Tante Hildegard spricht von der Bildung


Tante Hildegard ist alt und sie ist frech. Das sagte ich schon. Dabei ist frech gar nicht richtig. Sie sagt halt, was sie denkt.
Gradeaus und ohne Umschweife. Das Übrige macht die Erfahrung. Und davon hat sie viel.
Sie ist fromm und sie hat eine dicke runzlige rote Nase.
Das eine kommt vom Krieg.
Das andre vom Schnaps. Sie trinkt gern mal einen. „So zur Verdauung“.
Wenn ich sie besuche, soll ich ihr hin und wieder was aus der Zeitung vorlesen.
Die Augen eben, das geht nicht mehr so.
„Nur die Überschriften!“ sagt mir Tante Hildegard. „Das andre weiß ich dann schon.“
Die alte Indianerin hat wohl die Gabe des Hellsehens, denke ich so bei mir, nur die Überschriften!

„Wir brauchen ein Top-Bildungssystem“ lese ich vor.
„Wer hat das gesagt?“ will Tantchen wissen.
„Der Gysi Gregor“.
Da fängt die Tante an zu kichern und nimmt sich noch ein Schnapsbonbon.
„Heute ist alles topp, nicht?“ fragt sie und kichert immer noch.
„Alles ist topp – die Bildung, die Autos, die Lappen. Alles topp“ kichert sie und meint:
„Ach weißt du, wir hatten einen alten Lehrer damals, als ich noch ein junges Ding war.
Der war so stolz, weißt du. Ging immer mit seinem steifen Kragen durch die Stadt und war sehr streng zu den Kindern.
Ich durfte ja nicht so lange zur Schule gehen, musste früh um vier immer erst die Kühe melken und durfte dann erst in die Schule.
Mein Vater wollte nicht, daß ich zuviel lerne. Eigentlich wollte ich Krankenschwester lernen. Aber ich durfte nicht. Nach der Grundschule war Schluss. Ich sollte lieber zu Hause helfen.
Das hat er falsch gemacht“ sagt die alte Tante. „Lern du mal ordentlich. Das ist schon recht so. Aber bild dir nix drauf ein, hörst du?“
„Und was war mit deinem Lehrer?“ frage ich nach.
„Ach der, was soll ich dir sagen, der war ein ganz Gescheiter. So mit Lateinisch und so. Hat ihm alles nix geholfen.
Ist trotzdem in den Krieg gezogen 1914 und seine Schüler auch.
Gesungen haben sie und die Hüte geschwenkt. Stäußchen an der Jacke. Und die Mädels haben gewinkt, als der Zug losfuhr in den Krieg.
Als das vorbei war, ich war sechzehn damals, da haben sie keine Sträußchen mehr gehabt, weißt du. Und gesungen haben sie auch nicht mehr.
Und dieser Lehrer, dieser Schlaue, als der älter wurde, wurde der immer vergesslicher. Ganz schlimm war das.
Der ist dann – da war er schon in Pension – da ist er immer durch den Ort gegangen – und alle kannten ihn ja von der Schule – und hat die Leute immer angesprochen und gemeint:
„Kennen Sie mich? Ich bin hier der Lehrer. Kennen Sie mich?…“
Mensch, soweit kann es mit einem kommen.
Wenn die Krankheit kommt – da ist sie plötzlich futsch, die ganze schöne Bildung.

Aber das wissen die nicht, die da solche Reden schwingen. Egal wie sie heißen, Gregor, Fritz oder egal wie.
Alles soll topp sein“. – Dann macht sie eine Pause.
„Der Gysi, war das nicht der, der bei dem Hornickel für die Kirchen zuständig war?“

„Nein, das ist der Sohn“ werfe ich ein.
„Ach so“, meint die alte Tante. „Der Sohn also.“

„Wir brauchen ein Top-Bildungs. Was?“
„System“ sage ich.
„Das hat er gesagt?“ fragt sie nach einer Weile, zupft sich die Wolldecke zurecht, mit der sie ihre Beine bedeckt hat, wenn sie in ihrem Sessel sitzt.
„Ach Jung, ich weiß nicht, was das alles soll. Da reden sie und reden, alles solle topp sein auch mit der Bildung, aber im Grunde wollen sie nur, daß man nicht nachdenkt und immer mitmacht.
Das war beim Adolf so, und auch beim Hornickel oder wie der hieß, und jetzt ist’s auch nicht anders.
Weißt du, beim Adolf, da hab ich meiner Tochter verboten, zu dem zu gehen.
Ich war schon allein damals; der Mann war schon gestorben.
Aber die Tochter hab ich denen nicht gegeben. Da war ich gradeaus.
Da haben sie erst mächtig rumgeknurrt, als ich das gesagt hab. Aber ich hab mich nicht beirren lassen.
Und geschadet hat’s dem Mädel nicht, daß sie nicht zu den Nazis gegangen ist.“

Dann macht sie wieder eine Pause, die Tante Hildegard.
Verschnauft ein wenig.
Und dann sagt sie noch, schon halb beim Hindämmern:
„Alles soll top sein. Alles.
Wenn die nur wüssten, daß das Leben erst richtig anfängt, wenn es mal nicht top ist….“

Sagt sie und nickt ein.
Ich stehe auf und schleiche mich leise aus dem Zimmer.

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