Zeit der Abschiedsreden. Von 379 ppm zu 421 ppm.

Zeit der Abschiedsreden. Von 379 ppm zu 421 ppm.

16 Jahre Angela Merkel neigen sich. Heute (24.6.2021) hat sie im Bundestag ihre vermutlich letzte Regierungserklärung abgegeben (morgen beginnt der Europäische Rat). Gestern hat sie vermutlich zum letzten Mal als Kanzlerin in der Regierungsbefragung Rede und Antwort gestanden.
Angela Merkel ist derzeit die dienstälteste Kanzlerin Europas. Vier Regierungen hat sie geführt; aus ihrer ersten Kanzlerschaft kenne ich sie noch, damals war ich Parlamentarischer Staatssekretär.
Gestern hat sie in der Befragung zu ihrer klimapolitischen Bilanz zu Protokoll gegeben:

„Wenn ich mir die Situation anschaue, kann kein Mensch sagen, wir haben genug getan.“ Dann hat sie noch hinzugefügt: „Die Zeit drängt wahnsinnig. Ich kann die jungen Leute in ihrer Ungeduld verstehen.“

Das ist einerseits sehr ehrlich. Andererseits so etwas wie eine klimapolitische Bankrotterklärung.
2005 hatte die Welt eine CO2-Konzentration von 379,2 ppm CO2
2021 waren es am 8. April katastrophale 421 ppm.
Trotz aller Konferenzen, Papiere, Erklärungen, Expertenanhörungen und Gipfel – der CO2-Wert ist stark gestiegen, Methan und Lachgas sind noch gar nicht eingerechnet.
Daran ist nicht die Kanzlerin schuld, aber sie hat einen nicht geringen Anteil daran, denn sie hat als Chefin der stärksten Volkswirtschaft Europas einen nicht geringen Einfluss darauf, was Europa in Fragen des Klimaschutzes unternimmt.

„Es war zu wenig“ hat sie bilanziert. Das ist ehrlich und diese Ehrlichkeit ehrt sie.
Aber es zeigt uns eben auch sehr ernüchternd, wie wenig Politik – selbst bei gutem Willen – zu leisten in der Lage ist angesichts der tagesaktuellen Katstrophen, Epidemien, Währungskrisen und Wirtschaftskonflikte.
Diese Einsicht nun macht unsere Lage in Klimafragen auch nicht wirklich besser.

Eines wird deutlich, wenn man auf diese Kanzlerschaft zurückblickt: man kann Kanzlerschaften in Gipfeln oder Konferenzen oder Regierungsjahren messen – oder aber in ppm CO2.
Wir müssen Letzteres tun, dann wird schlagartig klar, in welcher schwierigen Lage wir sind.
Klar wird zudem: wir dürfen die Überlebensfrage Klimawandel nicht der Politik allein überlassen.
Zu welchen Ergebnissen man da kommt, können wir ja an den Messwerten in Mauna Loa ablesen: innerhalb von 16 Jahren von 379,1 ppm auf 421 ppm. Mit solchen Messwerten lässt sich schwer diskutieren.

Frau Merkel tritt nun ab.
Neue rücken nach.
Nochmal 16 Jahre klimapolitisches Versagen haben wir nicht.
Beim Weltklimagipfel 2018 in Kattowice hat uns die Wissenschaft ins Stammbuch geschrieben: wir haben noch zehn Jahre, um das Ruder herumzureißen und auf einen Pfad der CO2-Senkung (2050 müssen die Emissionen auf NULL sein) zu kommen.
Davon sind vier Jahre verstrichen, die Emissionen sind gestiegen. Es bleiben noch etwa sechs Jahre, wie das Mercator-Institut in Potsdam auf seiner CO2-Budget-Uhr eindrücklich nachweist, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingt, liegt aber nur noch bei deutlich unter 10 Prozent und nimmt täglich weiter ab.

Entweder es gelingt in den kommenden sechs Jahren, also innerhalb der nun bald beginnenden nächsten Legislatur – oder aber die Welt steuert auf Prozesse zu, die weder politisch noch ökonomisch mehr beherrschbar sein werden.

Bleiben Sie mal realistisch!

Bleiben Sie mal realistisch!

Man solle „realistisch bleiben“, sagt die Frau Bundeskanzlerin in Richtung Europäisches Parlament in Bezug auf dessen Vorschlag, mehr für den Klimaschutz zu tun.
Was sie vermutlich meint: „ich habe keine Lust, mich noch mehr zu engagieren“; sie meint vielleicht auch: „wir sollten erst mal das Ziel erreichen, auf das wir uns nach langen Mühen verständigt haben, bevor wir neue Reduktionsziele beschließen“; vielleicht meint sie ja auch: „mehr als das Beschlossene ist angesichts der Kräfteverhältnisse in der EU nicht zu erreichen“.

Ich höre vor allem eine müde Kanzlerin.
Ihre Regierungszeit geht nun zu Ende. Das Jahr 2021 wird voraussichtlich das letzte ihrer langen Kanzlerschaft sein, eine Fortsetzung hat sie mehrfach öffentlich ausgeschlossen.

Gerade jetzt aber kommt es darauf an, dass die Staaten der Erde, dass die politischen Gemeinschaften dieser Erde, also auch die Europäische Union, deutlich größere Anstrengungen unternehmen, um den sich beschleunigenden Klimawandel wenigstens etwas zu verlangsamen. Das wäre schon viel. Gerade jetzt befinden wir uns im entscheidenden Jahrzehnt, die kommende Legislaturperiode wird die vielleicht wichtigste in der Geschichte der Europäischen Union sein – wenn die Staatengemeinschaft jetzt nicht „die Kurve kriegt“, dann ist es zu spät, denn die Naturkreisläufe reagieren äußerst träge. Was wir jetzt sehen, sind die Auswirkungen der Emissionen der Neunziger Jahre, alle späteren Emissionen werden ihre Wirkung erst noch entfalten!

„Bleiben Sie realistisch!“ sagt die Kanzlerin Richtung Europäisches Parlament und ich will ihr sagen:
Wenn wir wirklich realistisch blieben, uns also von dem, was wir wissen, leiten ließen, dann müssten wir sagen: im Moment deutet alles darauf hin, dass die von der Menschheit beschlossenen und eingeleiteten Klimaschutzmaßnahmen bei weitem nicht ausreichen, um das 1,5-Grad-Ziel des Paris-Vertrages zu erreichen.
Wenn wir wirklich realistisch blieben, dann hätten wir momentan keinerlei begründeten Hinweis auf eine wirkliche Wende bei den CO2-Emissionen. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nimmt weiter zu – trotz Corona.
Wenn wir realistisch blieben, müssten wir angesichts der vorliegenden Zahlen feststellen: wir werden es nicht schaffen, bis 2050 die Emissionen auf NULL zu bringen. Aber genau das wäre notwendig, wie die internationale Klimawissenschaft seit langen Jahren nachweist.

Wir kommen folglich nicht weiter, wenn wir „realistisch bleiben“.
Was notwendig wäre, wäre eine mutige und entschlossene Klimaschutzpolitik, die wirklich alles versucht, um die Emissionen dramatisch zu senken. Auf diesem Wege wären selbst die vom EU-Parlament beschlossenen minus 60% nur ein kleiner Schritt.

Das, was auf einen Blick plausibel erscheint – Realismus – erweist sich bei genauerer Betrachtung als gewaltiger Hemmschuh und bremst diejenigen, die engagierten Klimaschutz vorantreiben wollen, nicht zuletzt das Europäische Parlament.

Wer, wie die Kanzlerin, angesichts der Lage fordert, man solle auf strengere Ziele verzichten und stattdessen „realistisch bleiben“, der dient nicht dem Klimaschutz, der steht ihm im Weg.

Weshalb schweigt die Kanzlerin?


Der Bundestag schickt 1200 Männer und Frauen nach Syrien in den Krieg gegen den Terror – und die Kanzlerin gibt nicht mal eine Regierungserklärung dazu ab. Sie schweigt.
Wegen jeder Kleinigkeit wird eine Regierungserklärung gegeben. Vor Europa-Gipfeln ebenso, wie bei wichtigen politischen Entscheidungen. Bei Rentenerhöhungen ebenso wie in anderen Politikfeldern.
Alle Kanzler haben sich, wenn es um fundamentale Fragen von Krieg und Frieden ging, öffentlich erklärt.
Das kann man nicht nur erwarten, das muss man erwarten.
Bei der jetzt vom Deutschen Bundestag beschlossenen Beteiligung von 1200 Soldatinnen und Soldaten am Krieg gegen den Terror in Syrien – kein Ton.
Nichts.
„Ich habe nichts anzukündigen“ meint der Pressesprecher der Regierung, Seibert auf die Frage von Journalisten, wann denn eine Regierungserklärung zum Syrien-Krieg zu erwarten sei.

Ist der Eintritt der Deutschen in die „Allianz gegen den Terror“ nicht der Rede wert?
Hat sich Deutschland mittlerweile so sehr an Kriegseinsätze ohne Mandat gewöhnt, dass die Entsendung von 1200 Soldatinnen und Soldaten „nicht der Rede wert“ ist?
Ist es das?

Ich kann und will das nicht glauben.

Die Kanzlerin ist es mindestens den Soldatinnen und Soldaten und ihren Angehörigen schuldig.

Eine so fundamentale Entscheidung zu treffen wie die vom heutigen Tage – und dann kommt nichts aus dem Kanzleramt.

Das geht gar nicht.

Zur Verteidigung der guten Wissenschaft in Deutschland – eine Streitschrift


Lange Jahre war ich auf Bundesebene mitverantwortlich für die Wissenschaftspolitik in Deutschland. Als Abgeordneter der Deutschen Bundestages im Forschungsausschuss, als stellvertretender forschungspolitischer Sprecher und als Parlamentarischer Staatssekretär. Es ist an der Zeit, sich schützend vor die gute Wissenschaft in Deutschland zu stellen. Denn offensichtlich sind die derzeitige Forschungsministerin und auch die Kanzlerin dazu nicht bereit. Der Verbleib eines Betrügers im Amt eines Bundesministers schadet dem Wissenschaftsstandort Deutschland auf fundamentale Weise.

Solange die Kanzlerin einen Minister, der die Wissenschaft auf betrügerische Weise geschädigt und sich seinen Doktortitel durch Betrug erschleichen wollte, im Amt lässt, solange ist jedes Reden der Kanzlerin, Bildung und Wissenschaft seien der wichtigste Rohstoff für die Volkswirtschaft und entscheidender Standortfaktor nichts als leeres Gerede.

Denn hier geht es nicht um eine Bagatelle. Nicht derjenige, der den Betrug kritisiert, kriminalisiert das Verhalten des Ministers, sondern derjenige verhält sich schädlich, der durch Betrug versucht, sich akademische Titel zu erschleichen.

Was macht die Bundesforschungsministerin? Sie schweigt. Und sie vergeht sich damit an der guten Wissenschaft in Deutschland.
Was macht die Kanzlerin? Sie schweigt und lässt den Minister im Amt – ein Schlag gegen alle, die sich um gute Bildung und Wissenschaft in Deutschland bemühen. Ein Schlag ins Gesicht all derer, die durch ausgezeichnete Forschung und akkurate wissenschaftliche Leistungen den Wohlstand in unserem Industrieland sichern.
Denn, wenn der Betrüger im Amt bleibt, ist dem Betrug in Wissenschaft und Forschung Tor und Tür geöffnet. Dann ist künftig alles egal. Dann darf kopiert, abgeschrieben, betrogen werden, ohne daß es Folgen hätte.
Das darf nicht passieren!

Unser Industrieland braucht eine exzellente und nach strengen Kriterien arbeitende Wissenschaft die der Mensch die Luft zum Atmen.
Ich war etliche Zeit Senator der Fraunhofer-Gesellschaft.
Deshalb weiß ich, wie zentral wichtig die Qualitätssicherung in der Forschung ist. Der globale Wettbewerb ist mittlerweile so hart geworden, daß nur noch höchste Qualität in der Lage ist, denn Wettbewerb zu bestehen. Raubkopien, Plagiate, billige Nachahmung der internationalen Mitbewerber machen dem Wirtschaftsstandort Deutschland schwer zu schaffen.
Es gibt nur einen Weg, diesen Wettbewerb zu bestehen: höchste Qualität in Wissenschaft und Forschung.
Deshalb ist es richtig, wenn die Lehrer, Hochschullehrer und Professoren bei ihren Schülern und Studenten von der Schule an streng auf exaktes, strengen wissenschaftlichen Kriterien genügendes Arbeiten achten.
Deshalb ist es richtig, wenn schon von der Schule an die kleinsten Versuche, durch Betrug oder Abschreiben zu „Ergebnissen“ zu kommen, streng bestraft werden.
Denn: es geht um den Wirtschaftsstandort (!) Deutschland. Nur exaktes, strengen Kriterien genügendes wissenschaftliches Arbeiten ist in der Lage, den globalen Wettbewerb zu bestehen.
Das muss in allen Bereichen gelten: in der Schule, in der Fachhochschule, an der Universität, in der Forschung.

Wenn die Kanzlerin und ihre schweigende Forschungsministerin nun einen Minister im Amt lässt, der sich offensichtlich durch Fälschung und Betrug den akademischen Grad eines Doktors der Wissenschaften zu erschleichen versucht hat – dann ist künftig alles Kopieren, Abschreiben, Betrügen und Mogeln eine Bagatelle, dann kommt es künftig „nicht mehr so drauf an“.

Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in Deutschland ist gut. Und die deutschen Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen haben international einen guten Ruf. Einigen Universitäten gelingt es mittlerweile sogar, international im Wettbewerb mit den besten Universitäten der Welt zu konkurrieren. Das ist aber nur möglich, wenn auf höchste Standards geachtet wird.
Die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Gemeinschaft der Helmoltz-Zentren, die Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, die Universitäten und Fachhochschulen – sie alle brauchen exaktes wissenschaftliches Arbeiten als entscheidendes Kriterium, um im internationalen Wettbewerb überhaupt bestehen zu können.
Wer schummelt, abschreibt, kopiert und sich Ergebnisse zu erschleichen versucht, wird nicht bestehen können gegen Yale und Oxford, gegen Oulu in Finnland und die starken Hochschulen in der Schweiz.

Deshalb geht es um keine Bagatelle.
Die Entwicklung des MP3-Standards durch ein Institut der deutschen Fraunhofer-Gesellschaft ermöglicht einen Jahresumsatz von mehreren Milliarden Euro.
Es ist die Entwicklung eines Professors mit seinem Team.
Man kann an diesem Beispiel sehen, wie zentral wichtig gute Wissenschaft für den Wirtschaftsstandord Deutschland ist.
Wissenschaft und Forschung leisten einen entscheiden Beitrag zu unserem Wohlstand.

Deshalb ist Wissenschaft keine Bagatelle.

Die Kanzlerin ist aufgerufen, einen nachweislichen Betrüger aus höchsten politischen Ämtern zu entfernen. Denn er hat versucht, sich akademische Lorbeeren durch Betrug anzueignen.
Es genügt nicht, wenn der Titel aberkannt ist. Denn solange er im Amt bleibt, ist sein betrügerisches Verhalten weiter legitimiert.

Die Bundesforschungsministerin ist aufgerufen, sich entschieden, klar und unmißverständlich vor die gute Wissenschaft in Deutschland zu stellen.
Wenn sie weiter schweigt, schädigt sie den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland auf unverantwortliche Weise.

Frau Dr. Berlusconi.Etwas über das Verhältnis von Macht und Moral


Die Universität hat votiert: die Doktorwürde ist aberkannt. Was sagt die Kanzlerin? Sie sagt:
„Die Entscheidung der Uni Bayreuth liegt auf der Linie dessen, was der Verteidigungsminister vorgegeben hat. Sie macht daher Sinn“, so die Kanzlerin. Das Votum zeige, dass zu Guttenberg mit seiner Selbsteinschätzung richtig liege. Der Minister sei durch die Uni-Entscheidung daher in seinem Amt nicht geschwächt.
Ich zitiere aus der WELT.

Und halte inne.
Was bedeuten diese Worte? Sie bedeuten: Macht geht über Moral.
Denn es ist offensichtlich: die Kanzlerin hält an ihrem Minister fest, obwohl die Universität die erschlichene Doktorwürde zurückgezogen hat. Die Beweise waren erdrückend.
Sie hält aus Machtkalkül an ihm fest.
Künftig wird alles wurscht sein.
Künftig wird jeder tun und lassen können, was er will: lügen, betrügen, abschreiben, kopieren, verhamlosen, hochstapeln. Alles ist erlaubt.
Insbesondere, wenn man an der Macht ist.

Welcome in Berlusconi-Land.

Ulrich Deppendorf hat Recht: „Frau Dr. Merkel steuert einen gefährlichen Kurs“. So hat er es heute in „Deppendorfs-Woche“, nachhörbar in der ARD-Mediathek über ihren Kurs gesagt.
Nun geht es nicht mehr um einen süddeutschen Baron, der offensichtlichen Hochstapelei überführt.
Nun geht es um den Kurs der Kanzlerin.

Wohin führt sie dieses Land?

Sie führt es in moralische Niemandsland. Nun ist alles wurscht. Wenn der Bundesminister durch die Vorgänge um seine erschlichene Doktorarbeit „nicht im Amt beschädigt“ ist, dann ist alles völlig egal.
Dann kann jeder Bundesminister sein. Hauptsache, er dient ihrem Machterhalt.
Moral, Anstand, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit – alles in den Wind geredet.
Bürgerliche Werte – keinen Pfifferling mehr wert.
Denn alles hat sich der Macht zu beugen.

Man kann Frau Dr. Berlusconi dankbar sein für ihre Worte.
Wir wissen nun, woran wir mit ihr sind.

Stefan Zweig hat ein bemerkenswertes Buch zum Zusammenhang geschrieben: Castellio gegen Calvin. Oder ein Gewissen gegen die Gewalt.
Der scheinbar Unterlegene Castellio erweist sich gegen den mächtigen Calvin als der eigentliche Sieger.

Geist und Moral gegen Macht und Gewalt.
Das ist hier die Frage.

Und Frau Dr. Merkel hat sich offenbar entschieden: sie steht auf der Seite der Macht.
Und nicht auf der Seite der Moral.
Deshalb nenne ich sie nun Frau Dr. Berlusconi.

Wohin steuert diese Republik?


Nachdenklichkeit bleibt, während die einen „wir sind wieder da!“ rufen, die anderen einen „herben Verlust“ beklagen und wieder andere ihren „Einzug in den Landtag“ feiern. Daß die „schwarz-gelbe Landesregierung abgewählt“ wurde, ist nur ein kurzer Trost.
Während fast jeder zweite Wähler im bevölkerungsreichsten Bundesland bei der Wahl zu Hause blieb, schnürten die europäischen Finanzminister in eiligen Nachtsitzungen ein gewaltiges 720 Milliarden -„Paket“ zur Rettung des Euro. Die Währung wackelt.
Ein Erdbeben kündigt sich an.

Deshalb bleibt eher eine Nachdenklichkeit am Tag nach dieser Wahl.
Denn die politischen Unübersichtlichkeiten nehmen zu in der stärksten Volkswirtschaft Europas.

Wohin geht diese Demokratie?
Es scheint so, als müsse man sich auf Dauer an ein Fünf-Parteien-System gewöhnen, das mit überaus knappen Wählerentscheidungen irgendwie fertig werden muss. 6.200 Stimmen fehlten der SPD, um mit den Grünen eine neue Regierung bilden zu können. Nun bleiben Große Koalition oder rot-rot-grün oder eine Minderheitenregierung mit wechselnden Mehrheiten.
Es bedeutet in jedem Fall: Das Regieren wird immer schwieriger.
Die Gruppe der Nichtwähler wächst, weil die Unübersichtlichkeit zunimmt.
Egal, wie die Gremien sich entscheiden – es wird Protest dagegen geben. Die an einer Koalition beteiligten Parteien werden Zustimmung verlieren.

Während überaus schwierige Gespräche zur Bildung einer neuen Landesregierung zu erwarten sind, beschleunigt sich das Tempo auf europäischer Ebene:
die Finanz- und Wirtschaftskrise schwört eine „Inflation“ herauf.  Die gemeinsame Währung wackelt. Selbst Konservative wie Bundeswirtschaftsminister Brüderle warnen vor einer solchen Entwicklung.
Zwar stemmen sich die EU-Finanzminister mit einem nie dagewesenen „Rettungsschirm“ von 720-Milliarden gegen die Spekulanten, die mit großen Einsätzen gegen den Euro spekulieren.
Am Ende jedoch werden die Spekulanten gewinnen, die mit einer Inflation rechnen, denn es ist der Politik nicht gelungen, sie im Zaum zu halten.
Eine Finanztransaktionssteuer hat keine Mehrheiten in Europa.

Wohin geht diese Demokratie?

Während in NRW Nachdenklichkeit einzieht über die tatsächliche Handlungsmöglichkeit rechnerisch möglicher Regierungsbündnisse, während in dringenden Nachtsitzungen versucht wird, das europäische Finanzsystem zu stabilisieren, schickt der deutsche Verteidigungsminister neue Panzer nach Afghanistan. Es wird weiter aufgerüstet.

Wohin steuert diese Demokratie?

Die Kanzlerin wird zentrale „Projekte“ wie Gesundheitsreform, Finanzreform, Bildungs“offensive“ nicht umsetzen können. Das freut die einen, ärgert die anderen.
Politischer Stillstand droht mehr noch, als er bislang zu Tage trat. Denn ein „Patt“ im Bundesrat engt die Handlungsmöglichkeiten für politische Projekte weiter ein. Deutschland musste in den vergangenen Jahren mehrmals mit diesem „Patt“ zwischen Bundestag und Bundesrat umgehen und hat dabei die Erfahrung gemacht: Stillstand droht.
Einmal, weil das Geld fehlt – was vorher schon die Spatzen von den Dächern pfiffen -, zum anderen, weil die Mehrheiten im Bundesrat nun nicht mehr vorhanden sind.
Immer weniger „geht“, denn nun fehlen die Mehrheiten.
Der Spielraum für Politik wird noch enger.

Deshalb bleibt vor allem Nachdenklichkeit.
Es gibt keine klaren Wählervoten mehr.
Zwar hat in der Wahl der Wähler „gesprochen“.

Nur: was hat er denn eigentlich gesagt?
Das Bild wird immer schillernder, seit die „Linken“ in die Landtage einziehen – vor allem auf Kosten der SPD, die für sie der erklärte Gegner ist.
Regierungsbildungen werden immer schwieriger.
Die Wahlbeteiligung nimmt ab, die Unübersichtlichkeit nimmt zu.

Nun mag eine insgesamt älter werdende Bevölkerung zunehmend auf die „sichere Karte“ setzen, also auf möglichst breite politische Mehrheiten – das könnte auf  eine Große Koalition in NRW hindeuten;
andererseits drängen insbesondere jüngere und sogenannte „Linke“ auf ein neues politisches „Projekt“: Rot-Rot-Grün.
Wobei niemand sagt, worin denn dieses Projekt inhaltlich bestehen könnte, außer, daß man „schwarz-gelb“ ablöst.
Machtoptionen allein sind noch keine Politik.
Was sollte denn inhaltlich das „Projekt“ für Rot-Rot-Grün sein, außer: Studiengebühren abzuschaffen (was die chronische Unterfinanzierung der Universitäten auch nicht behebt); am Atomausstieg festzuhalten (ein eher „bewahrendes“, also konservatives Projekt, das, inhaltlich gut begründbar, aber dennoch kein wirklich „neues“ Projekt ist).
Was also könnte ein schlagkräftiges rot-rot-grünes „Projekt“ sein?
Es bleibt diffus.
Hinzu kommt die Schwierigkeit mit der gespaltenen Linken:

Im Osten ist sie nach wie vor die Partei der Alt-Kader, die für die zweite Diktatur wesentlich Verantwortung trugen und sich ihrer Schuld nach wie vor nicht stellen. Veranstaltungen wie das 21. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung haben das wieder sehr deutlich gezeigt.
Im Westen ist diese Partei eher eine Art politisches Amalgam aus ehemaligen SPDlern, Gewerkschaftern und Alt-Linken des früheren Westens der siebziger Jahre.
Allein der Umstand, daß diese politische Mischung, die sich ‚“die Linke“ nennt, nun in den maßgeblichen Landtagen sitzt, sagt noch nichts über ihre Fähigkeit, mit hochkomplexen politischen Projekten verantwortungsbewußt umgehen zu können.
Die Schreihälse, denen es vor allem um die Machtoption („Hauptsache, im Landtag!“) geht, müssen ihre politische Weitsicht allemal erst noch unter Beweis stellen.
Sie werden zwar womöglich bald schon die Gelegenheit dazu bekommen, wenn sie – wie in Sachsen-Anhalt -, die Aussicht erhalten, neue Mehrheiten bilden zu können; denn in diesem Bundesland haben sie reelle Chancen dazu, nachdem sie die Oberzentren bei der Bundestagswahl für sich gewinnen konnten (in den Städten Magdeburg, Halle und Dessau leben etwa die Hälfte der Bevölkerung des Bundeslandes).
Doch: selbst wenn es im kommenden Jahr einen „linken“ Ministerpräsidenten geben sollte: er wird mit demografischem Wandel, überaus klammen öffentlichen Kassen und weiter abnehmenden Zuweisungen des Bundes an die Länder angesichts steigender Bedarfe an öffentliche Finanzierung umgehen müssen: viele „Wunschprojekte“ werden sich schlicht nicht finanzieren lassen.

Dies alles geschieht auf dem Hintergrund einer abnehmenden Bedeutung der Nationalstaaten in einem zusammenwachsenden Europa.
Die politische Bedeutung von Landtagen schwindet weiter, so, wie auch die Bedeutung der alten Nationalstaaten in dem Maße abnimmt, wie Europa zusammenwächst.

Gleichzeitig müssen die Parteien mit einem Generationenwechsel umgehen, der an ihre strukturelle Substanz geht:
die traditionelle Wählerbindung nimmt weiter ab, die Gruppe der Wechselwähler wächst, die Zahl der Mitglieder stagniert (im Osten seit 1990 bei etwa 5.000 Mitgliedern pro SPD-Landesverband), Projektgruppen im Internet gewinnen an Bedeutung.
Die Formen der politischen Teilhabe verändern sich dramatisch durch die sozialen Netzwerke.
Blogs und handygestützte Netzwerke werden zum politischen Faktor, der überaus schwer zu „kalkulieren“ ist, weil er nicht mit „Dauermitgliedschaften“ einher geht.

Wohin steuert diese Republik? Wohin steuert Europa?
Bislang ist es nicht gelungen, den viel geforderten politischen Primat z.B. gegenüber Spekulanten an den großen internationalen Börsen wirklich durchzusetzen: eine wirksame Finanztransaktionssteuer hat (noch) keine Mehrheiten. Sie könnte zumindest einen Beitrag leisten, daß Spekulanten einen Anteil an den extrem hohen Kosten aufbringen müssten, die sie dem Gemeinwesen durch ihre abenteuerlichen Spekulationen aufgebürdet haben (allein 720 Milliarden! wurden in der Nacht vereinbart, um den Euro zu stützen!).
Aber die Spekulation auf einen schwachen Euro und womöglich sogar auf eine Inflation geht munter weiter.
Die Typen in Nadelstreifen an den Börsen machen weiter ungestört ihre Spielchen auf Kosten des Gemeinwohls und die Demokratien sind nicht in der Lage politische Mehrheit zu organisieren, um diesem Verhalten einen wirksamen Riegel vorzuschieben.

Selbst wenn die nun tagenden Gremien sich auf ein „rot-rot-grünes“ „Projekt“ verständigen sollten – was heftige Reaktionen hervorrufen würde -, müsste eine solche Koalition mit leeren Kassen, weiter zurückgehenden öffentlichen Finanzen, geringer werdenden politischen Spielräumen und abnehmendem Interesse, sich dauerhaft in politischen Parteien zu organisieren, umgehen.
Manch „Wunschprojekt“ bliebe schlicht unfinanzierbar, weil das knappe öffentliche Geld längst in „Rettungsschirmen“ auf nationaler und zunehmend internationaler Ebene gebunden und verplant ist.
Die Umverteilung von unten nach oben geht munter weiter, ohne daß die Demokratie die Kraft findet, dem ein wirksames Ende zu bereiten.

Deshalb bleibt eher eine Nachdenklichkeit am Tag nach der kleinen Bundestagswahl.
Denn es ist offener denn je, wohin diese Republik insgesamt steuert.

Ein Trend allerdings scheint sich zu verstärken: die „normal“ werdende Zersplitterung in nun fünf Parteien schwächt die politische Kraft der Demokratie noch mehr.
Die Zocker auf der anderen Seite scheinen davon zu profitieren.

Wenn jedoch die Kraft der Parlamente weiter sinkt – und wenn die Macht der Spekulanten weiter wächst:
Wohin steuert diese Republik?