„Leute, fresst Scheiße, denn eine Million Fliegen kann sicht nicht irren!“.
Das ist ein alter Sponti-Spruch. Mein Vater hat ihn immer gern zitiert während der Zweiten Diktatur, als sie alle mitmarschierten und ihre Fähnchen schwenkten und nur wenige noch da waren, die nicht bereit waren, ihren Kopf nur dazu zu verwenden, damit der neue Hut passt.
In Zeiten von online-Befragungen und Abstimmungen in Zeitungen hat er nichts an seiner tiefen Wahrheit eingebüßt.
Die „breite Unterstützung in großen Teilen der Bevölkerung“, frisch dokumentiert beispielsweise in der BILD, verführt die Kanzlerin sogar dazu, einen Hochstapler im Amt zu lassen.
Nun sind Mehrheiten ein hohes Gut in einer Demokratie. Ganz ohne Zweifel.
Aber: Mehrheiten lassen sich organisieren. Und sie lassen sich manipulieren.
Im Internet-Zeitalter scheint das ganz besonders schnell zu gehen. Wie sich gezeigt hat, wurden viele Tausend Stimmen von „Fans“ auf einer Seite, die den Hochstapler unterstützen soll – schlicht gekauft. Stimmen lassen sich kaufen. Es ist wie in einer finstren Diktatur irgendwann im vorigen (?) Jahrhundert hinter irgendeinem Busch in Timbuktu.
Die „moralische Rechtfertigung“ eines Hochstaplers versucht mancher durch die Beobachtung zu gewährleisten, daß „über 900“ Menschen bei einer Versammlung in Süddeutschland dem Hochstapler „zugejubelt“ hätten.
Umfragen haben – gerade vor Wahlen – immer eine besondere Aufmerksamkeit. Denn: Mehrheiten scheinen ein Garant dafür zu sein, daß man „richtig liegt“.
Wer die Mehrheit hat, hat Recht.
So scheint es.
Denn: Mehrheiten lassen sich organisieren und sie lassen sich manipulieren.
Es gibt zahlreiche Beispiele aus der jüngeren deutschen und internationalen Geschichte, die diesen Satz belegen.
Nun wissen wir seit gestern, daß in Deutschland Macht vor Moral geht.
Ein Hochstapler wird im Amt gelassen, weil er aus machttaktischen Gründen wichtig ist. Er habe die „Unterstützung großer Teile der Bevölkerung“.
Wir wissen auch seit gestern, daß sich der Hochstapler für die Unterstützung einer einflussreichen Zeitung mit der Schaltung einer teuren Anzeigenkampagne revanchiert.
Die Manipulation von Mehrheiten hat ausgereicht. Die Sache hat funktioniert.
So scheint es.
Und es steht zu befürchten, daß dieses Beispiel Schule macht.
Denn in einer Medien-Demokratie wie unserer reagieren die Menschen besonders schnell auf wechselnde Mehrheiten.
Der „main-stream“ ist entscheidend. Und die Bereitschaft, sich dem „main-stream“ anzupassen, ist enorm ausgebildet.
Wer im „main-stream“ mitschwimmt, ist nicht in der Gefahr, als „Außenseiter“ abgestempelt zu werden. Der „main-stream“ gibt Sicherheit.
So scheint es.
Denn es hat sich in der Vergangenheit gezeigt: die wirklich wichtigen Menschen für den Erhalt von Moral, Anstand, Aufrichtigkeit – und schließlich auch für politische Courage und Mut waren die wenigen.
Das war nicht nur so während der Zeit des Nationalsozialismus, als eine „breite Mehrheit in der Bevölkerung“ für den Hochstapler Hitler gestimmt hat, das war in der zweiten Diktatur so, als nur wenige anlässlich des 40. Geburtstags der größten DDR der Welt mit einem Rosa-Luxemburg-Zitat den Anfang vom Ende einläuteten.
Das war auch so, als Castellio gegen Calvin ins Feld zog: das Gewissen des Einzelnen gegen die Gewalt einer scheinbaren Mehrheit. Stefan Zweig hat großartig von diesem Konflikt geschrieben.
Das Schielen nach Mehrheiten gehört zur Demokratie.
Aber: es ist auch gefährlich.
Wie man aktuell sehen kann.
Denn wenn die Sicherung von Mehrheiten zum alleinigen Maßstab für politisches Handeln wird, dann sind der Verrottung von Anstand und Sitte Tor und Tür geöffnet.
Die causa Guttenberg ist nur ein weiterer Beleg für diesen Satz.
Was ist notwendig?
Bildung.
Nicht verstanden als Wissens-Vermittlung, sondern als Heranbildung einer selbständig denkenden, kritischen, selbst-bewußten Persönlichkeit, die in der Lage ist, die eigene Meinung aufrecht und gerade zu vertreten und die auch bereit ist, für die eigene Überzeugung Nachteile in Kauf zu nehmen.
Das kann die Schule nicht. Jedenfalls nicht die normale, auf „Leistung“ getrimmte Kaderschmiede unserer Tage.
Es scheint, als seien auch nur noch wenige Eltern in der Lage, ihre Kinder in einem solchen Sinne zu bilden.
Ich teile die Sorgen vieler Menschen, die sich in diesen Tagen äußern.
Die Angst um sozialen Abstieg, die mangelnde Fähigkeit, zu eigenen Überzeugungen wirklich zu stehen und dafür Verantwortung zu übernehmen, die zunehmende Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher und politischer Prozesse – all das verstärkt die Sehnsucht der Menschen, sich in Mehrheiten aufgehoben zu fühlen.
Die Bereitschaft solch verunsicherter Menschen, sich anzupassen, nimmt weiter zu.
„Führer befiehl – wir folgen“. Wir kennen diesen Satz aus nicht allzu weit entfernter Vergangenheit.
Wir wissen aus der zweiten Diktatur, wie groß die Bereitschaft war, den neuen Verführern zu folgen.
Und wir sehen nun, wie groß die Bereitschaft vieler ist, sogar erwiesenen Hochstaplern weiter zu folgen.
Die politischen Heiratsschwindler und Hochstapler unserer Zeit wissen genau, wie man damit umgeht.
Sie hegen und pflegen diese Bereitschaft zur Unterwürfigkeit.
Gegebenenfalls revanchieren sie sich bei großen Zeitungen, die ihnen bei der „Sicherung von Mehrheiten“ behilflich sind, durch das Schalten von Anzeigen. Gegen cash versteht sich.
Die Hochstapler versuchen, sich die Republik zu kaufen.
Je länger ich politisch aktiv bin und mich in die Belange unserer Gesellschaft einmische, je unheimlicher wird mir dieser Versuch der politischen Heiratsschwindler und Hochstapler, die Demokratie durch „strategische Partnerschaften“ mit führenden Massenmedien zu untergraben.
Ich hoffe auf die kritischen Geister, die sich nicht nur mit irgendwelchen Spielchen in den Netzwerken tummeln, sondern die verstehen, daß sie mit social media ein politisches Werkzeug zur Verfügung haben, das mit helfen kann, den Totengräbern der Demokratie das Handwerk zu legen.
Stimme vollkommen zu.
Der Spruch verfolgt mich auch schon seit min. 30 Jahren – ich kenne ihn aus der Politik ebenso, aber v.a. aus dem Marketing. Hier wird sehr häufig auch darauf verwiesen, dass ein Unternehmen den allergrößten Marktanteil hat. Millionen Verbraucher können nicht irren …
Beispiele wie IBM, Microsoft und Nokia fallen einem ein. Wenn man sehr genau auf die Firmen und Produkte zoomte, stellte es sich meist heraus, dass gerade die „Marktführer“ eher nicht die besten Produkte bauten sondern das meist nur das geschickteste, verlockendste oder einfach nur das teuerste Marketing einsetzten.
Aktuell sind wohl Google und Apple Kandidaten …