20 Jahre Deutsche Einheit – Ein Rückblick von einem, der seit 1990 dabei war


Gerade komme ich von einem Wochenendurlaub aus Hessen.

Vor 20 Jahren wäre diese Selbstverständlichkeit undenkbar gewesen.

Mich ließ man als „Oppositionellen“ zu Zeiten der Diktatur nicht mal zu Dienstreisen in den „Westen“. Die Zeiten haben sich geändert. Ob sie sich radikal geändert haben, steht dahin, denn durch den Zusammenbruch des früheren Ostblock-Systems entfiel zwar ein einfaches Abwehr-Argument für die Verteidiger der alten bundesdeutschen Ordnung, aber ob das nun geeinte Land und sein gesellschaftlich-politisches System tatsächlich besser mit den globalen, Umwelt- und Sozialherausforderungen umgehen kann, wird sich noch erweisen müssen. So jedenfalls sah es Egon Bahr noch im Wendejahr 1989/1990 bei einer Veranstaltung der FES, an die ich mich oft erinnere.

Was ist es mit der „geteilten Wirklichkeit“? Seit dem Fall der Mauer habe ich in deutsch-deutschen Teams gearbeitet. Seit 1990 bei der FES, seit 1998 im Bundestag, seit 2004 in der Regierung.

Die Zeiten der „Besserwessis“ und „Jammerossis“ habe ich nie so erlebt, wie sie in manchem Zeitungsartikel beschrieben waren. Denn beim genauen Zuhören konnte man auch bei denen, die „ein Jahr länger zur Schule gegangen sind, um Selbstdarstellung zu lernen“ (Westlern) das große Engagement erkennen, das Anfang der 90iger Jahre für den Wiederaufbau der Neuen Länder in ihnen war. Es gab auch welche, die im Westen voraussichtlich beruflich nicht mehr weiter gekommen wären. Gewiss. Für sie war der Osten eine berufliche Chance. Zumal mit „Buschzulage“ garniert. Aber bald schon zeigte sich, ob sie ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen waren.

Mittlerweile gibt es eine ganze Generation von Ostlern, die seit fast 20 Jahren im Westen leben und umgekehrt gibt es eine Generation von Westlern, die an maßgeblicher Stelle, als Bürgermeister, Landrat, Abgeordneter, Arbeitgeber oder Vereinsvorsitzender sich um den Aufbau Ostdeutschlands verdient gemacht haben. Die Unterschiede beginnen, sich zu verwischen. Der Westen ist nicht mehr nur „westdeutsch“, der Osten schon lange nicht mehr nur „ostdeutsch“, gerade die Eliten mischten sich schnell. Am schnellsten ging es in den Unternehmen, aber auch in der Politik. Denn durch den Beschluss der Volkskammer, der alten Bundesrepublik „beizutreten“, kamen Inhalte und Personen in den Osten, die Bewährtes und weniger Bewährtes aus dem Westen nun auch hier einführten und praktizierten. Anfangs liefen die Kopierer heiß: Satzungen, Statuten, Gesetze, Geschäftordnungen wurden von West nach Ost übertragen – oft, ohne die Chance für einen Neubeginn zu nutzen. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in der Bildungsfrage hat das im Lissabon-Prozess, aber auch in der Föderalismuskommission I überdeutlich werden lassen: man hätte die Wende nutzen müssen, um dieses große Hindernis für eine moderne europäisch orientierte Bildungspolitik zu beseitigen. In der „FÖKO I“ aber war es schon wieder zu spät dafür….

So war es in der Wendezeit beschlossen worden: Beitritt des Ostens zum Westen.

Nun allerdings zeigt sich, dass Ostdeutschland in etlichen Bereichen zum Vorreiter, zum „Labor“ für gesamtdeutsche Problemlagen geworden ist: im Städtebau angesichts des demografischen Wandels beispielsweise. In Ostdeutschland bewährte Programme werden nun in umgekehrter Richtung „exportiert“: das Programm „Stadtumbau Ost“ fand sein Pendant im Programm „Stadtumbau West“. Die „Modellregionen Demografischer Wandel“ begannen in Ostdeutschland und finden nun ihre Fortsetzung in strukturschwächeren Regionen Westdeutschlands.

Die Zeiten ändern sich.

Deutschland ist im Krieg. In Afghanistan stehen Soldaten aus Ost- und Westdeutschland in derselben Armee und tun gemeinsam die Arbeit, zu der das gesamtdeutsche Parlament sie geschickt hat.

Mit der Wahl 2009 trat eine weitere Zäsur ein: – mit wenigen Ausnahmen – trat die „Wendegeneration“ ostdeutscher Politiker ab, die 1989 angetreten war, um ein demokratisches Gemeinwesen in Ostdeutschland aufzubauen. Eine neue Politikergeneration geht nun in die Verantwortung.

Mir fällt auf, dass etliche politische Freunde aus der „Wendegeneration“, die in den Aufbaujahren sehr schnell in neue Führungsaufgaben hineinwachsen mussten, zu ihrer alten Nachdenklichkeit zurückkehren, die sie schon vor der Wende ausgezeichnet hat. Mancher meint hinter vorgehaltener Hand noch etwas schüchtern: „Wir sollten mal wieder nach Schwante fahren[2]“.

Wer sich mit offenen Augen die großen Zentren der Welt besieht – und wir hatten ausführlich Gelegenheit dazu – der fragt sich zum Beispiel angesichts der ökologischen Herausforderung, angesichts von Klimawandel und zunehmender Ungerechtigkeit, angesichts von Bankenkrise und moralischem Verfall insbesondere der „Wirtschaftseliten“, was denn am neuen System so überragend besser sein soll als das Bekannte? Ist unsere gemeinsame Ordnung tatsächlich in der Lage, diese Herausforderungen besser zu lösen?

Es ist ungewiss.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass zunehmende Umweltzerstörung, sich beschleunigender Klimawandel, zunehmende Ungerechtigkeit Hinweise sind auf ein lediglich höheres Tempo einer Entwicklung, die, wenn sie nicht gestoppt wird, zur Selbstzerstörung führen kann.

Ich gehörte als Ostler nie zu denen, die in den Westen wollten, weil der Umzug in den Westen mir immer so vor kam, als wechsele man auf einem untergehenden Schiff lediglich vom Kellerdeck an die Bar. Man hatte zwar Reise- und Wahlfreiheit, gewiss. Hohe Güter, die viel zu schnell wieder „verschleudert“ wurden – man sieht es an der Wahlbeteiligung. Aber an der grundsätzlichen materialistisch orientierten Ausrichtung des ganzen „Schiffes“ hat sich nicht viel geändert. Der Westen ist ebenso materialistisch wie es der Osten immer war. Nur eben ist er auch darin effizienter.

Es ist ein interessantes Phänomen, dass in Ostdeutschland 20 Jahre nach der „Wende“ bei Wahlen die alte „Nationale Front“ (frühere SED und CDU) wieder politische Mehrheiten erlangt. Das ist mit „Ostalgie“ allein nicht erklärbar, weil ja mittlerweile eine ganze Generation nachgewachsen und eine andre ausgeschieden ist. Die SPD ist seit zwanzig Jahren strukturschwach – die ostdeutschen Landesverbände oszillieren seit 20 Jahren immer so um die 5.000 Mitglieder, je nach Wahlausgang. Das „Bündnis der 90 Grünen“ – wie wir etwas despektierlich von der anderen „Neugründung“ im Osten sprachen – hat ein ähnliches Problem. Die „Blockflötenparteien“, CDU und FDP haben das Problem in etwas gemilderter Form, weil sie die alten Strukturen übernehmen konnten und so Zeit gewannen, dennoch merken auch sie: Die Parteien ändern sich von Mitgliederparteien zu Kampagnenparteien. Ihre Funktion reduziert sich zunehmend auf die eines Bereitstellungsmechanismus für politisches Personal. Auch dies ist eine Entwicklung, die früh gesehen wurde und die nun zunehmend auch im Westen Einzug hält. Die Zeiten der Mitgliederparteien scheinen zu Ende zu gehen. Diese Entwicklung wird sicher auch getrieben und unterstützt durch soziale Netzwerke, Web 2.0 und andere neue Phänomene, die neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen. Die Formen des Engagements ändern sich: man will nicht mehr Dauermitglied sein, wohl aber ist man bereit, für eine begrenzte Zeit ein konkretes Anliegen zu unterstützen. Der Osten musste das schnell begreifen, der Westen lernt es im Moment.

Ostdeutschland musste manches schneller begreifen, denn der fast totale Zusammenbruch des ökonomischen Systems, der beinahe völlige Neubeginn in Forschung und Lehre zwangen dazu: der Wiederaufbau des östlichen Teils Deutschlands gelang in den Ländern am besten, die von Anfang an auf den Ausbau von Forschung und Technologie setzten. Am weitesten vorn ist Sachsen. Diese neuen ostdeutschen Forschungsstandorte mussten nicht nur im innerdeutschen, sondern sofort auch im europäischen Wettbewerb bestehen. Eine doppelte Herausforderung, die aber – mittlerweile kann man es an den Exportquoten und Umsätzen der erfolgreichen forschungsaffinen Unternehmen ablesen, weitgehend gelungen ist. Manch ostdeutscher Forschungsstandort ist moderner als es westdeutsche Zentren sind.

Allerdings: die neue soziale Frage ist weiter ungelöst.

Ostdeutschland wird mit seinen zwei Rentensystemen, angesichts von enormer Dauerarbeitslosigkeit seit 20 Jahren und angesichts des verstärkten demografischen Wandels (junge gut ausgebildete Leute ziehen in die Wachstumsregionen; ältere Menschen ziehen nach Ostdeutschland) in ein großes Problem hineinlaufen: Altersarmut.

„Der demografische Wandel gefährdet den Aufbau Ost“ – so sagten es meine Fachleute im Ministerium. Dieser Trend der Entleerung ganzer Landstriche beginnt im Osten, aber er setzt sich – so zeigen es alle brauchbaren Prognosen – bis weit in den Westen fort. Es bleibt das große „C“ wirtschaftlicher Prosperität in den Regionen von Hamburg über das Ruhrgebiet bis hinunter nach Stuttgart/München und es bleibt der Ballungsraum Berlin. Dann werden die Städte, die über eine Hochschule verfügen, noch mithalten können. Dann, weiter draußen im Lande, wird es schwierig.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Bundesländer, sich selbst zu helfen, werden sich angesichts der stark rückläufigen Steuereinnahmen durch den demografischen Wandel (Mecklenburg rechnet mit minus 40% in den kommenden zwanzig Jahren!) dramatisch verändern. Das Finanzausgleichssystem nach Ländern wird nicht mehr lange standhalten können, weil die Unterschiede innerhalb eines Landes immer größer werden.

Im vereinigten Europa konkurrieren ohnehin längst nicht mehr Länder gegeneinander, sondern Forschungsstandorte mit der sie umgebenden forschungsaffinen Industrie, die Ländergrenzen verwischen sich weiter. Die Partnerschaften der Universitäten sind oft der Beginn für solche „Wachstumsregionen“, die Ländergrenzen überschreiten. In Aachen kann man es besichtigen, in München ebenso. In den übrigen „europäischen Modellregionen“ – 13 haben wir davon in Deutschland – zeigt sich ein vergleichbares Szenario. Die internationale Verflechtung nimmt zu, stark gepusht von europäischer Gesetzgebung.

Zwanzig Jahre des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus liegen hinter uns.

Was wird in den kommenden 20 Jahren gelingen können?

Die europäische Verflechtung wird weiter an Tiefe gewinnen. Wirtschaftsräume entstehen über Ländergrenzen hinweg. Die Universitäten machen oft den Anfang für diese Entwicklung.

Große Bereiche Deutschlands werden mit zunehmender Armut zu kämpfen haben – der demografische Wandel treibt diese Entwicklung in Ost wie West. Die sozialen Sicherungssysteme gelangen ans Ende ihrer Leistungsfähigkeit.

Deshalb wird die Frage nach den „Standards“ neu zu beantworten sein.

So, wie die Stadt- und Regionalentwickler in Ostdeutschland seit längerem über „Mindeststandards“ sprechen, die der Staat unbedingt vorhalten muss, wenn man nicht die völlige Entleerung einer Region zulassen will, so wird man künftig neu über Sozialstandards sprechen müssen.

Die alte Frage, die uns vor zwanzig Jahren schon umtrieb, damals noch auf der östlichen Seite der mittlerweile gefallen Mauer – die alte Frage: „wie viel ist genug?“ werden wir nun gemeinsam neu beantworten müssen. Die Finanz- und Bankenkrise, der Klimawandel, der Umstand, das mitten in Europa Staaten vor einem Staatsbankrott bewahrt werden müssen – alles dies zwingt mit neuer Energie zu neuen Antworten.

Denn die gravierenden zerstörerischen Folgen einer in allen gesellschaftlichen Bereichen auf ein einfaches, oft auch zweistelliges „Wachstum“ ausgerichteten Gesellschaftsordnung sind unübersehbar geworden und gefährden mittlerweile auch die ökonomische Basis unseres Landes[3].

Hier liegen neue Aufgaben für eine neue Generation.

Wir haben unseren Beitrag dafür geleistet, dass auf dem Gebiet einer Diktatur eine neue demokratische Ordnung wachsen konnte. Vieles ist erreicht, vieles ist noch zu tun.

Nun aber müssen die jungen Europäer, die in Ost- und Westdeutschland in der neuen Generation heranwachsen, ihre Verantwortung tragen.

[1] Ulrich Kasparick war bis 1989 Stadtjugendpfarrer in Jena, 1990 Geschäftsführer des Vereins für Politische Bildung und Soziale Demokratie e.V., dem Vorläufer der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ostdeutschland; seit 1990 stv. Leiter des Landesbüros Brandenburg in Potsdam, seit 1992 Leiter des Landesbüros in Magdeburg; seit 1998 dreimal direkt gewählter Bundestagsabgeordneter, seit 2004 Parl. Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, seit 2005 in selber Funktion im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. 2009 hat er nicht erneut kandidiert und gestattet sich nach zwanzig Jahren Aufbauarbeit nun ein Sabbatical.

[2] Im Pfarrhaus in Schwante wurde am 7. Oktober 1989 die ostdeutsche Sozialdemokratie neu gegründet.

[3] Am Beispiel des Klimawandels am klarsten dargelegt im Stern-Report.

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