann trägt eine Schirm-Mütze und er trägt einen Säbel mit einem „Band“ daran. Hinweise, die nun zu dechiffrieren sind.
Wie ein Blick auf die Uniformen der Kaiserlichen Marine bei Wikipedia nach drei Tagen Recherche verrät, handelt es sich um einen Offizier. Denn nur Offizieren war – nach bestandener Hauptprüfung – das Tragen des Säbels gestattet. „Zur Parade und als Ausgehanzug wurde eine blaue Kurzjacke getragen–. Auf jeder Seite der Jacke saß eine Reihe von neun Metallknöpfen. Die Brandenburger Aufschläge waren sechsknöpfig“.
Wann aber wurde Gustav Offizier? Wie begann seine militärische Laufbahn?
Wir nähern uns in umgekehrter Richtung: das Foto zeigt ihn zusammen mit seinem Sohn, das Foto ist also deutlich „nach 1873“, dem Geburtsjahr von Walter aufgenommen. Walter ist auf dem Foto ca. 20 Jahre alt, das Bild könnte also 1893 oder etwas später aufgenommen worden sein. Gustav war zu dieser Zeit etwa 50 Jahre alt.
Setzen wir nun von der anderen Seite her an. Falls Gustav – der Familienlegende nach – an der Eröffnung des Suez-Kanals 1869 teilgenommen hat, war er zu diesem Zeitpunkt 24 1/2 Jahre alt. Da war er mit Sicherheit kein „junger Matrose“ mehr, wie die Familienlegende behauptet, denn die Ausbildung der „Cadetten“ begann sehr früh, am Anfang der Kaiserlichen Marine schon mit 12 – 14 Jahren! Wir schauen nun also zunächst einmal in die Geschichte der Kaiserlichen Marine und finden, dass sie erst 1817 begonnen hat. 1843 erst wurde auf „höchste Order“ hin eine Uniform festgelegt. Eine rechtlich völlig klare Anstellung der „geprüften Matrosen“ gab es erst 1847. Erst am 5. September 1848 begann eine reguläre Ausbildung für die aufzubauende preußische Marine. Und zwar mit einem „Marine-Commando“ in Stettin. Die Geschichte der Kaiserlichen Marine ist auf vorzügliche Weise von Karl Hinrich Peter, Kapitän zur See, im Jahre 1969 aufgeschrieben worden.
Nehmen wir nach der Lektüre der Geschichte der Preußíschen Marine von Karl Hinrich Peter nun aus guten Gründen an, dass Gustav seine Ausbildung bei der Marine etwa im Alter von 14 Jahren begonnen hat, dann hat er 1859/60 damit begonnen. Das Höchstalter für Offiziersanwärter in jenen Jahren betrug 15 Jahre. Nach zweijähriger Ausbildung war die Beförderung zum „Cadetten 2. Klasse“ möglich. Nach 4 Jahren „Cadett 2. Klasse“ war die Beförderung zum „Cadetten 1. Klasse“ möglich.
Das bedeutet für unseren Gustav:
1860 Beginn der Ausbildung als „Matrose 2. Klasse“
1862 Beförderung zum „Cadetten 2. Klasse“
1866 Beförderung zum „Cadetten 1. Klasse“.
danach bis ca. 1868 „große Seereise“
ca. 1871 Ernennung zum „Unterlieutenant“.
Die Ausbildung begann im April und wechselte zwischen „Praxis“ an Bord eines Ausbildungsschiffes und „Theorie“ an Land. Die Ausbildung begann der Junge offenbar als „Matrose 2. Klasse“, er wurde „Cadett 2. Klasse“ und später – nach der Prüfung – zum „Cadett 1. Klasse„. Der ist Offiziersanwärter und trägt schon die Knöpfe der Offiziersuniform und den Säbel. Auf obigem Foto sehen wir also vom militärischen Rang her mindestens einen „Cadett 1. Klasse“ nach sechsjähriger Ausbildung vor uns, der Säbel gibt den Hinweis. Denn seit 1858 trugen „alle Cadetten 1. Klasse sowie alle Seeoffiziere“ den Säbel.
In den Jahren 1855 – 1866 fand die theoretische Ausbildung im „Seekadetten-Institut“ in Berlin statt (nach dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1865 kam die Ausbildung nach Kiel), wir können also davon ausgehen, dass Gustav zunächst in Berlin seine theoretischen Unterrichtseinheiten absolvieren musste.
Seit 1857 ist das Schreiben des „Logbuchs“ (also des Tagebuchs des Matrosen) Pflicht. Das ist vermutlich mit der Bemerkung aus dem Jahre 1957 gemeint, Gustav habe „bei Nordlicht Tagebuch geschrieben“. „Bei Nordlicht“ deutet auf die Route hin, die eins seiner Kadetten-Ausbildungsschiffe genommen hat. Eine „große Seereise“ gehörte ja zur Ausbildung, meistens waren es sogar zwei. Denn nach der Prüfung war eine etwa zweijährige „ausgedehnte Seereise“ vorgesehen. Nach weiteren 3 1/2 Jahren erfolgte die Ernennung zum „Unterlieutenant“.
Kadetten-Ausbildungsschiffe waren ab 1843 die „Amazone„, ab 1858 die „Arcona„, die Segelfregatte „S.M.S. Niobe“ (1862 – 1890) und die „S.M.S. Hertha„. Es könnte also sehr wohl sein, dass Gustav noch auf der Arcona seine Ausbildung begonnen und dann auf der „Niobe“ fortgesetzt hat.
Sowohl die „Niobe“ als auch die „Hertha“ waren als Kadetten-Ausbildungsschiffe an der Eröffnung des Suez-Kanals im November 1869 beteiligt. Die kaiserliche Flotte wurde ergänzt durch die Yacht „S.M.S. Grille“ des Kronprinzen und durch das Kanonenboot „S.M.S. Delphin„.
Es könnte also durchaus sein, dass Gustav im November 1869 als „Cadett 1. Klasse“ oder gar schon als „Unterlieutenant“ an der Eröffnung des Suez-Kanals beteiligt war.
Genaueres kann man nur noch durch das Auffinden und die Kontrolle der eventuell noch vorhandenen Cadetten-Schüler- bzw. Mannschaftslisten herausfinden.
Das ist – in kurzer Fassung – die Geschichte zum Herrn auf der rechten Seite des alten Fotos. Mit dem Herrn auf der linken Seite befassen wir uns ein andermal.