Diesen Text schreibe ich, um mir selbst Rechenschaft abzulegen, falls mich eines der Enkelkinder irgendwann fragt, wie ich mich denn verhalten habe in jenen Tagen im Februar 2022, als der Kanzler der Bundesrepublik begann, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen und Aufrüstung meinte. Ich will mit diesem Text niemanden zu irgendetwas überzeugen, will niemanden agitieren oder zu irgendeiner Ansicht verhelfen, ich will mir selbst gegenüber aufschreiben, wie das für mich war, als da nun von jener „Zeitenwende“ die Rede war, die im Kern Aufrüstung meinte.
Eine „Wende“ hab ich ja schon erlebt, viele andere auch. Jenes Wort von Egon Krenz, das dann gleichsam zum Stempel für den Zusammenbruch des Landes wurde, in dem ich aufgewachsen bin. Mit „Wende“ wurde und wird der Zusammenbruch der DDR bezeichnet und der anschließende Beitritt des Restes von jenem Land zu einem Land, in das ich nie wollte, weshalb ich auch nie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, obwohl die olle DDR mit die Staatssicherheit auf den Hals gehetzt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, die nun auch schon wieder über dreißig Jahre zurückliegt.
Lange Jahre der Auseinandersetzung mit der Diktatur lagen hinter mir und meinen Freunden, wir hatten Jahre hinter uns, in denen man uns einreden wollte, der Friede müsse bewaffnet sein. Oder man müsse „Gegen NATO-Waffen Frieden schaffen!“ Wir standen schon damals auf der anderen Seite: wir argumentierten angesichts der Hochrüstung mitten in Deutschland – im Osten standen die russischen SS 20-Raketen, im Westen die Pershings – eine Logik des Krieges führe zur Auslöschung unserer Zivilisation und vorher zur Vernichtung wichtigster Ressourcen, die wir dringend für Aufgaben des Lebenserhaltes benötigen. Aufrüstung: immer mehr Waffen, immer mehr Raketen, immer mehr Panzer. Das ist die Logik des Krieges, die Logik der Abschreckung. Das war schon damals mitten im Kalten Krieg nicht unsere Position.
Wir setzten dem gemeinsam mit vielen anderen in Ost und West eine Logik des Friedens entgegen, die wesentlich von den großen Pazifisten des vorigen Jahrhunderts geprägt war, in meinem eigenen Fall besonders von Tolstoi, Gandhi, M.L. King, Zweig, Rolland und anderen. Die Dokumente dazu findet man in den Protokollen der Synoden des Bundes der Evangelischen Kirche z.B. unter dem Stichwort „Bekennen in der Friedensfrage.“ Wir fanden den außenpolitischen Kurs von Brandt und Bahr sehr richtig, angesichts eines immer kälter werdenden Kalten Krieges, gerade angesichts einer solchen Situation! – dem „Feind“ die Hand zu reichen und mit konkreten Verhandlungen über gemeinsame Interessen zu beginnen.
Nicht das Unterscheidende sollte betont, sondern das Gemeinsame gefunden werden.
Und etwas Entscheidendes konnte im Atomzeitalter als Gemeinsames sofort identifiziert werden: das Interesse nämlich, überhaupt am Leben zu bleiben. Das aber bedeutete Atomwaffenverzicht und Abrüstungsverhandlungen.
All das ist lange und ein paar Kriege her.
Wir haben inzwischen den Irak-Krieg I gesehen, der ohne UN-Mandat begann, völkerrechtswidrig also; wir haben den Irak-Krieg II gesehen; wir haben den über dreißigjährigen Afghanistan-Krieg gesehen, die Bombardierung des Balkan durch Kampfjets auch aus Deutschland – ohne UN-Mandat.
An Kriegen hat es nicht gemangelt. Zuletzt lauteten die Stichworte: Krieg in Syrien, Besetzung der Krim, Bürgerkrieg in Mali (und Einsatz u.a. der Bundeswehr) und nun Putins Krieg gegen die Ukraine, die kein Mitglied der EU und auch kein Mitglied der NATO ist.
Seit gestern nun bestimmt ein neues Wort die politische Debatte in Deutschland: Kanzler Scholz hat es eingeführt. Er sprach davon, wir würden jetzt eine „Zeitenwende“ erleben. Nun gälten die alten Vorstellungen von der Abrüstung nicht mehr, nun müsse man „lange Versäumtes“ nachholen und die Bundeswehr aufrüsten. Viele stimmten ihm zu, der Finanzminister von der FDP, der das „Sonderprogramm“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zu finanzieren hat, sprach gar davon, er wolle „eine der schlagkräftigsten Armeen in Europa“ aufbauen und sei daher bereit, diese 100 Milliarden neue Schulden aufzunehmen. Zusätzlich, so teilte der Kanzler mit, werde Deutschland „mehr als die von der NATO geforderten 2%“ des BIP jährlich für die Bundeswehr zur Verfügung stellen.
Als heute die Börsen öffneten, gingen die Aktienkurse maßgeblicher Rüstungskonzerne in Deutschland geradezu durch die Decke: plus 15%, plus 9%, plus 40% – solche Zahlen sind nun zu lesen. Dieses Aufrüstungsprogramm ist gewaltig. Bezahlt wird mit neuen Schulden. Und die Geschäftemacher der Welt verhalten sich nun wieder so, wie sie sich eigentlich immer verhalten haben: „Kaufe, wenn die Kanonen grollen.“
Was ich hier für mich notieren will: in meiner Wahrnehmung erleben wir tatsächlich eine „Zeitenwende“. Allerdings höre ich das Wort in keiner Weise positiv. Ich höre: Deutschland lässt sich nun von einem russischen Präsidenten diktieren, wie es zu reagieren hat. Deutschland lässt sich in eine Aufrüstungsspirale hineinzwingen, die wir für überwunden geglaubt hatten.
Nun haben die Falken wieder mal Oberwasser. Jene, die für Abrüstung statt Aufrüstung sprechen, gelten – wieder einmal – als unpolitisch, blauäugig, naiv. Sie hätten „keine Ahnung“, außerdem handele es sich bei Menschen, die für Ab- statt Aufrüstung sprechen um „Putinfreunde“, oder, schlimmer noch, um „Putinversteher“, jenen Leuten also, die eigentlich ebensolche Ganoven seien wie der russische Präsident.
Es wird auch schon wieder religiös in der Sprache. Es ginge beim „Kampf gegen Putin“ im Kern um einen „Kampf gegen das Böse“, so lesen meine alten Augen. Ich erlebe das als Rückfall.
Es ist ein tiefer Rückfall in tiefste Zeiten des Kalten Krieges. „Zeitenwende“ klingt in meinen Ohren nach „Rückschritt“, nach „Rückfall“, nach einem politischen Kalkül, das ich und nicht nur ich für überwunden gehalten hatte.
„Was hast Du denn getan in jenen Tagen?“ werden mich die Enkel vielleicht fragen, falls sie das überhaupt interessiert.
„Ich habe der Logik der Aufrüstung widersprochen“ werde ich antworten, „so, wie ich es mein Lebtag lang getan habe. Ich war der festen Überzeugung, daß mehr Waffen in der Ukraine die russische Armee nicht aufhalten werden. Nun, nach dieser Entscheidung der Bundesregierung, stehen überall auf der Welt Tor und Tür sperrangelweit offen, auch dorthin Waffen zu liefern. Jene „Zeitenwende“, von der nun die Rede ist, ist nichts anderes als ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm.“
„Und? Hat es was genützt?“
„Eher nicht. Es war wohl eher „in den Wind gesprochen“, wie Johannes Bobrowski einmal gemeint hat. Die Zeiten waren nicht so. Die Mehrheit rief in jenem Frühjahr 2022 nach immer mehr Waffen. Es gab langen Beifall im Parlament, als der Kanzler von jener „Zeitenwende“ sprach und es gab langen Beifall, als er von 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr sprach und es gab langen Beifall, als er von den „mehr als 2%“ für die NATO sprach. Man müsse dem „Feind“ (es war tatsächlich auch offiziell wieder vom Feind! die Rede!) endlich „unmissverständlich“ „klarmachen“, „wo die Grenze sei“, so war zu hören.
Es waren nicht die Zeiten, in denen man noch die Stimmen hören wollte, die für Abrüstung sprachen, man war – der Einfachheit halber -, der Ansicht, solche Stimmen kämen ja ohnehin nur noch von ein paar völlig Unverbesserlichen der LINKEN oder gar von der AfD. Damit hatte man ein Schubfach und fertig war die Laube.
Nein, die Mehrheit im Parlament war nun woanders.
Man hielt den bisherigen Weg Deutschlands, keine Waffen in Krisengebiete zu schicken, ab sofort für falsch. Weshalb nun auch Deutschland endlich endlich Waffen schicken sollte. Die Mehrheit wollte nichts hören von Abrüstung. Sie wollte Aufrüstung, Aufrüstung, Aufrüstung.
Deutschland ist vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute einen langen Weg gegangen.
Von jenem im Jahre 1945 zu hörenden „nie wieder soll jemals ein Deutscher eine Waffe in die Hand nehmen“ zu jenem 100 Milliarden-Sonderprogramm für die Bundeswehr unserer Tage lagen beinahe genau 80 Jahre. 2025 wäre Jubiläum.“
Ich notiere diesen Text für mich. Um mir Rechenschaft zu geben, wo ich gestanden habe in jenen Februartagen 2022, die wir gerade erleben. Damit ich Auskunft geben kann.