Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Vom Ende der DDR. Die ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha (4). Die Texte.

Wir haben vom Wort gelebt.
Das geschriebene und gesprochene Wort war unser Werkzeug. Wenn ich mir heute noch einmal vergegenwärtige, was die Jahre 1987/88 bestimmt hat: es war das geschriebene und gesprochene Wort. Die Nachrichten vom Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek, die Verhaftungen nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration etc. – so etwas kriegten wir natürlich „über das Westfernsehen“ mit, auch „über das Radio“ – und über Berichte von Menschen, die „dabei“ waren oder jemanden kannten, der „dabei“ war.
Viele andere Ereignisse aber, die Basisgruppentreffen, die „Werkstätten“ der Offenen Arbeit, die „Rüstzeiten“ in kirchlichen Heimen und auch die „Jugendversammlung“ wurden staatlicherseits verschwiegen. Nichts war in Radio, Zeitung oder gar Fernsehen davon zu erfahren. Es gab keine Handys, keine schnell aufgenommenen Handy-Videos, keine Chats. Nur wer „dabei“ war, war dabei und konnte erzählen. Es gab wohl auch innerkirchliche Berichte – aber eine offizielle Berichterstattung über unsere Arbeit gab es nicht. Allerdings gab es das geschriebene Wort – vervielfältigt auf einfachen Ormig-Abzügen, mit der Schreibmaschine abgetippt (Ich selbst hab die komplette „Alternative“ von Rudolf Bahro mit der Schreibmaschine mit 10 Durchschlägen abgeschrieben, damit wir sie weitergeben konnten).
Bei den Veranstaltungen selbst stand das geschriebene und gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die Menschen hörten aufmerksam zu. Es kam „auf die genaue Formulierung“ an, denn vieles verstand man nur „zwischen den Zeilen“, weil es offen nicht ausgesprochen werden konnte. Natürlich war – insbesondere bei Jugendveranstaltungen – auch Musik wichtig, vor allem das gesungene Wort („Vertraut den neuen Wegen“ wurde der Wende-Choral) aber „die Papiere“ von den Synoden, Werkstätten, Rüstzeiten und Versammlungen waren auf eigene Weise wichtig, denn sie konnten abgetippt, vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergegeben werden. Wer einen Vervielfältigungsapparat (ORMIG) besaß, war in den Augen der Stasi „im Besitz von Vervielfältigungstechnik“. Sogar Tausendfachstempel zählten schon dazu. Auch beim gesungenen Wort hörte man sehr aufmerksam zu. Liedtexte wurden abgeschrieben, sie gingen von Hand zu Hand. Manch einer fotografierte sie und stellte dann Fotopostkarten davon her, um sie weitergeben zu können.

Texte hatten eine besondere Bedeutung in jenen Jahren. Sorgfalt in der Sprache war tägliche Notwendigkeit.
Wenn man sich das Programm der Jugendversammlung anschaut, sieht man die Bedeutung des gesungenen, geschriebenen und gehörten Wortes sofort:


Bei der Jugendversammlung in Gotha war ich verantwortlich für den Freitagabend.
Wir hatten uns eine „Motette für drei Sprecher zu einer Pantomime“ überlegt. Das Thema: „Umkehr führt weiter“. Im Folgenden nun will ich das dabei entstandene Drehbuch im blog abbilden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, wie wir mit Texten arbeiteten. Vier solcher Drehbücher für den Abend sind erhalten und befinden sich noch in meinem Archiv. Jeder der Sprecherinnen und Sprecher, die Beleuchter, die Musiker, die Helferinnen und Helfer im Hintergrund hatten ein solches Drehbuch. Es war einstudiert wie ein Bühnenstück, das es ja auch war.
Wir stellen uns den Abend vor: etwa 300 Jugendliche sitzen im Mai 1988 (über die Aufregungen jener Tage hatte ich in Teil 3 geschrieben) in einer weitgehend abgedunkelten Kirche und sehen diese „Motette für drei Sprecher, Querflöte und Pantomime“. Ich bin Frank Warkus und Andreas Kosmalla für die enge Zusammenarbeit heute noch dankbar, was damals entstanden ist, war vorzeigbar:

Die Wirkung dieses „Impulses“ war stark. Minutenlange Stille, tiefes Schweigen. Es gab Tränen, die jungen Leute waren „angefaßt“, wie man das manchmal sagt. Wir haben das Echo dieses Abends noch lange wahrnehmen können. Die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der gewaltig gestiegenen Zahl der Ausreisewilligen; die Frage „Sind wir noch brauchbar?“ angesichts der Umweltthemen, der zunehmenden Übergriffe durch Polizei und Staatssicherheit, diese Frage wurden den jungen Leuten drängend. Die nachfolgenden Gespräche in den Kleingruppen (wir arbeiteten mit 40 Untergruppen!) zeigten es.
„Wir bleiben hier!“ war eine vielgehörte Antwort auf die Frage: „Gehst Du auch weg?“ Der leichtere Weg wäre es gewesen, wir versuchten, unseren Beitrag zu leisten, damit das Land selbst auf einen neuen Pfad kam, da konnte man nicht einfach „weglaufen“, sondern hatte sich den täglichen Mühen zu stellen. All das schwang mit an jenem Abend. Wir haben später erfahren, dass einige junge Leute nach der Jugendversammlung ihre Ausreiseanträge zurückgezogen hatten. Sie hatten verstanden, dass man nichts verändert, wenn man flieht. Die jungen Leute wurden „hier“, im eigenen Land, gebraucht. Sonst wäre die Mauer niemals gefallen.
Aber sie ist gefallen, weil es genügend Menschen gab, die ausharrten, sich verknüpften, unterhakten und gemeinsam für Veränderungen im Lande arbeiteten.

Es hat zahlreiche Reaktionen auf die Jugendversammlung gegeben. Allerdings: Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten nichts. Wir wurden verschwiegen.
Die Staatssicherheit wertete die Sache aus und unter den kirchlichen Mitarbeitern, aber vor allem auch unter den vielen Jugendlichen selbst wirkte die Versammlung noch lange nach. Noch im Jahre 2021 schrieb mir jemand auf facebook, es sei seine „wichtigste Veranstaltung in jener Zeit“ gewesen und ihn noch heute in starker Erinnerung.

Mein Kollege Aribert Rothe in Erfurt hat früh schon in der Kirchenzeitung über die Jugendversammlung geschrieben, später dann hat er einen Text für die „Gerbergasse“ geschrieben, der hier verlinkt sein soll. Mein Kollege Christhard Wagner, der damals sehr engagiert bei der Vorbereitung und Durchführung der Versammlung beteiligt war, hat eigene Erinnerungen an jene Tage, die er vielleicht noch publizieren wird.
Mir selbst war wichtig, mit der hier vorgelegten Dokumentation über die Jugendversammlung 1988 etwa 30 Jahre später einen Baustein beizutragen, damit ein genaueres Mosaik-Bild über die späte DDR jener Jahre gezeigt werden kann und wir wegkommen von falschen Klischees, die von Leuten verbreitet werden, die nicht dabei waren.

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (2). Das Umfeld im Jahre 1987

Vom Ende der DDR. Die Ökumenische Jugendversammlung vom 12. – 15. Mai 1988 in Gotha. (2). Das Umfeld im Jahre 1987

Als die großen Demonstrationen in Leipzig, Berlin und zahlreichen anderen Städten im Jahre 1988/89 begannen, war das Ende der DDR im Grunde besiegelt. Denn schon lange vorher hatten zahlreiche kirchliche Großveranstaltungen, Gruppeninitiativen, Papiere über all im Lande den Boden für die Veränderungen bereitet. Die Ökumenische Jugendversammlung im Mai 1988 in Gotha gehört ganz sicher mit in diese Reihe.
Wir hatten in Teil 1 gesehen, dass die Vorbereitungen für die Versammlung schon früh im Jahre 1987, also mehr als ein Jahr zuvor, begonnen hatten. Bis auf wenige hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter wurden die Vorbereitungen von vielen Ehrenamtlichen geleistet. Diese Ehrenamtlichen kannten sich zum großen Teil aus unterschiedlichen kirchlichen Zusammenhängen und Treffen. Der „Kirchentag von unten“ vom 24. – 28. Juni 1987 beispielsweise war Treffpunkt für die Gruppen der „Offenen Arbeit“ der evangelischen Jugendarbeit. Am 4. und 5. Juli 1987 fand in Erfurt eine „Werkstatt“ der Offenen Arbeit statt – wieder eine Gelegenheit, sich zu treffen, Informationen auszutauschen, sich zu verknüpfen.
Am 26. September 1987 fand in Weimar ein sogenanntes „Basisgruppentreffen“ statt, an dem viele Vertreterinnen der „Offenen Arbeit“ aus Berlin, Erfurt, Eisenach, Jena und anderen Orten angereist waren. Die jungen Leute trafen sich, berichteten von den neusten Entwicklungen in Berlin und anderen Städten; man hörte von Verhaftungen; man hörte von Problemen Jugendlicher mit dem Staat; man hörte davon, wie kirchliche Mitarbeiter sich verhielten – der enge persönliche Austausch war Kennzeichen dieser Treffen, denn die wenigsten verfügten über ein eigenes Telefon. Eine Kommunikation, wie sie heute normal ist (Handy, Laptop, mail, social media) war damals unvorstellbar. Man musste sich schon in den Zug setzen oder von jemandem im Auto mitgenommen werden zu so einem Treffen, damit man sich informieren und austauschen konnte. Die Bedingungen waren nicht einfach.
Wieder ein anderer Arbeitszusammenhang der evangelischen Jugendarbeit, in die ich direkt eingebunden war, war die „Beratung von Wehrpflichtigen„. Zwar gab es offiziell zum Dienst an der Waffe keine Alternative in der DDR. Aber man konnte den Dienst an der Waffe verweigern und sich als „Bausoldat“ mustern lassen – oder „total verweigern“. Letzteres war nicht selten mit massiven Repressalien verbunden, die in nicht wenigen Fällen bis zum Gefängnis und zum Ausreiseantrag führten. Die evangelische Jugendarbeit hatte beispielsweise in Jena einen „Arbeitskreis Wehrdienstfragen beim Stadtjugendpfarramt“ eingerichtet, der regelmäßig Vorbereitungs-Seminare anbot. Im Rollenspiel konnten sich die jungen Männer auf die Musterung vorbereiten und ihre Argumente schärfen, die sie brauchten, um die Musterung auch zu bestehen und „zu den Bausoldaten“ gemustert zu werden. Ehemalige Bausoldaten waren die ehrenamtlichen Leiter dieses Arbeitskreises. Stephan Schack und Andreas Kosmalla gehörten zu den besonders Aktiven in Jena, denen ich noch heute für ihr Engagement dankbar bin. Wir sind nach wie vor in Verbindung.
Alle diese Arbeitszusammenhänge der evangelischen Jugendarbeit standen unter Beschuss durch die Staatssicherheit. Besonders die „Offene Arbeit“ und die „Arbeit mit Wehrpflichtigen“ war der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Ich finde deshalb in meiner Stasi-Akte zahlreiche Hinweise auf die Beobachtung gerade dieser Arbeitsfelder. Als wir Pastoren und Diakone uns vom 14. – 17. September 1987 zu einem Pastoralkolleg (Weiterbildung) zum Thema „Seelsorge an Wehrpflichtigen“ in Neudietendorf trafen, wurde das Programm von beflissenen Kollegen schon im Vorfeld an die Stasi gemeldet und unmittelbar hinterher von der Veranstaltung berichtet.

Auch die Vorbereitungen der Jugendversammlung in Gotha waren frühzeitig in Kreisen der Staatssicherheit bekannt. Der erste Beleg davon stammt bereits vom 8. Januar 1987 ! (Man erkennt am Datum: „erhalten Cramer am 8.1.87“, dass der Spitzel direkt von der Konferenz berichtet hat.)

„Runge“ berichtet an die Stasi den bis dahin bekannten Planungsstand:

„Die Firma“, wie wir die Staatssicherheit damals auch nannten, war also von Anfang an im Bilde und bekam nun fortlaufend Berichte über den Fortgang der Vorbereitungen. Wie wir mittlerweile wissen, hatte die Staatsicherheit ihre Leute sehr präzise „platziert“: der Jurist, bei dem alle komplizierten Fälle im Zusammenhang mit Wehrdienstfragen zusammenkamen, Wolfgang Schnur, war Stasi-Mann. Er war regelmäßiger Gast bei Tagungen der evangelischen Jugendarbeit und galt als vertrauenswürdiger „Mann der Kirche“ – bis seine andere Seite bekannt wurde. Es gab im Jenaer Konvent Kollegen, die direkt berichtet haben; es gab auch unter den Jugendlichen den einen oder anderen, den man erpresst hatte, für die „Firma“ zu berichten; es gab bis hinauf in die Kirchenleitung gut informierte Stasileute. In der Kirchenprovinz Sachsen besonders schwerwiegend der Präsident des Konsistoriums, Detlef Hammer.
Dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit „unter Beobachtung“ standen, dass man unsere Post kontrollierte, das Telefon abhörte, unseren Besuch – insbesondere den aus den westdeutschen Partnergemeinden – überwachte; dass man in unseren Veranstaltungen saß und mitschrieb, – all das ahnten wir, manche wussten es auch, wir gingen jedenfalls davon aus. Wir wussten allerdings nicht, wer berichtete. All das kam erst nach dem Fall der Mauer ans Tageslicht, als die Akten zugänglich wurden.
Wir haben uns nicht beirren lassen. Dass Großveranstaltungen wie die Jugendversammlung in Gotha vom Mai 1988 dennoch so stattfinden konnten, wie sie dann stattfanden – obwohl Staatssicherheit und „Abteilung Inneres“ bei den Räten der Städte und der Bezirke von Anfang an bestens im Bilde waren und uns auch Schwierigkeiten machten – dass unsere Großveranstaltungen dennoch stattfinden konnten, das wundert mich heute immer noch. Und ich bin dankbar dafür.
Man hat sich später innerhalb der Landeskirchen mit der Problematik „Stasi in der Kirche“ auseinandergesetzt. Die Landeskirchen haben das auf verschiedene Weise getan und auch die Berichte über diese Arbeit fallen verschieden aus. Sie sollen an dieser Stelle auch nicht behandelt werden, das wäre ein großes eigenes Kapitel.

Wir werden in Teil 3 unserer Dokumentation zur Jugendversammlung in Gotha sehen, wie sehr sich die Dinge im Jahre 1988 verschärften, nachdem bei der jährlich stattfinden Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar eines jeden Jahres in diesem besonderen Jahr Bürgerrechtler unter den Demonstranten auftauchten, die sogar noch selbst gemalte Transparente mitgebracht hatten: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg) stand auf einem dieser Plakate geschrieben. Mehr dazu und wie sich diese Demonstration und ihre Folgen auf die Jugendversammlung in Gotha auswirkte, in Teil 3.

Leben in zwei Systemen. Ein Versuch. I


Eine Freundin hat mich ermutigt, mit diesem Experiment zu beginnen. „Du hast dreißig Jahre in der Diktatur gelebt, bist von ihr geprägt worden. Du hast lange vor dem Fall der Mauer und besonders in den Jahren der Wende für die Demokratie gekämpft, warst danach in politischen Spitzenämtern engagiert, kennst den Westen nun auch dreißig Jahre – so einen Einblick haben wenige. Schreibe darüber!“ hat sie gemeint.
Ich war unsicher, ob das sinnvoll sein könnte.
Es gibt ein paar Millionen Menschen, die auch in beiden System gelebt haben. In der Diktatur und seit 1990 im wieder größer gewordenen Deutschland. Was also könnte ich beisteuern, was nicht auch andere erzählen können?
Ok, nicht jeder hat den Westen so erfahren wie ich, der als Ostler bis so ziemlich ganz nach „oben“ kam, politisch gesehen. So sehr viele waren und sind das ja nicht. Und, bezogen auf den Osten – auch da gehörte ich zur einer verschwindend geringen Minderheit. Insofern könnte es schon ein unterscheidbarer Beitrag werden.

Vielleicht kann aber ein solches Experiment zusätzlich auch eine Einladung an andere sein, die jeweils „eigene Geschichte“ zu erzählen. Und das wäre viel.

Zunächst ein Doppeltes:
In der Diktatur (schon die Wortwahl zeigt dem Leser, aus welcher „Ecke“ ich komme) gehörte ich nicht zu den Privilegierten und gehörte doch zu ihnen.
Zu den politisch Privilegierten gehörte ich ganz sicher nicht. Ich war, wie meine beiden Brüder, nie Mitglied bei den Pionieren, war nicht in der FDJ, war nicht bei der Armee, hab mich nie an Wahlen beteiligt, die ja keine waren. Das hatte Konsequenzen, wir durften ein staatliche Abitur machen, durften nicht studieren, was wir wollten, obwohl wir zu den Klassenbesten gehörten.
Wir gehörten nicht „zum System“. Wir waren „Kirchenleute“, stammten aus einem Pfarrhaushalt in dem ein klares „Die da draußen“ und „wir hier drinnen“ galt. „Die da draußen“ – das war „der Staat“, vor allem der atheistische Staat, der die Kirche bekämpfte mit allen Möglichkeiten, die er hatte.
Meine Eltern waren ganz bewusst nicht „in den Westen gegangen“, als das noch einfach möglich war, vor dem Bau der Mauer 1961 also. Nein, sie blieben „im roten Osten“, weil sie hier ihre Lebensaufgabe sahen: Christ sein in unchristlichem Umfeld.
Das hat mich natürlich geprägt.
Ich war während der Diktatur, wie meine Brüder, politisch extremer Außenseiter, ich galt als „bürgerlich“, später, so sagt es die Stasi-Akte, galt ich gar als „Staatsfeind“, aber dazu kommen wir noch.
Ich gehörte nicht zu den Privilegierten und war doch sehr privilegiert: wir lernten nämlich von klein auf, was wirkliche Freiheit bedeutet. Eine Freiheit nämlich, die es auch hinter Mauern geben kann und die sehr viel mehr ist als Wahl- oder Reisefreiheit oder die Freiheit, zu kaufen, was das Portmonee erlaubt.
Es ist die Freiheit zum eigenen Weg, zum eigenen Denken und zur eigenen Überzeugung auch zu stehen. Davon wird zu reden sein.

Jetzt, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, nach dem politischen und wirtschaftlichen Tornado, der über das Land fegte, jetzt frage ich mich manchmal: was ist eigentlich aus denen geworden, die damals politisch Privilegierte waren? Es waren ja nicht alles „Scharfmacher“, die meisten waren Mitläufer.
Nicht wenige von ihnen haben mittlerweile eine ganz ordentliche Rente – nicht wenige Stasiopfer beispielsweise bekommen dagegen extrem wenig. Da ist es also ungerecht zugegangen. Ich komme darauf später in einem anderen Beitrag zurück.
Dann gibt es welche, die schwammen damals „oben“ und schwimmen wieder „oben“. Opportunisten. Die gehen immer nach den Mehrheiten, suchen den eigenen Vorteil und fertig ist die Weltanschauung. Die gibt’s überall, in Ost wie West.
Nicht wenige der „Bürgerrechtler“, wie man uns später bezeichnete haben sich mittlerweile enttäuscht zurückgezogen, äußern sich kaum noch öffentlich, stecken nicht selten in Erinnerungen fest. Auch davon wird zu erzählen sein.
Mir ging es anders.
Davon will ich nach und nach erzählen. Anhand von konkreten Themen und Erlebnissen. So mancher Vergleich wird dabei zu Tage treten, denn es ist ja mehr als verstehbar, dass einer wie ich, der beide Systeme gründlich kennt, auch vergleicht, sich erinnert, Schlüsse zieht, Einordnungen versucht. Es wird dabei konsequent persönlich zugehen. Denn ich kann nicht für andere sprechen. Bei einem solchen „Experiment“ schon gar nicht.

Also, ich glaube, ich nehme die Anregung der Freundin auf, will mich einlassen auf dieses Experiment, obwohl ich nicht weiß, wo es mich hinführen wird.
Wenn es gut geht, entsteht ein Gespräch.
Nicht nur eines unter denen, die auch in der Diktatur gelebt haben, sondern auch eines mit denen, die nicht wissen, was eine Diktatur ist.
Vielleicht entsteht so nach und nach ein Beitrag zum besseren wechselseitigen Verständnis. Vielleicht entsteht auf diese Weise eine Art Brücke, über die man gehen kann.  Meine Freundin, die viel gesehen hat von der Welt, sagt: es mangelt an solchen Brücken.
Vielleicht hat sie ja Recht.  Dann lasst uns also Brücken bauen und beginnen.
Die Texte werden nach und nach entstehen, ich habe im Moment noch gar keine klaren Vorstellungen, wie sich das ungeheuer viele Erinnerungsmaterial einigermaßen sortieren läßt. Wer Interesse hat, abonniert die Sache einfach und kann sich entsprechend auf dem Laufenden halten, wenn er mag.
Wenn durch dieses Experiment Begegnungen oder Gespräche möglich werden, dann ist es gut.

Charmeur, Politiker, Spitzel – das seltsame Leben des Manfred „Ibrahim“ Böhme


Die Robert-Havemann-Gesellschaft /Archiv der DDR-Opposition, hatte mich als Zeitzeugen eingeladen zum Gespräch mit der Autorin Christiane Baumann über ihr Buch.
Sie hat das Leben eines der schillerndsten Politiker der Wendejahre nachgezeichnet. Manfred „Ibrahim“ Böhme.
Ich kannte ihn seit den achtziger Jahren bis zu seinem Tode.
Fast wäre er der erste frei gewählte Ministerpräsident in Ostdeutschland geworden.
Doch er flog vorher auf…..

Es war gestern eine gut besuchte Veranstaltung in der Magdeburger Stadtbibliothek.

Ich fand immer: Manfred war ein Charmeur.
Nicht nur Frauen fielen auf ihn herein.
Er war ausgesprochen redegewandt, wirkte klug, hatte die Fähigkeit, andere so gefangen zu nehmen, daß sie ihm sogar erfundene Zitate glaubten.
Manfred galt als gebildet.
Aber: er war vielleicht so etwas wie ein politischer „Heiratsschwindler“.

Wir wussten nicht, daß er seit 1969 Spitzel der Staatssicherheit war.

Christiane Baumann hat in ihrem sehr lesenswerten Buch versucht, das Leben dieses seltsamen Mannes nachzuzeichnen. Sie hat Quellen studiert, ausgewertet, hat Interviews geführt mit Menschen, die ihn genauer kannten. So sind wir uns auch begegnet und saßen nun zusammen im Podium in der Magdeburger Stadtbibliothek.

Wenn „die Opposition“ der DDR als „etwas hemdsärmelig“ galt, der Jeans und grünen Kutten wegen, man trug gern Pullover und eher einfache Kleidung – Manfred, den wir „Ibrahim“ nannten, war anders.
Er trug Krawatte.

Als die Ost-SDP im Pfarrhaus in Schwante gegründet war, wurde Manfred Böhme bald zum Spitzenkandidaten, abgesegnet auf einem Parteitag der SDP in Leipzig.
Und bekam schnell Kontakt zu Willy Brandt, Egon Bahr und anderen Politgrößen der westlichen Sozialdemokratie.
Er wurde, was man einen „Medienstar“ nennt. Journalisten prügelten sich um ihn. Ich erinne mich noch, wie einst einer seiner Anzüge drauf ging, als das Gedränge besonders groß war…..

Eigentlich hatte er nur eine Ausbildung.
Die eines Bibliothekars.
Aber in der Wendezeit hieß es, er würde „an seiner Promotion arbeiten“.
Legendenbildung.
Gezielt unter die Leute gebracht vielleicht.
Diese Legenden, die er um sich strickte wurden ihm zur zweiten Haut.
Es war immer etwas Seltsames um den Mann: immer von Menschen umgeben, aber dennoch im Grunde allein.
Ich wußte wenig Privates von ihm.

Ich kannte Manfred Böhme, seit er bei einem Freund im Pfarrhaus in der Nähe von Jena hin und wieder „Unterschlupf“ fand.
Es hieß, er habe wieder „Ärger mit der Staatssicherheit“ gehabt. Eines Tages reiste er gar mit einem blauen Auge an…..
Und doch diskutierten wir lange Nächte über Marx, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz -ähnlich wie ihn die Tschechen versuchten – und tranken Wodka.

Manfred hat mich später gefragt, ob ich nicht Jugendsenator in Berlin werden wolle, schließlich verstünde ich doch „etwas von Jugendarbeit“.
Ich habe abgelehnt und bin besser in die politische Erwachsenenbildung gegangen, als es galt, für eine Demokratie, die nur erst auf dem Papier stand, Demokraten auszubilden.
Andere waren nicht so zögerlich und griffen zu….

Nun, zwanzig Jahre nach den Wendejahren, zwanzig Jahre, nachdem der Tornado über das Land zog, war wieder Gelegenheit, sich zu erinnern.
An die Hoffnungen und Enttäuschungen; an das, was wir wollten und das, was gekommen war.
Manfred „Ibrahim“ Böhme gehört zu diesen Jahren.

Ich empfehle das Buch von Christiane Baumann sehr.
Besonders Landsleuten, die in den westlichen Bundesländern groß geworden sind.

Man kann an dieser überaus merkwürdigen Biografie eines „politischen Hochstaplers“ oder „politischen Heiratsschwindlers“ eine Menge über die DDR erfahren.
Allgemeingültiges aber eben auch sehr Besonderes. Denn dieser Manfred Böhme, den wir „Ibrahim“ nannten, war ein typischer Spitzel, aber er war eben auch sehr anders.
Das wird im Buch von Christiane Baumann sehr deutlich.
Mich freut, daß das Buch bislang gute Resonanz gefunden hat.
Ich wünsche ihr und dem Buch, daß es noch viele aufmerksame Leser und Zuhörer findet.

Das Fanal – Erinnern an die Selbstverbrennung des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976


Am 18. August 1976 verbrannte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Rippicha öffentlich in der Innenstadt der DDR-Kreisstadt Zeitz.
Er hatte zwei selbstgemalte große Plakate aufgestellt:
„Funkspruch an alle….Funkspruch an alle….
Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“

Ich war zu seiner Beerdigung. Sie fand am 26. August 1976 nachmittags um 14.00 statt. Wir waren zu viert im Auto von Naumburg nach Rippicha gefahren.
Zusammen mit Rainer Bohley, unserem Rektor am Proseminar, einer kleinen kirchlichen Schule, in der man Abitur machen konnte.
Die Linie führt von Brüsewitz‘ Selbstverbrennung über die Ausweisung von Wolf Biermann zu den bei der Rosa-Luxemburg-Demonstration 1988 zu Unrecht Inhaftierten über die Friedensgebete, aus denen die „Montagsdemonstrationen“ wurden direkt bis zum „Fall der Mauer“ 1989.

Nun, im Januar 2010, halte ich „Das Fanal“ in den Händen.
Die Geschichte von Schuld und Verstrickung.
Eine Geschichte von Staatssicherheit, Kirche, SED und Spitzeltum; eine Geschichte von Gerüchten und Verdächtigungen, von Angst und Mut.
Ein Buch, das versucht, die genauen Vorgänge zu rekonstruieren. Es ist schon 1999 erschienen, doch heute erreicht es mich erst.
Alte Bilder werden lebendig.
Die vielen vielen Menschen. Die „schwarze Reihe“ der Männer und Frauen in Talar.
Die Staatssicherheit.
Die Fernsehkameras der ARD.
Die anschließende „Ausweisung“ des ARD-Korrespondenten Lothar Loewe, man entzog ihm die Akkreditierung.
Die folgenden heißen Diskussionen, nächtlichen Gespräche im Freundes- und Bekanntenkreis über den Tod des Pfarrers.
In meinem Tagebuch von 1976 lese ich von den „regelrechten Hetzkampagnen der SED-Zeitung ‚Neues Deutschland‘ gegen Brüsewitz“.
Die „Schaukästen“ meines Vaters, in denen er als Pfarrer, der das offene Wort pflegte, gegen das „Neue Deutschland“ wetterte unter der Überschrift: „Halbe Wahrheiten sind ganze Lügen“.
Das „ND“ hatte versucht, Pfarrer Brüsewitz als „geisteskrank“ und „anormal“ darzustellen.

Mir begegnen sehr viele vertraute Namen in dem Buch.
Bischof Krusche, Propst Bäumer, OKR Stolpe, OKR Schultze, OKR Detlev Hammer…
Menschen, die ich persönlich kenne oder kannte. Einige sind schon gestorben.
Ich tauche ein in ein Stück eigener Geschichte, hole Bilder wieder in die Gegenwart, die schon so lange versunken schienen.

Vielleicht ist es ja nicht zufällig, dass mir das Buch in diesen Tagen begegnet, in denen eine erneute öffentliche Debatte um den „Kommunismus“ aufgeflammt ist.
Brüsewitz hat seinen Tod als Zeugnis „gegen den Kommunismus“ verstanden. So jedenfalls hat er es vor seinem Tod dem behandelnden Arzt in Halle gesagt.

Das Buch ist gut geschrieben. Bis Redaktionsschluss zugängliche Dokumente sind sorgfältig ausgewertet, einige Dokumente sind nachträglich vielleicht noch zugänglich geworden, das schadet dem Ganzen aber nicht.
Es gewährt auch den Jüngeren Einblick in eine Gesellschaft, die nach dem Willen der SED, der Blockparteien (maßgeblich in dem Zusammenhang die CDU) und der Staatssicherheit geformt werden sollte.
Es gewährt Einblick in ein kompliziertes Beziehungs- und Begründungsgeflecht, das das stets angespannte Verhältnis zwischen Kirche und Staat betrifft.
Es ist insofern ein Lehr-Buch. Ein Lehr-Buch über die Zweite deutsche Diktatur.

„Das Fanal“ ist ein bemerkenswertes Buch. Denn es versucht, in ein kompliziertes Geflecht von individueller Biografie, schuldhaftem Verhalten von Kirche und SED-Staat ein wenig mehr Licht zu bringen, damit das Verständnis wachsen kann für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Zweiten Deutschen Diktatur.
Dieses Leben in der Diktatur war hoch komplex und oft auch kompliziert; die Charaktere der im „Fall Brüsewitz“ Handelnden waren sehr verschieden.
Es gab Angepasste und Ängstliche, aber es gab auch klare und mutige Menschen. Es gab Taktiker und Denunzianten, aber es gab auch Freunde und Gefährten.

Oskar Brüsewitz war kein einfacher Mensch.
Er war gradeaus. Unkonventionell.
Er war ein wichtiger Mensch. Und ein mutiger Mensch zudem.
Seine persönliche, direkte und konsequente Verkündigung als Pfarrer in der Zweiten deutschen Diktatur hat mit dem „unterirdischen Beben“, das sie auslöste, einen großen Beitrag geleistet zum Fall der Mauer.

Lohnenswerte Lektüre:
Helmut Müller-Enbergs; Wolfgang Stock, Marco Wiesner.
Das Fanal.
Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz aus Rippicha und die evangelische Kirche.
Aschendorff-Verlag 1999
ISBN 3-402-05263-6.

Uwe-Carsten Heye – hier ist Widerspruch nötig! Anmerkung zu einem Artikel im „vorwärts“.


Uwe-Carsten Heye schreibt im „Vorwärts“ u.a. über 20 Jahre DDR über das DDR-Bildungssystem:

„Bildungsfähigkeit – unabhängig von der Herkunft
Nur die „Stasi“ wird ewig leben, als Chiffre längst nicht nur für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit. Wie ein großes schwarzes Loch schluckt sie dabei alles, was sich auch positiv mit der DDR verbinden ließe und zieht wie in einem gigantischen Mahlstrom alles herunter, was das Arbeiter- und Bauernparadies auch sein wollte: der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden. Und dazu gehörte unter anderem ein Bildungssystem, das jedem Schüler, jeder Schülerin selbstverständlich Bildungsfähigkeit zuerkannte – unabhängig von der Herkunft.“

Ich muß ihm durchaus sehr widersprechen.
Denn dieses Bildungssystem gewährte gerade nicht! unabhängig von der Herkunft „jedem Schüler, jeder Schülerin selbstverständlich Bildungsfähigkeit“.

Das DDR-Bildungssystem war zentraler Bestandteil der Diktatur.
Schon die Grundschüler sollten möglichst alle in die Pioniere, später in die FDJ.
Die Debatten um die Einführung der „vormilitärischen Ausbildung“ beschäftigten sehr viele Synoden. Hunderte von Eltern waren nicht bereit, ihre Kinder in diese Lager zu schicken. Und sie bekamen die Konsequenzen zu spüren: ihre Kinder durften kein Abitur machen. Ihnen war damit ein Hochschulstudium verwehrt.
Gerade die Eltern, die sich in christlichen Kirchen und Gemeinden engagagierten, wissen davon viele Strophen zu singen.
Es gibt kaum ein Thema, das in dieser gewaltigen Dimension die Synoden der Kirchen beschäftigt hat.
Immer wieder wurde es zum Thema, denn die Not in der Diktatur gerade in dieser Frage war sehr groß.

Wie kaum ein anderes Feld war das Bildungssystem der DDR gerade nicht vom Geist der Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens geprägt.
Das Ziel des DDR-Bildungssystems bestand ja gerade darin, ordentliche „Staatsbürger“ im Sinne der SED zu erziehen – dies ist nachzulesen in den Dokumenten aller Parteitage der SED, die sich mit der Bildungsfrage beschäftigten.

Es ist eine üble Legende, wenn nun im „Vorwärts“ die These vorgetragen wird, das DDR-Bildungssystem habe es „jedem Schüler und jeder Schülerin unabhängig von der Herkunft“ ermöglicht, sich ausbilden zu lassen.

Ich gehöre zu denen, die trotz exzellenter schulischer Leistungen aus politischen Gründen – mein Vater war Pfarrer und wir drei Brüder waren selbstverständlich weder bei den Pionieren, noch in der FDJ, noch im Armeelager, noch bei der Armee – keine Zulassung zum staatlichen Abitur bekamen. Wir galten als „politisch unzuverlässig“.

Wir hatten zwei Möglichkeiten: wir konnten in den Westen gehen. Das hätte die SED gern gesehen, denn dann wäre sie uns los gewesen. Wir aber wollten bleiben.
Also blieb noch die Möglichkeit, an einer der drei kleinen Schulen in kirchlicher Trägerschaft (Naumburg, Potsdam-Hermannswerder, Moritzburg) ein Abitur zu erwerben (sehr solide mit Griechisch, Latein, Geschichte, Literatur, Kybernetik, Mathematik, Biologie und allem, was zu einem ordentlichen humanistischen Gymnasium gehört).

Dieses Abitur nun allerdings wurde von Margot Honecker nicht anerkannt.

Man konnte mit diesem Abitur Theologie studieren – an einer kirchlichen Hochschule selbstverständlich, oder an der Universität. Dann allerdings mit einer erneuten „Sonderreifeprüfung“.
Oder man konnte in den Westen gehen.

Doch dieser Weg schied für uns aus. Denn wir wollten bleiben.

Ich muss diesem Text von Uwe-Carsten Heye deshalb so vehement widersprechen, weil sich sonst falsche Legenden bilden.
Die Kanzlerin behauptet öffentlich unter Bezug auf ihre FDJ-Mitgliedschaft, es habe „keine andere Möglichkeit gegeben“, als Mitglied in der FDJ zu sein.

Dies ist ein Schlag ins Gesicht all der vielen hunderte von Kindern und Familien, die einen anderen Weg gegangen sind.
Meine  Biografie ist nur eine von vielen hundert.

Es gab diese andere Möglichkeit.

Und sie erforderte einen hohen Preis.
Aber wir waren bereit, diesen Preis zu zahlen.

Wir haben uns nicht angepasst. Wir sind nicht mitmarschiert. Wir waren nicht Mitglied in den Pionieren, nicht in der FDJ, nicht im Armeelager, nicht bei der Armee.
Wir sind grade geblieben.

Trotz DDR-Bildungssystem…..

Vielleicht ist ja dies etwas, das man als „positive Errungenschaft“ des DDR-Bildungssystems nun 21 Jahre nach dem Fall der Mauer erinnern könnte…..

„20 Jahre“ – ein eher persönliches Kapitel zum Gedenktag


Als ich zwanzig wurde, stand Westdeutschland unter dem Schock der Entführung der „Landshut“; Hanns Martin Schleyer wurde ermordet, die RAF bestimmte die Schlagzeilen.
Für mich war der Alltag in der Diktatur Normalität. Die „Landshut“ oder die RAF erreichten mich nur über den SFB oder den RIAS, den Deutschlandfunk natürlich auch, einen Fernseher besaßen wir nicht.
Mein Alltag bestand darin, Griechisch und Latein zu lernen, Aufsätze über „Jakob der Lügner“ zu schreiben und Studientage vorzubereiten. „Schüler unterrichten Schüler“ – ein neues, gutes Konzept. An einer kleinen kirchlichen Schule in Naumburg, die es noch gab in der Diktatur. Es war ein gutes Jahr: das mittlere von drei anstrengenden Jahren. Wir hatten noch ein wenig Zeit bis zum Abitur. Margot Honecker hatte es nicht zugelassen, daß ich ein staatliches Abitur machen durfte – meine Nichtmitgliedschaft bei Pionieren, FDJ, vormilitärischen Ausbildungslager und anderem, was der Staat erwartete, hatte dies zur Konsequenz.  Wir zahlten den Preis gern, wenn er auch das „Aus“ für bestimmte Berufswünsche bedeutete.

In Ost-Berlin wurden im Oktober 1977 nach einem Rockkonzert Jugendliche verhaftet. Ich finde in meinen Notizen:

Am 7.10.1977 wird ein Rockkonzert vorzeitig beendet, zahlreiche Jugendliche beginnen zu grölen und zu pöbeln. Volkspolizisten schwärmen aus, zücken ihre Gummiknüppel und schlagen auf die jungen Leute ein, die sich jedoch zur Wehr setzen.  ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen berichtet am Tag darauf: „Über die schweren Tumulte, die sich in der letzten Nacht auf dem Alexanderplatz, vermutlich im Zusammenhang mit einer Musikveranstaltung ereigneten, liegen bis zur Stunde widersprüchliche Nachrichten vor. Dass es zu einem massiven Polizeieinsatz gekommen ist, steht außer Frage.“ Bis heute kann nicht genau rekonstruiert werden, was sich damals auf dem Berliner Alex abspielte. Während die DDR-Führung nur von einigen, wenigen Schreihälsen sprach, berichteten Westmedien über drei Todesopfer, davon zwei Polizisten, und etwa 200 Verletzte. Jegliche Berichterstattung wurde brutal unterbunden. Die Schlägerei auf dem Alexanderplatz hatte für die meisten Jugendlichen ein juristisches Nachspiel. Drakonische Strafen wurden verhängt, viele landeten in Jugendwerkhöfen oder im Gefängnis. Die DDR fuhr einen harten Kurs gegen die eigene Jugend, wie FDJ-Chef Egon Krenz öffentlich erklärte:
„Wir messen einen jungen Menschen nicht in erster Linie an Äußerlichkeiten, andererseits treten wir entschieden gegen jene Wenigen auf, die versuchen, durch rowdyhaftes Verhalten, Rechtsverletzungen und Alkoholmissbrauch die kulturvolle Atmosphäre in den Jugendveranstaltungen zu stören.“
Uns ging das nur am Rande an, hatten wir doch mit dem strengen Unterricht, mit Chören und Musik genug um die Ohren.
Thomas Mann war uns wichtiger und Rainer Maria Remarque. Marc Chagall und Stefan Zweig.
Aber diese politischen Dinge beschäftigten uns, wenn wir nachts auf dem Zimmer hockten und diskutierten.
Ich merke heute, wenn ich versuche, mich zu erinnern, daß die Erinnerung unzuverlässig wird. Ich muß im Tagebuch nachschauen.

Was werden wir wissen im Jahr 2053, wenn wir uns an das Jahr 2010 zurückerinnern? An das zwanzigste Jahr der deutschen Einheit?
„Weltwirtschaftskrise“ wird uns vielleicht noch einfallen. „Gescheiterter Klimagipfel von Kopenhagen“ vielleicht auch. „Afghanistan“ vielleicht. Vielleicht werden sich manche erinnern, daß damals eine Ostdeutsche Kanzlerin war.
Mein Tagebuch wird die Notizen über „Stuttgart 21“ ebenso enthalten und jenen neuen Zaun, den man pünktlich zum Tag der Einheit aufgebaut hat, um den Staat vor den Bürgern zu schützen, wie es das „Sabbathjahr“ enthalten wird mit seinen neuen Erfahrungen nach zwanzig Jahren hauptberuflicher Politik, fünf Jahre davon in der Regierung.

Vor zwanzig Jahren stand ich mitten im Getümmel. War von Anfang an dabei, als wir neue Parteien gründeten und versuchten, auf dem Schutt der Diktatur eine Demokratie zu errichten.
Egon Krenz hat es ebenso hinweggefegt wie Ibrahim Böhme, die Stasi ebenso wie den ganzen zerrütteten Staat.
Wir standen mitten im Tornado. Und übernahmen Verantwortung. Als das Alte verging und relativ wenig wirklich Neues wurde.
Diese Erfahrung hat uns geprägt: dass ein politisches System über Nacht verschwinden kann.
Das bringen die Ostdeutschen mit in die Einheit: die Erfahrung, daß ein politisches System verschwinden kann. Über Nacht. Plötzlich und unerwartet, fällt etwas, das man für „ewig“ gehalten hatte….

Gestern sprach ich mit einer Gruppe von angehenden Journalisten der Jahrgänge 1989-92 über die Wechselwirkung von social web und „alten Medien“ und die Veränderung der Demokratie.
Die jungen Leute wissen nichts mehr von der Diktatur, sie wissen Weniges von den Wendejahren, jenen Jahren, in denen sie zur Welt kamen.
Ich komme mir alt vor, wenn ich erzähle.
Die heute etwa Zwanzigjährigen sind in Europa aufgewachsen. Die Mauer gibt’s nur noch in Erzählungen und in Museen. Man twittert aus Singapore oder von den Azoren, aus Indien oder aus dem Sauerland.
Neue Medien verändern Möglichkeiten der Teilhabe. Kostenloses Bürgerfernsehen via Handycam verändert die Demokratie und lässt so manchen Minister zittern.

Seit ich viel von der Welt gesehen habe, kommt mir die Debatte um die Deutsche Einheit noch provinzieller vor, als all die Jahre ohnehin schon.
Ich mag diese deutsche Nabelschau nicht. Schon am ersten Tag der Deutschen Einheit bin ich aus Berlin weggefahren an die See. Da waren mir zuviele Fahnen vor dem Reichstag. Das war mir zu dicke, ich wollte Abstand.
Seit ich den Slum in Nairobi gesehen habe und das gewaltige Technologiezentrum in Seoul, das man, den Klimawandel ignorierend, nur einen Meter über dem Meeresspiegel in den Sand setzt; seit ich in Nordkorea die bittere Not im Lande sah und in Moskau die Ölmagnaten im Ausschuss „Energie“ der Duma – seither sind mir die europäischen und globalen Themen noch wichtiger geworden, als sie schon in der Abiturzeit waren. Jenes „global denken und lokal handeln“, das den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung so sehr prägte, prägt mich heute noch.
Ich mag diese deutsche Nabelschau nicht.
Denn dieses reiche Land hätte eigentlich so gewaltige Aufgaben zu erfüllen – einen wirklich maßgeblichen Anteil zu erbringen für mehr Klimaschutz, für mehr Gerechtigkeit zwischen Reicher und Armer Welt, für eine bessere Europäische Integration, für eine bessere Flüchtlingspolitik.
Aber wir beschäftigen uns mit uns selbst und diskutieren schlechte Bücher von seltsamen Bankern…

Nun gehen solche Jahrestage ja glücklicherweise auch vorüber.
Mich tröstet der Orion am morgen. Er grüßt wie schon immer das Siebengestirn und erlaubt mir, ein wenig Abstand zu nehmen.
Was sind schon zwanzig Jahre, wenn einen der Orion grüßt am Morgen?