Nationale Regierungen und Parlamente verlieren zunehmend an politischem Gewicht. Die Bedeutung des Europäischen Parlaments und der Kommission dagegen wächst. Das ist ein schon länger zu beobachtender Trend innerhalb des europäischen Einigungsprozesses.
Deshalb ist es sinnvoll, nicht nur nationale Politiken im Blick zu haben (Regierungsbildungen beispielsweise), sondern aufmerksam zu verfolgen, was sich in den großen europäischen Programmen tut.
77 Milliarden Euro gibt Europa für sein neues Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ aus.
1,6 Milliarden kommen für EURATOM hinzu.
Die Forschungsrahmenprogramme sind deshalb von großer Bedeutung, weil über sie künftige industrielle Entwicklungen angestoßen werden können. Wer sich also in etwa ein Bild machen will, wie die industriellen Themen und Strukturen der kommenden Jahrzehnte aussehen werden, tut gut daran, sich die Forschungsrahmenprogramme anzuschauen.
Wer sich die Programmstruktur von „Horizont 2020“ anschaut, wird erkennen, wie sich neue Themen (demografischer Wandel zum Beispiel) neben sehr alten Themen (Atomforschung) finden.
Auf zwei besonders sensible Themenbereiche will ich aufmerksam machen: Energieforschung und Sicherheitsforschung.
Es zeigt sich, dass die Energieforschung nach wie vor von der Atomforschung dominiert ist (insbesondere greift die Fusionsforschung den Löwenanteil, denn sie profitiert über die in EURATOM bereitgestellten Mittel zusätzlich von den Mitteln beispielsweise der Materialforschung). Die energiepolitische Perspektive der Fusionsforschung ist jedoch seit Jahren hoch umstritten, weil sie 1. bislang keine wirklich brauchbaren Ergebnisse geliefert hat (2 Sekunden Brenndauer des Plasmas im britischen Experiment JET) und weil sie 2. ihr Versprechen, ein Kraftwerk zu liefern, nicht einlösen konnte (nach über 50 Jahren Forschung). Sollte jemals ein solches Kraftwerk (ITER ist ja auch nur ein Experiment!) zur Verfügung stehen, wäre es so exorbitant teuer, dass es für die Megacities dieser Erde schlicht unbezahlbar sein wird, denn die größten Städte stehen in den eher ärmeren Ländern.
Der zweite sensible Bereich ist die „Sicherheitsforschung“, weil bislang immer sorgsam darauf geachtet wurde, dass die Forschungsprogramme genügend unscharf formuliert wurden. Es ist nicht wirklich trennscharf erkennbar, was davon in die militärische Forschung gehen soll, wie viele Mittel den Sicherheitsdiensten zugute kommen und wie man „Sicherheit“ präzise definiert. Die Sicherheitsforschung dient auch der „Terrorabwehr“, wird also beispielsweise genutzt, um neue Programme, die eben diesem Ziel „dienen“ sollen, zu entwickeln.
Mit anderen Worten: der europäische Steuerzahler zahlt über Horizont 2020 auch (mindestens in Anteilen) die Erforschung eben jener Systeme, die später gegen ihn eingesetzt werden.
Das gilt solange, wie nicht wirklich glasklar und trennscharf zwischen militärisch/innenpolitisch (Geheimdienste) und zivil unterschieden wird.
Die dual use Problematik wird von der Forschung bislang mit dem Hinweis vom Tisch gewischt, Forschung müsse prinzipiell ergebnisoffen verlaufen. Man könnte eben zu Beginn einer Forschung nicht sagen, ob sich das Ergebnis militärisch oder zivil nutzen lasse.
Allerdings kann das Parlament Rechenschaft darüber verlangen, in welche Bereiche dieses Themas die Gelder vor allem fließen und wer davon hauptsächlich profitiert.