Tante Ma und Tante Hildegard – ein Versuch


Während die twitter- und facebookwelt eine Neuigkeit nach der anderen im Sekundentakt durchs Internet jagt, wächst da eine interessante kleine Geschichte. Die von Tante Ma und Tante Hildegard.
Bei einem Mittagessen entstand die Idee, zwei historische Personen – sie haben tatsächlich gelebt  – wieder zum Leben zu erwecken.
Die eine – Jahrgang 1900; die andere – Jahrgang 1902.
Die historischen Daten sind vertraut.
Nun ist es so, daß sich die beiden alten Damen nicht nur an dem einen oder anderen Gespräch im Internet beteiligen, sondern sich auch ziemlich regelmäßig zum „Kaffeplausch“ treffen.
Dabei werden aus der Idee zwei Figuren.
Sie gewinnen an Kontur, je länger sie miteinander sprechen.
Im Dialog wird erkennbar, was sie geprägt hat, wie sie das Leben gesehen haben mögen, wo ihre Stärken und Schwächen liegen.
Der Vorgang ist in sofern interessant, als er im Internet stattfindet.
Im Dialog zweier real lebender Menschen.

Nicht ein einzelner Autor denkt sich am stillen Schreibtisch eine Figur aus und gibt ihr Farbe.
Sondern zwei Autoren, die sich persönlich kennen und schätzen, entwickeln da zwei Figuren und geben ihnen Farbe durch den Dialog.
Das hübsche dabei: da werden kleine Geschichten erzählt. Mundartlich manche sogar. Historisch einige.
Man kann die beiden sitzen sehen. Beim Kaffee oder Tee. Wie sie reden über die Zeitläufte.

Es ist ein interessanter Versuch, denn da findet eine Brechung von Lebenserfahrung statt.
Denn, die Enkel oder Großneffen lassen da Menschen wieder lebendig werden, die real gelebt haben und von denen sie ziemlich viel wissen.
Aber: sie sehen es natürlich durch ihre „Brille“.
Und spiegeln es am Gegenwärtigen.
Im Dialog. In der ungeplanten, spontanen Begegnung.

Es ist ein Experiment. Ein heiteres zudem, das Freude und Freunde macht.
Kann man über eine größere Distanz hinweg, wenn man sich zu bestimmten Zeiten verabredet, einen solchen Versuch unternehmen?
Man kann.

Im Netzwerk facebook.
Mit Tante Ma und Tante Hildegard.
Beim Kaffeplausch.
Und Zwischendurch.

Tante Hildegard spricht von der Bildung


Tante Hildegard ist alt und sie ist frech. Das sagte ich schon. Dabei ist frech gar nicht richtig. Sie sagt halt, was sie denkt.
Gradeaus und ohne Umschweife. Das Übrige macht die Erfahrung. Und davon hat sie viel.
Sie ist fromm und sie hat eine dicke runzlige rote Nase.
Das eine kommt vom Krieg.
Das andre vom Schnaps. Sie trinkt gern mal einen. „So zur Verdauung“.
Wenn ich sie besuche, soll ich ihr hin und wieder was aus der Zeitung vorlesen.
Die Augen eben, das geht nicht mehr so.
„Nur die Überschriften!“ sagt mir Tante Hildegard. „Das andre weiß ich dann schon.“
Die alte Indianerin hat wohl die Gabe des Hellsehens, denke ich so bei mir, nur die Überschriften!

„Wir brauchen ein Top-Bildungssystem“ lese ich vor.
„Wer hat das gesagt?“ will Tantchen wissen.
„Der Gysi Gregor“.
Da fängt die Tante an zu kichern und nimmt sich noch ein Schnapsbonbon.
„Heute ist alles topp, nicht?“ fragt sie und kichert immer noch.
„Alles ist topp – die Bildung, die Autos, die Lappen. Alles topp“ kichert sie und meint:
„Ach weißt du, wir hatten einen alten Lehrer damals, als ich noch ein junges Ding war.
Der war so stolz, weißt du. Ging immer mit seinem steifen Kragen durch die Stadt und war sehr streng zu den Kindern.
Ich durfte ja nicht so lange zur Schule gehen, musste früh um vier immer erst die Kühe melken und durfte dann erst in die Schule.
Mein Vater wollte nicht, daß ich zuviel lerne. Eigentlich wollte ich Krankenschwester lernen. Aber ich durfte nicht. Nach der Grundschule war Schluss. Ich sollte lieber zu Hause helfen.
Das hat er falsch gemacht“ sagt die alte Tante. „Lern du mal ordentlich. Das ist schon recht so. Aber bild dir nix drauf ein, hörst du?“
„Und was war mit deinem Lehrer?“ frage ich nach.
„Ach der, was soll ich dir sagen, der war ein ganz Gescheiter. So mit Lateinisch und so. Hat ihm alles nix geholfen.
Ist trotzdem in den Krieg gezogen 1914 und seine Schüler auch.
Gesungen haben sie und die Hüte geschwenkt. Stäußchen an der Jacke. Und die Mädels haben gewinkt, als der Zug losfuhr in den Krieg.
Als das vorbei war, ich war sechzehn damals, da haben sie keine Sträußchen mehr gehabt, weißt du. Und gesungen haben sie auch nicht mehr.
Und dieser Lehrer, dieser Schlaue, als der älter wurde, wurde der immer vergesslicher. Ganz schlimm war das.
Der ist dann – da war er schon in Pension – da ist er immer durch den Ort gegangen – und alle kannten ihn ja von der Schule – und hat die Leute immer angesprochen und gemeint:
„Kennen Sie mich? Ich bin hier der Lehrer. Kennen Sie mich?…“
Mensch, soweit kann es mit einem kommen.
Wenn die Krankheit kommt – da ist sie plötzlich futsch, die ganze schöne Bildung.

Aber das wissen die nicht, die da solche Reden schwingen. Egal wie sie heißen, Gregor, Fritz oder egal wie.
Alles soll topp sein“. – Dann macht sie eine Pause.
„Der Gysi, war das nicht der, der bei dem Hornickel für die Kirchen zuständig war?“

„Nein, das ist der Sohn“ werfe ich ein.
„Ach so“, meint die alte Tante. „Der Sohn also.“

„Wir brauchen ein Top-Bildungs. Was?“
„System“ sage ich.
„Das hat er gesagt?“ fragt sie nach einer Weile, zupft sich die Wolldecke zurecht, mit der sie ihre Beine bedeckt hat, wenn sie in ihrem Sessel sitzt.
„Ach Jung, ich weiß nicht, was das alles soll. Da reden sie und reden, alles solle topp sein auch mit der Bildung, aber im Grunde wollen sie nur, daß man nicht nachdenkt und immer mitmacht.
Das war beim Adolf so, und auch beim Hornickel oder wie der hieß, und jetzt ist’s auch nicht anders.
Weißt du, beim Adolf, da hab ich meiner Tochter verboten, zu dem zu gehen.
Ich war schon allein damals; der Mann war schon gestorben.
Aber die Tochter hab ich denen nicht gegeben. Da war ich gradeaus.
Da haben sie erst mächtig rumgeknurrt, als ich das gesagt hab. Aber ich hab mich nicht beirren lassen.
Und geschadet hat’s dem Mädel nicht, daß sie nicht zu den Nazis gegangen ist.“

Dann macht sie wieder eine Pause, die Tante Hildegard.
Verschnauft ein wenig.
Und dann sagt sie noch, schon halb beim Hindämmern:
„Alles soll top sein. Alles.
Wenn die nur wüssten, daß das Leben erst richtig anfängt, wenn es mal nicht top ist….“

Sagt sie und nickt ein.
Ich stehe auf und schleiche mich leise aus dem Zimmer.

Meine alte Tante Hildegard


Am Nikolaustag hab ich sie wiedergetroffen. Meine alte Tante Hildegard. Sie ist alt und sie ist frech. Je älter sie wird, umso frecher wird sie.
Meine alte freche Tante ist fromm und sie hat ne dicke rote Nase. Das eine kommt vom Krieg, das andre vom Schnaps.
Ich unterhalt mich gern mit ihr.
Sie ist eine Seele von Mensch.
„Na, Jung, willste was trinken?“ fragt sie immer, wenn ich in der Tür steh, um sie zu besuchen.
Und dann hocken wir uns zueinander und besprechen die Dinge der Welt.
Gestern hat sie gemeint: „Jung, vorige Woche bin ich in Köln in den Zug gestiegen. Da saß mir ein Mann gegenüber im Abteil. Den hab ich gefragt: „Und wohin wollen Sie?“ Da hat er gemeint: „nach München“. Und ich hab gesagt: „Und ich will nach Berlin.“ Da hat er gesagt: „Ist doch doll, wieweit die Technik heutzutage ist, nicht? Da sitzen wir beide im selben Abteil und der eine fährt nach München und der andre nach Berlin“…..

Es bleibt ja nicht aus, dass wir ab und an auch über Politik sprechen.
Da lacht sie mich immer aus, meine alte freche Tante.
„Ach, Du immer mit deine Politik“ sagt sie.
„Ich hab als Kind noch den Kaiser gesehen mit seinem Pummel auf dem Helm. Und dann kam der Zeppelin über die Dörfer geflogen. Und dann war die schwere Zeit.
Dann kam der Verrückte, der Adolf.
Und dann der Hornickel, oder wie der hieß.
Nee nee, weißt du, ich hab all die Tage immer in meinem Gesangbuch gelesen. Das taugt mehr als die alle zusammengenommen.“

„Glaubst du ans Ewige Leben?“ hab ich sie kürzlich gefragt.
Da hat sie gemeint:
„Ich weiß nicht so recht, wie das sein wird. Aber ans Fegefeuer glaub ich.
Ich finde, die beste Strafe in der Ewigkeit wär, wenn die Politiker in alle Ewigkeit ihre eigenen Reden anhören müssten“.

Da hab ich es verstanden.
Das mit dem Fegefeuer.

Meine alte Tante Hildegard ist ja eigentlich sowas wie eine adoptierte Schwester meiner Mutter.
Sie waren auf der Flucht in jungen Jahren. Vor den Russen.
Später hat sie bei der Bank gearbeitet.
Mit den Männern hat es nicht so geklappt in ihrem Leben, aber mit dem Humor um so besser.
Vielleicht kommt ja das eine vom andern.
Wenn wir abends telefonieren, sagt sie mir manchmal:
„So mein Lieber, und nun trink ich noch mein Bierchen zum Abend. Und du, mach dir mal auch eins auf. Prost, alter Junge! Und pass auf, daß du nicht so gesund lebst, sonst stirbste am Ende noch“ kichert sie ins Telefon, und mein Abend ist gerettet.

Manchmal erzählt sie mir was von früher. Brüder hat sie gehabt. „Alles große Kerle!“ sagt sie stolz und reibt sich die rote Nase.
„Unser Zweiter, der war besonders kräftig.
Der hatte bei der Armee so einen verrückten Hauptmann.
Der wollte, daß die Jungs im kalten Wetter in der Oder schwimmen sollten.
Aber der blöde Heini hat sich nur aufgeblasen und hatte keine Ahnung.
Wenn der gewusst hätt, wie gut die Jungs schwimmen können.
Aber unser Zweiter, der hat sich gedacht bei dem Appell „Na warte Alter, Dir werd ich mal einen einschenken!“
Und dann hat er zu seinem Hauptmann gesagt, daß er nicht wimmen könnte.
Der blies sich immer mehr auf und hat rumgebrüllt, er solle endlich ins Wasser springen.
Da ist er gesprungen.
Und hat sich unten im Fluss an der Kaimauer an der Leiter festgehalten.
Unter Wasser.
Hatte ordentlich tief Luft geholt. Und saß nun da unten.
Und blieb und blieb.
Und da oben der Affe wurde immer bleicher und bleicher.
Dann hat er gebrüllt, zwei andre sollten hinterherspringen und den blöden Bauern da wieder hochziehen, solche Angst hatte er plötzlich, daß der ertrunken sein könnte.
Mein Bruder hat immer Tränen gelacht, wenn er die Geschichte erzählt hat.
Aber dann haben sie ihn doch abgeschossen.
Über dem Kanal.
Ich habs die Nacht vorher geträumt.
Ja, so war das, mien Jung.
Na, denn prost!“
Sagt sie und ich fühle mich geborgen in ihrer Gegenwart.
Wie eine alte Indianerin kommt sie mir manchmal vor.
Vom Wetter gegerbt, das Herz auf dem rechten Fleck.
Weiß Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Seit ich sie getroffen hab, meine alte frechte Tante, weiß ich, was das Wort „Familienbande“ bedeutet…..