Am 18. August 1976 verbrannte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Rippicha öffentlich in der Innenstadt der DDR-Kreisstadt Zeitz.
Er hatte zwei selbstgemalte große Plakate aufgestellt:
„Funkspruch an alle….Funkspruch an alle….
Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“
Ich war zu seiner Beerdigung. Sie fand am 26. August 1976 nachmittags um 14.00 statt. Wir waren zu viert im Auto von Naumburg nach Rippicha gefahren.
Zusammen mit Rainer Bohley, unserem Rektor am Proseminar, einer kleinen kirchlichen Schule, in der man Abitur machen konnte.
Die Linie führt von Brüsewitz‘ Selbstverbrennung über die Ausweisung von Wolf Biermann zu den bei der Rosa-Luxemburg-Demonstration 1988 zu Unrecht Inhaftierten über die Friedensgebete, aus denen die „Montagsdemonstrationen“ wurden direkt bis zum „Fall der Mauer“ 1989.
Nun, im Januar 2010, halte ich „Das Fanal“ in den Händen.
Die Geschichte von Schuld und Verstrickung.
Eine Geschichte von Staatssicherheit, Kirche, SED und Spitzeltum; eine Geschichte von Gerüchten und Verdächtigungen, von Angst und Mut.
Ein Buch, das versucht, die genauen Vorgänge zu rekonstruieren. Es ist schon 1999 erschienen, doch heute erreicht es mich erst.
Alte Bilder werden lebendig.
Die vielen vielen Menschen. Die „schwarze Reihe“ der Männer und Frauen in Talar.
Die Staatssicherheit.
Die Fernsehkameras der ARD.
Die anschließende „Ausweisung“ des ARD-Korrespondenten Lothar Loewe, man entzog ihm die Akkreditierung.
Die folgenden heißen Diskussionen, nächtlichen Gespräche im Freundes- und Bekanntenkreis über den Tod des Pfarrers.
In meinem Tagebuch von 1976 lese ich von den „regelrechten Hetzkampagnen der SED-Zeitung ‚Neues Deutschland‘ gegen Brüsewitz“.
Die „Schaukästen“ meines Vaters, in denen er als Pfarrer, der das offene Wort pflegte, gegen das „Neue Deutschland“ wetterte unter der Überschrift: „Halbe Wahrheiten sind ganze Lügen“.
Das „ND“ hatte versucht, Pfarrer Brüsewitz als „geisteskrank“ und „anormal“ darzustellen.
Mir begegnen sehr viele vertraute Namen in dem Buch.
Bischof Krusche, Propst Bäumer, OKR Stolpe, OKR Schultze, OKR Detlev Hammer…
Menschen, die ich persönlich kenne oder kannte. Einige sind schon gestorben.
Ich tauche ein in ein Stück eigener Geschichte, hole Bilder wieder in die Gegenwart, die schon so lange versunken schienen.
Vielleicht ist es ja nicht zufällig, dass mir das Buch in diesen Tagen begegnet, in denen eine erneute öffentliche Debatte um den „Kommunismus“ aufgeflammt ist.
Brüsewitz hat seinen Tod als Zeugnis „gegen den Kommunismus“ verstanden. So jedenfalls hat er es vor seinem Tod dem behandelnden Arzt in Halle gesagt.
Das Buch ist gut geschrieben. Bis Redaktionsschluss zugängliche Dokumente sind sorgfältig ausgewertet, einige Dokumente sind nachträglich vielleicht noch zugänglich geworden, das schadet dem Ganzen aber nicht.
Es gewährt auch den Jüngeren Einblick in eine Gesellschaft, die nach dem Willen der SED, der Blockparteien (maßgeblich in dem Zusammenhang die CDU) und der Staatssicherheit geformt werden sollte.
Es gewährt Einblick in ein kompliziertes Beziehungs- und Begründungsgeflecht, das das stets angespannte Verhältnis zwischen Kirche und Staat betrifft.
Es ist insofern ein Lehr-Buch. Ein Lehr-Buch über die Zweite deutsche Diktatur.
„Das Fanal“ ist ein bemerkenswertes Buch. Denn es versucht, in ein kompliziertes Geflecht von individueller Biografie, schuldhaftem Verhalten von Kirche und SED-Staat ein wenig mehr Licht zu bringen, damit das Verständnis wachsen kann für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Zweiten Deutschen Diktatur.
Dieses Leben in der Diktatur war hoch komplex und oft auch kompliziert; die Charaktere der im „Fall Brüsewitz“ Handelnden waren sehr verschieden.
Es gab Angepasste und Ängstliche, aber es gab auch klare und mutige Menschen. Es gab Taktiker und Denunzianten, aber es gab auch Freunde und Gefährten.
Oskar Brüsewitz war kein einfacher Mensch.
Er war gradeaus. Unkonventionell.
Er war ein wichtiger Mensch. Und ein mutiger Mensch zudem.
Seine persönliche, direkte und konsequente Verkündigung als Pfarrer in der Zweiten deutschen Diktatur hat mit dem „unterirdischen Beben“, das sie auslöste, einen großen Beitrag geleistet zum Fall der Mauer.
Lohnenswerte Lektüre:
Helmut Müller-Enbergs; Wolfgang Stock, Marco Wiesner.
Das Fanal.
Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz aus Rippicha und die evangelische Kirche.
Aschendorff-Verlag 1999
ISBN 3-402-05263-6.
Ein Gedanke zu “Das Fanal – Erinnern an die Selbstverbrennung des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976”