Heute gab es einen neuen Textfund: In E. Grählerts Bändchen „Glaube, Liebe, Hoffnung. Eine Liebeserklärung an Zingst“ fand ich einen Text von Bruno Kaiser (1905-1983), der davon berichtet, wie er als junger Forst-Mitarbeiter (Forstmeister in Born war Franz Mueller-Darss) „Anfang des Zweiten Weltkrieges“ junge Häftlingsfrauen aus dem KZ Ravensbrück in Zingst gesehen und auch mit ihnen zusammengearbeitet hat. Ich habe diesen Text heute dem Archiv des KZ Ravensbrück zur Verfügung gestellt, denn das Material über die vielen Außenlager von Ravensbrück ist nach wie vor dürftig. Ich habe den Text durch Anmerkungen in den Fußnoten kommentiert:

Sie winkten noch ein letztes Mal“

In Born war ein Nebenlager des KZ Ravensbrück[1]

Am Anfang des Zweiten Weltkrieges[2] wurde vom Forstamt Darß[3] in Born ein Nebenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück eingerichtet. Auf den Zingst kam ein Trupp Zigeunermädchen[4], die für die Forst arbeiten mußten. So wurden sie auch bei der Schilfwerbung[5] in Pramort, Sundische Wiese und Müggenburg eingesetzt, wo an den Binnengewässern reichlich Schilf vorhanden war. Die Mädchen waren auf dem Osthof einquartiert. Hier hatte ich weiter keinen Einblick, nur daß sie öfter an meinem Hause in Müggenburg vorbeikamen, wenn sie hier am Strom bei der Werbung des Schilfes waren. Wenn ich gerade draußen war, wollten sie immer Tabak von mir haben, den ich ihnen auch gab. Es waren schwarze und auch einige blonde Mädchen darunter. Sie trugen blau-weiß gestreifte Häftlingskleider und Holzklotzen an den Füßen.

Ich war damals Haumeister im Revier Sundische Wiese und mit vier weiteren Waldarbeitern erst einmal „uk“ (unabkömmlich) gestellt. Außer einigen forstlichen Belangen, wie das Auszeichnen, Numerieren, Einteilen der Arbeit usw., war ich sonst zur Mitarbeit in der Kolonne verpflichtet.

Zu Heu- und später zur Getreideernte mußte ich mit den Waldarbeiter-Kollegen zeitlich dort mithelfen.

Eines Tages kam der Traktorfahrer mit dem Anhänger von Born und brachte 15 Zigeunermädchen zur Erntehilfe[6]. Die wurden in der ehemaligen Schule in Sundische Wiese untergebracht[7] und von drei uniformierten Frauen mit je einem Schäferhund[8] und Lederpeitsche bewacht. Zur Arbeitszeit kamen sie mit den Mädchen quer über das Feld zum Westhof. Der damalige Statthalter H. Krawutschke und ich besprachen die vorgesehene Arbeit und teilten danach die Kolonne auf. So wurden z.B. die Kornschläge für die weitere Arbeit mit dem Mähbinder rundherum mit der Sense abgemäht. Jeder Mäher von der Forst hatte dann ein oder zwei Mädchen zum Aufbinden der Garben hinter sich. Beim Aufhocken der Garben hinter dem Mähbinder waren wir dann alle in einer Kolonne. Wenn eingefahren wurde, mußten einige draußen auf dem Hänger laden, die anderen in der Scheune mit abladen.

Die drei Bewacherinnen, die von den Mädchen mit „Frau Aufseher“ angesprochen wurden, streiften immer im Feld- und Hofgelände herum und paßten auf, daß keine ausrückten. Die Hunde waren auf den Arm der Häftlinge dressiert[9]. Sollte sich eine davonmachen, so hielten die Hunde sie am Arm fest[10].
Wir brachten immer ein paar Stullen Brot mehr mit und gaben sie den Mädchen[11]. Auch etwas Tabak zum Zigarettendrehen bekamen sie von uns. Obwohl es streng verboten war, den Mädchen etwas zu geben oder mit ihnen zu erzählen, aber darum kümmerten wir uns nicht. Nach Einbringung der Ernte zog unser kleiner Trupp wieder nach Born.

Kurze Zeit darauf war ich auf dem Bahnhof in Zingst, um Lohngelder in Empfang zu nehmen, die immer ein Bote von der Kasse Stralsund für die Forst und Dünenmeisterei brachte. Der Zug lief, von Prerow kommend[12], gerade ein. Da sah ich mehrere[13] Viehwagen, mit denen die Zigeunermädchen und die Bewachung zurück zum KZ Ravensbrück fuhren. Hinter den etwas geöffneten Türen standen einige, die mit uns zusammengearbeitet hatten. Sie winkten noch ein letztes Mal herüber. Vielleicht sind auch diese jungen Mädchen von den Unmenschen in den Gaskammern umgebracht worden.


[1] Dieser Text erschien „in den siebziger und achtziger Jahren“ in der Ostsee-Zeitung, wie im Vorwort zu lesen ist. Das wiederum bedeutet: in den Dörfern des Darß war man in jenen Jahren darüber informiert, daß es in Born ein KZ-Außenlager gab. Um so erstaunlicher ist es, dass es am „Borner Hof“ und am „Forsthaus“ in Born immer noch keine Gedenktafel für die Häftlinge gibt.

[2] Vgl. dazu Bernhard Strebel. Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes, Schöningh 2003, S. 431: „In Born auf Darß an der Ostsee bestanden unabhängig voneinander drei kleine – teilweise nur vorübergehend bestehende- Außenlager des KZ Ravensbrück. Das erste bestand im Winter 1942/43. Die dorthin verbrachten ca. 60 weiblichen Häftlinge wurden zum Schilfschneiden für die Rohrmattenflechterei der Texled in Ravensbrück eingesetzt. Es handelte sich ausschließlich um Sinti und Roma.
Dass das erste Lager „im Winter 1942/43“ bestand, kann nicht stimmen. Denn der vorgelegte Bericht notiert einmal „Schilfschneiden“ (eine typische Winterarbeit), andererseits aber „Erntehilfe“ in der Heu- und in der Getreideernte, also im Sommer und im Spätsommer.

[3] Forstmeister in Born war Franz Mueller-Darss (1890-1976), seit 1936 Mitglied der SS, ab 1942 „Beauftragter für das Diensthundwesen“ im Persönlichen Stab des Reichsführers SS Heinrich Himmler, 1945 im Range eines Generalmajors der Waffen-SS.

[4] Vgl. Strebel, a.a.O. 431: „Es handelte sich ausschließlich um Sinti und Roma“.

[5] Das Schilf wurde nach Ravensbrück transportiert und dort durch die Firma TEXLED von weiblichen KZ-Häftlingen zu Schilfmatten verarbeitet. Gegen die TEXLED gab es nach 1945 einen Prozess.

[6] Der Transport der in gestreifter Häftlingskleidung zur Arbeit gebrachten Mädchen ging ganz öffentlich vor sich. Jedermann konnte diesen „Hänger mit den Mädchen“ sehen. Nicht nur zum Schilfschneiden, auch zur „Erntehilfe“ wurden die Häftlinge eingesetzt.

[7] Die 15 Mädchen waren in Zingst untergebracht, um nicht täglich den Weg von Born nach Zingst/Sundische Wiese mit dem Traktor fahren zu müssen, was einen ziemlichen zeitlichen Aufwand bedeutet hätte. Der größte Teil der „etwa 60“ weiblichen Häftlinge war offenbar in Born untergebracht.

[8] Das entsprach dem vom der SS vorgegebenen „Schlüssel“ für die Bewachung von Außenkommandos: 1 Hund auf etwa fünf Häftlingsfrauen.

[9] In einigen KZs zogen sich die Hunde-Ausbilder deshalb Häftlingskleidung an, um die Hunde auf die gestreifte Kleidung „scharf“ zu machen. Vgl. Perz, a.a.O.

[10] Die Hunde und die Hundeführerinnen wurden im KZ Oranienburg (Sachsenhausen) in der „SS-Hundeschule“ ausgebildet. Verantwortlich war der SS-Mann Franz Mueller-Darss aus Born. Vgl. umfänglich zum Thema „KZ-Wachhunde“ Bertrand Perz „….müssen zu reißenden Bestien erzogen werden“. Der Einsatz von Hunden zur Bewachung in den Konzentrationslagern. In: Dachauer Hefte 12, 1996 S. 139 f.

[11] Der Verfasser dieses Erinnerungsberichtes, Bruno Kaiser, war vor 1933 Mitglied der KPD. Das könnte ein Hinweis auf die Stichhaltigkeit dieses Details sein. Denkbar ist allerdings auch, dass dieses Detail nach 1945 „nachträglich“ hinzugefügt wurde.

[12] Die Bahnlinie wurde nach 1945 als Reparationsleistung demontiert. Gegenwärtig gibt es Pläne, die Bahnlinie wieder zu errichten.

[13] Die Gruppe der weiblichen Häftlinge war also offensichtlich größer als die der beschriebenen 15 Mädchen in Zingst, sonst hätte der Zeitzeuge nicht „mehrere Viehwagen“ gesehen. Die Angabe „etwa 60“ von B. Strebel könnte also zutreffen.

2 Gedanken zu “Sinti- und Roma-Mädchen als KZ-Häftlinge in Zingst auf dem Darss

  1. Was alles so über eine Land / eine Landschaft hinweggehen kann, ohne ihm / ihr die Unschuld zu rauben. An uns Menschen bleibt alles kleben wie an einer Leimrute. Wir sind Ursache und Wirkung in einem.

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