Das „NS-Archiv“ der Staatssicherheit, die „Organisation Gehlen“ und der Schauprozess („Gehlen-Prozess“) im Jahre 1953

Das „NS-Archiv“ der Staatssicherheit, die „Organisation Gehlen“ und der Schauprozess („Gehlen-Prozess“) im Jahre 1953

Die Staatssicherheit der DDR unterhielt ein eigenes, sogenanntes „NS-Archiv“, das heute im Bundesarchiv zugänglich ist.
Die Staatssicherheit der DDR sammelte darin Material gegen NS-Belastete, ehemalige NSDAP-Mitglieder, Mitglieder von SA und SS etc, die im Gebiet der ehemaligen „SBZ – Sowjetischen Besatzungs-Zone“ und ab 1949 der DDR wohnten.
Diese Aktensammlung – die u.a. durch eine geheime Razzia von Schließfächern in Sparkassen und Banken der DDR zustande kam – wurde von der Staatssicherheit jedoch keineswegs nur dazu angelegt, ehemalige NS-Verbrecher zu „entlarven“ und anzuklagen, wie es der offiziellen DDR-Lesart entsprochen hätte, sondern man benutzte diese Akten ganz nach politischem Nutzen. Manche mit schwerer NS-Vergangenheit wurden angeklagt, andere nicht, je nachdem, wie die Stasi den „politischen Nutzen“ einer Anklage einschätzte.

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war noch nicht lange vorbei, da fand im Dezember 1953 der sogenannte „Gehlen-Prozess“ statt. Ein Schauprozess, in dem „Spione“, die innerhalb der DDR für die „Organisation Gehlen“, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes arbeiteten, enttarnt und verurteilt wurden.

Wir wissen mittlerweile, dass der ehemalige SS-Generalmajor Franz Mueller-Darss von Hamburg aus ab 1948 für die „Organisation Gehlen“ und den BND gearbeitet hat. Meine Bitte um Auskunft beim BStU, ob die Staatssicherheit über Mueller-Darss Akten angelegt hat, wurde positiv beschieden, eine Akteneinsicht ist für Anfang November in der BStU vereinbart.

Auf diesem Hintergrund ist ein Dokument von Interesse, das den Kenntnisstand der Staatssicherheit über Aufbau und Arbeitsweise der „Organisation Gehlen“ im Dezember 1953 deutlich macht: man war bestens informiert.
Wir befinden uns im Jahre 1953 mitten im „Kalten Krieg“. Das wird auch an der Sprache deutlich, die im folgenden Tondokument hörbar wird.

Hier nun die etwa anderthalbstündige Urteilsbegründung im Gehlen-Prozess vom Dezember 1953 als Tondokument.

Wir werden auf das Thema Mueller-Darss und Organisation Gehlen wieder zurückkommen, wenn die Akten ausgewertet sind.

Mueller-Darss und der Leibarzt Himmlers

Mueller-Darss und der Leibarzt Himmlers

Beide kannten sich. Beide gehörten zum engsten Kreis um Reichsführer SS, Heinrich Himmler. Der eine war sein „Beauftragter für das Diensthundewesen“ – der hatte sich um etwa 50.000 Hunde bei SS, Militär und Polizei zu kümmern, wozu auch die Bewachung der KZ-Häftlinge, insbesondere in den Außenkommandos der Konzentrationslager gehörte. Der andere war ein Arzt, der den Heinrich Himmler behandelte, wenn der mal wieder seine Magenschmerzen hatte.

Jener Arzt nun, Felix Kersten, bittet den „Hundemüller“, Franz Mueller-Darss also, um einen Gefallen. Man schreibt das Jahr 1949, der Krieg war vorbei. Felix Kersten soll in einem Untersuchungsverfahren belegen, dass tatsächlich er es war, der durch eine Intervention bei Heinrich Himmler erreicht hat, dass etwa 8 Millionen Holländer nicht in die Ukraine und nach Weißrussland und ins Generalgouvernement zwangsumgesiedelt wurden, wie ein angeblich von Adolf Hitler unterzeichneter Umsiedlungsplan schon für das Jahr 1941 eigentlich vorsah.

Der niederländische Historiker Louis de Jong hat sich mit jenem Umsiedlungsplan, für dessen angebliche Verhinderung Felix Kersten höchste Auszeichnungen in den Niederlanden erhalten hat, genauer befasst. Seine Ergebnisse kann man in der Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Nr. 28 unter dem Titel „Zwei Legenden aus dem Dritten Reich“ „Felix Kersten und die Niederlande“ (DVA Stuttgart 1974, S. 77-138) finden. Das Ergebnis seiner vorzüglichen textkritischen Arbeit lautet kurz und lapidar:
einen solchen von Hitler unterzeichneten Umsiedlungsplan hat es nie gegeben.

Nun aber schreibt man das Jahr 1949 und der Leibarzt Himmlers sucht immer noch weitere „Zeugen“ für seine Variante der Erzählung. Vom persönlichen Adjutanten Himmlers, Dr. Rudolf Brandt (im „Ärzteprozess“ am 20. August 1947 zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet) hatte er schon im Oktober 1947 eine als „vorsichtige Unterstützung“ zu lesende schriftliche Aussage bekommen . Man muss dabei wissen: Zur Unterstützung Brandts in dessen Prozess hatte Kersten am 8. Januar 1947 eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die dem American Military Tribunal zur Entlastung Brandts vorgelegt wurde.
Beide Männer helfen sich also gegenseitig.

Einen weiteren „Zeugen“ seiner Variante der Wahrheit bringt Felix Kersten im Jahre 1949 bei: er wählt Franz Mueller-Darss, der sich im Verfahren aber als „Franz Müller-Darss. Generalmajor d. R. Beauftragter für Forst- u. Jagdwesen im Stabe des Oberbefehlshabers des Ersatzheeres“ bezeichnet. Beide kannten sich aus dem Persönlichen Stab des Reichsführers SS. Der eine als dessen „Hundebeauftragter“, der andere als dessen Leibarzt.

Franz Mueller-Darss (er hat, so ist es in seiner SS-Personalakte sauber notiert, größten Wert darauf gelegt, MUELLER geschrieben zu werden. Nun heißt er schlicht „Müller“) behauptet, „Beauftragter für Forst- und Jagdwesen“ gewesen zu sein. So jemanden hat es aber nie gegeben. Schon gar nicht im Stabe des „Oberbefehlshabers des Ersatzheeres“. Interessanterweise gibt Mueller-Darss keine Adresse an, als er am 28. September 1949 in Hamburg eine schriftliche „Erklärung“ zugunsten von Felix Kersten abgibt.

Wie Luis de Jong in seinem Artikel akribisch nachweist:

der ehemalige Generalmajor der Waffen-SS Franz Mueller-Darss, im Persönlichen Stab des Reichsführers SS Heinrich Himmler „Beauftragter für das Diensthundewesen“ gibt dem Leibarzt Himmlers, Dr. Felix Kersten im Jahre 1949 ein zusammengelogenes Gefälligkeitsgutachten zu einem „Deportationsplan“, den Kersten verhindert haben will, den es aber nie gegeben hat.

Dabei – und das ist nebenher noch interessant – vermeidet es Herr „Müller“, eine Adresse anzugeben und die Unterschrift unter seiner „Erklärung“ weicht ebenfalls deutlich von der Unterschrift unter seinem persönlichen Lebenslauf in der SS-Personalakte ab.
Luis de Jong kommentiert trocken: „Müller-Darss hat aus Gründen, die man nur vermuten kann, in seiner Aussage seinen wahren Rang und seine wirkliche Funktion verschwiegen und durch andere Angaben ersetzt.
Der „Generalmajor der Reserve“ hatte offenbar Gründe, Nachforschungen über seine Person zu erschweren.“ (a.a.O. S. 116).

Ein Grund ist inzwischen bekannt: Franz Mueller-Darss war seit 1948 in den Diensten der Organisation Gehlen, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes. Er lebte im Jahre 1949 in Hamburg.

SS-General Mueller-Darss und der Bundesnachrichtendienst


Man kannte ihn. „Sind Sie bei Ihren Recherchen zur frühen Geschichte des Bundesnachrichtendienstes auf Franz Mueller-Darss, den „Hundemüller“ gestoßen?“ hatte ich vor einiger Zeit Dr. Gerhard Sälter gefragt, der in der Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND maßgeblich mitarbeitet.

„Ja, wir kennen ihn. Es gibt mehrere Akten über ihn beim BND, darunter 2 Personalakten. Ich kann Ihnen sagen: Mueller-Darss war von 1948 zunächst im Dienste der Organisation Gehlen, dann bis 1966 im Dienste des BND“, so schrieb mir Dr. Sälter im September 2020.


Mueller-Darss gehörte zur Riege derjenigen, von denen im hier eingefügten Film von ARTE (2018) die Rede ist: https://www.youtube.com/watch?v=bjI5t2hKGD4&feature=share&fbclid=IwAR0JOPR9SNBQ3FBCMZhmPGsVNJ7hqgKHYXmfWlo9R-ZKFP8vLbBX7ZnX5fk