Es ist ein merkwürdiges Fest. „Himmelfahrt“. Volkstümlich „Männertag“.
Ich bin nie mitgezogen in diesen Männergruppen, die, merkwürdig gekleidet, ausgestattet mit diversen Hupen, Klingeln, Stöcken, Hüten – und vor allem Flaschen – sich auf den Weg machen, um zu wandern und viel zu trinken.
Es waren mir immer irgendwie verdächtige und merkwürdige Gestalten, die da loszogen.
Im Dorfe meiner Kindheit fuhr man mit dem Pferdewagen, geschmückt mit frischem Maigrün, zu einem Fest ins Nachbardorf. Ein Posaunenchor ist auf einem der alten Fotos abgelichtet, die ich aufbewahrt habe aus diesen frühen Tagen der Kindheit.
Ich kann mich noch an die Enge auf dem Wagen erinnern, an die Holzbänke, auch an die Lieder, die gesungen wurden.
„Schmückt das Fest mit Maien“ oder „Geh aus mein Herz und suche Freud“.
Bilder aus der Jugend: die besoffenen Männer, die schon gegen die Mittagsstunde hilflos irgendwo im Gebüsch lagen. „Na, ein toller Feiertag ist das!“ pflegte meine Mutter zu kommentieren und es konnte passieren, daß Vater ausgerechnet an diesem Tag sich mal wieder um eine seiner „Schnapsdrosseln“ bemühen musste, um die er sich kümmerte. Arbeit mit Alkoholikern.
Am Männertag sind sie besonders gefährdet.
Später hat mich die Frage erreicht, was denn diese Männer eigentlich „herunter schlucken“ wenn sie soviel saufen an „ihrem“ Feiertag?
Männer schlucken viel.
Vor allem schlucken sie Gefühle herunter.
Sie sind so erzogen. Nun sind sie so.
Sie schlucken.
Viele jedenfalls.
Eine Hilflosigkeit wird sichtbar an diesem „Feiertag“. Eine Hilflosigkeit, wie man denn richtig feiern könnte.
Ohne Alkohol scheint „es“ irgendwie nicht zu gehen.
Auch bei der Sauferei gehen die Hahnenkämpfe untereinander weiter. Wer wohl am längsten durchhalten kann bei der Sauferei? Wer wohl am längsten am Tisch sitzen bleibt oder am längsten noch alleine laufen kann?
Irgendwie ist es nicht wirklich fröhlich, dieses Fest.
Traurige Gestalten sind es, die da an mir vorbeiziehen. Sie werden einen dicken Schädel haben, wenn sie wieder munter werden nach dem Gelage.
Es gibt etliche Familien in diesem Lande, die gerade am heutigen Tage mit Angst und Sorge auf den Abend blicken, wenn Vater wieder mal besoffen nach Hause kommt.
Es ist ein Tag, in dem viel Gewalt stattfindet in den Familien.
Schläge gibt es. Zornige Worte. Einsamkeiten.
Ein solcher „Männertag“ schmeckt irgendwie schal wie ein abgestandenes Bier.
Ich höre aus manchem offenen Fenster gegen Abend eines solchen Tages brüllende Männer und keifende Frauen.
Kinder höre ich kaum. Sie sind still.
Die Angst hält ihnen den Mund zu.
Auf einer zweiten, tieferen Ebene klingt dieser Tag nach Sehnsucht.
Da schwingt eine Sehnsucht vieler Männer in diesem Tag, daß sie endlich mal was „für sich“ tun könnten. Wenigstens an diesem Tag im Jahr.
Mal wieder „mit den Kumpels“ losziehen, mal ohne Frau und Kind, einfach nur so, mit „guten Freunden“.
Eine Sehnsucht schwingt da mit, daß sie wenigstens mal an diesem Tag „frei“ sein könnten von der „Familie“, frei von etwas, das sie als „Last“ empfinden.
Die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen ist eben leider immer noch sehr oft so, daß sich die Männer um das Einkommen der Familie und das „Haus“ kümmern.
Sie bauen die Häuser; sie schuften bis zum Umfallen.
Sie liefern das Erarbeitete „für die Familie“ ab und sie wissen oft gar nicht was es bedeuten könnte, einmal etwas „für sich“ zu tun.
„Mal wieder mit den alten Kumpels losziehen“, so wie jedes Jahr; vielleicht.
Am Männertag.
Dann ziehen sie los und können doch nichts loswerden von ihrer inneren Sehnsucht nach Nähe und Berührung. Denn sie können nicht darüber sprechen. Man hat es ihnen abgewöhnt und später hatten sie es verlernt. Sie kennen ihre inneren Bedürfnisse kaum noch.
Sie können nur „tüchtig“ und „erfolgreich“.
Sie können nicht „schwach“ und „hilfsbedürftig“.
Es sind Gefühle von Überforderung, von unmäßigem Leistungsdruck, von ungestillter innerer Sehnsucht; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, von Anlehnungsbedürfnis und vielleicht auch ein versteckter Wunsch nach Kreativität, die da am „Herrentag“ so viele tausend Mal heruntergeschluckt werden, wenn die Kerle, laut singend und hupend und bimmelnd, immer die selben Lieder singend, durchs Land ziehen, um sich nach und nach zu betrinken.
Es ist ein seltsames Fest.
Wenn ich mich ein wenig in der Literatur umschaue und über dieses „Fest“ nachlese, begegnet mir mythisches Denken:
„Der Versuch, aus eigenen Kräften zum Sitz der Götter aufzusteigen, steht in Mythen und Redensarten für Unmögliches und Vermessenheit. Dennoch befähigt göttliche Hilfe (Wind, Wolke, Flügel, Engel) Garanten von Wissen (ältestes Beispiel der sumerische König Enmeduranki) zu vorübergehender Himmelfahrt. In jüdischen Apokalypsen werden alttestamentarische Gestalten dem himmlischen Milieu anverwandelt und so in kosmische und jenseitige Geheimnisse eingeführt. Verwandt sind Jenseitsreisen bei Plato, Plutarch u.a. ‚Die Hakhalot-Literatur schreibt Rabbinen solche Himmelfahrten zu und gibt praktische Anweisungen für den Nachvollzug, wie auch die sogenannte Mithrasliturgie, bei der die Magier in die Sonne eindringt, um den größten Gott zu befragen. Die islamische Tradition interpretiert Sure 17,1 des Koran als Versetzung Muhammads nach Jerusalem, von wo er auf einer Leiter, einem Flügelroß o.ä. Paradies und Hölle erkundet. Da eine solche Himmelfahrt oft in Traumvisionen oder „außerhalb des Leibes“ erfolgt, hat man die Ekstase der Schamanen damit verglichen. “ (Religion in Geschichte und Gegenwart, Mohr Tübingen, 200; S.1746 f.)
Während ich das lese, ahne ich, daß das Verhalten vieler Männer an „ihrem“ Tag vielleicht mit diesem uralten und vergeblichen Versuch zu tun hat, „aus eigener Kraft“ den „Himmel“ zu erreichen.
Denn dieser Tag, an dem man sich in Gesellschaft anderer Männer häufig einfach nur betrinkt, um „endlich mal gelöst“ zu werden, verbirgt ja vielleicht die Sehnsucht danach, ohne eigene Leistung und Kraft „in den Himmel“ zu kommen.
„Mal wieder richtig ausspannen“; „mal nichts leisten müssen“; „mal wieder richtig feiern“ – vielleicht verbirgt sich in einer ganz tiefen mythologischen, aber gerade deshalb überaus wirksamen Schicht unserer Seele diese geheime Sehnsucht.
Dann hätte der Feiertag der „Himmelfahrt“ vielleicht auch für Männer wieder seinen alten – und überraschend aktuellen – Sinn: nämlich, ein Leben zu versuchen und zu feiern, daß sich nicht aus Leistung, aus Tüchtigkeit und Anstrengung erklärt, sondern sich dem „unverdienten“ Geschenk des Lebens verdankt?
Vielleicht wird Mann auf einem solchen entspannten, fröhlichen und dankbaren Wege eher „in kosmische und jenseitige Geheimnisse eingeführt“, als wenn er es über Tüchtigkeit, Anstrengung und Leistungsbereitschaft versucht?
Fröhliche Himmelfahrt, Männer!
Mit Sicherheit sind die von dir beschriebenen Vorgänge an Himmelfahrt in vielen Fällen Symptom tiefergehender Ursachen. Insbesondere bei den Nicht-Vätern, die aber trotzdem diese Alkoholfahrten mitmachen, dürfte es aber eher um einen unbeschwerten Tag gehen; das Gefühl der Freiheit – und das äußert sich dann in der Trunkenheit der Teilnehmer. Ich persönlich suche (und finde) Freiheit aber an anderen Orten und war noch nie bei einem traditionellen Vatertag dabei…
Ein sehr guter und zutreffender Text!! Es muß ja einen Grund geben, weshalb das alles passiert – ich denke, du hast den Grund gefunden!