Wie wird ein ranghoher Offizier der Waffen-SS, der beim Reichsführer SS Heinrich Himmler ein uns aus ging, regelmäßig bei ihm zu Tische saß, der für die Ausbildung der KZ-Wachhunde und der Hunde für die Wehrmacht verantwortlich war, nach dem Kriege zum „unbelasteten Bürger“?
Das hat mich interessiert. Im Staatsarchiv Hamburg fand sich im Juni 2021 tatsächlich unter dem Aktenzeichen 221-11 Z 10370 eine Akte über ein „Berufungsverfahren“ des Franz Mueller-Darss.
Franz Mueller-Darss war 1948 in der britischen Besatzungszone im Entnazifizierungsverfahren in die „Kategorie IV“ eingestuft worden, durfte folglich in öffentlichen Betrieben keine Verwendung mehr finden.
1949 jedoch lag die Sache schon anders: sein Berufungsverfahren unter Führung von Dr. jur. Schackow/Bremen hatte „Erfolg“: Mueller galt nun als „unbelastet“, mehr noch, er galt gar als „Gegner des Nationalsozialismus“.
Wir schauen uns die Details an.

Mueller wird, nachdem er ein paar Monate im Gefangenenlager Neumünster zugebracht hat (etwa von August 1945 bis Januar 1946), in einem Entnazifizierungsverfahren in „Kategorie IV“ der „Kontrollratsdirektive 24 vom 12. Januar 1946“ eingestuft.

Anhand der SS-Personalakte Mueller-Darss, die im Bundesarchiv liegt und hier im blog schon ausgewertet wurde, wird deutlich: Mueller-Darss war seit 1933 bis 1945 Mitglied in der NSDAP; seit 1936 Mitglied in der SS; seit 1942 im Persönlichen Stab Reichsführer SS Beauftragter des RFSS „für das Diensthundewesen“ und zuletzt im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS „Amtsleiter Forsten“. Er hatte den Totenkopfring und einen „Jul-Leuchter“ des Reichsführers SS, ging mit ihm regelmäßig zur Jagd (wie mit anderen SS-Granden auch); hatte im KZ-Außenlager Born (Außenlager von Ravensbrück und Neuengamme) Befehlsgewalt über die KZ-Wachmannschaften; „beschäftigte“ im Borner Forst russische Kriegsgefangene (vier von ihnen liegen in Born auf dem Friedhof) und hielt sich vier Zeuginnen Jehovas als persönliche Häftlingsfrauen im Forsthaus in Born. All das ist aktenkundig und bestens belegt.

Mueller wird 1948 in einem Entnazifizierungsverfahren in der britischen Besatzungszone in Hamburg in „Kategorie IV“ eingestuft, gilt als belastet und gilt als nicht mehr geeignet für eine Beschäftigung in öffentlichen Betrieben.


Mueller sucht sich Anwälte: Dr. jur. Wolfgang Kulenkampff und Dr. jur. A. Schackow aus Bremen. Diese Anwälte konstruieren eine Behauptung: Mueller sei „nicht freiwillig“ in die SS gegangen (die SS-Personalakte zeigt jedoch, daß er sich sogar um eine beschleunigte Aufnahme in die SS bemüht hat!), sondern sei „aus rein dienstlichen Gründen“, wegen seiner „forstlichen Expertise“ „als Verbindungsmann zwischen dem Reichsführer SS (Himmler) und dem Reichsforstmeister (Göring)“ zur „forstlichen Beratung“ von seiner „vorgesetzten Dienstbehörde“ in die SS „abgestellt“ worden. So, als wenn Göring und Himmler eine „Verbindungsperson“ gebraucht hätten.
Diese Behauptung ist schlicht abenteuerlich – aber sie wird Erfolg haben.
Mueller selbst formuliert so:

An dieser hier schriftlich niedergelegten Behauptung stimmt rein gar nichts. Seit 1934 kannte er Göring; er hat ihm mit Hilfe von Professor Otto Firle ein Jagdhaus auf dem Darss gebaut (Firle wird in der Akte als Entlastungszeuge angeführt); mit Görings Hilfe wurde der Darss zum Naturschutzgebiet und zum Staatsjagdgebiet erklärt. Himmler ging ab spätestens 1940 als Jagdgast im Forsthaus Born ein und aus, wie der Dienstkalender Himmlers belegt und Himmler war es auch zu verdanken, daß sein „Spezi“ Mueller-Darss seine Hunde „scharf abrichten“ konnte und vor allem sollte, als die Totenkopfverbände der SS (ehemals die KZ-Wachmannschaften) an der Front gebraucht wurden und Ersatz im Wachdienst der KZs gebraucht wurde. Die Aufgabe der Hunde war es, fliehende Häftlinge „zu zerreißen“ – all das ist umfänglich dokumentiert im Aufsatz von Bertrand Perz „….müssen zu reißenden Bestien erzogen werden“. Der Einsatz von Hunden zur Bewachung in den Konzentrationslagern“, Dachauer Hefte 12, S. 139 ff.
Davon, dass Mueller „als Verbindungsmann“ zwischen Göring und Himmler in die SS gehen „musste“, kann überhaupt gar keine Rede sein. Er wollte beschleunigt in die SS, wurde aufgenommen und machte dank seiner engen Beziehungen sowohl zu Göring als auch zu Himmler eine Blitzkarriere innerhalb der SS.

Deshalb war Mueller nach dem Kriege auch aus guten Gründen zunächst in „Kategorie IV“ eingestuft worden.
Selbst noch in der Berufungsverhandlung am 11. Mai 1949 verlangte der Vertreter des Fachausschusses im Entnazifizierungsverfahren „kostenpflichtige Abweisung der Berufung.“ Aber die Zeiten hatten sich geändert.

Der Berufungsausschuss votiert anders als der Fachausschuss fordert: Mueller wird in die „Kategorie V“ eingestuft, er gilt nun als „unbelastet“. Die dazu gehörende Urkunde liest sich so:

Mueller hat seinen Anwälten die merkwürdigsten „Zeugen“ zu seiner Entlastung beigebracht (die Akte enthält 11 Dokumente).
Zum Beispiel seine langjährige Sekretärin Irmgard Sauer, die allen Ernstes zu Protokoll gab, ihr „Chef“ sei immer und stets „ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus“ gewesen, sie selbst sei zum Dienst beim Reichsführer SS „gezwungen“ worden und ihr „Chef“ habe gar ein „Attentat auf Bormann“ (gemeint ist Martin Bormann, Leiter der Reichskanzlei der NSDAP im Range eines Reichsministers) geplant. Noch abenteuerlicher geht es kaum. Frau Sauers vierseitiger Beitrag wäre eine eigene Untersuchung wert, hier soll nur festgehalten werden, daß sie behauptet, eigenhändig „einen Befehl meines Chefs an die KZ-Wachmannschaften“ in Born geschrieben zu haben, wonach die gehalten seien, die russischen Kriegsgefangenen anständig zu behandeln. In unserem Zusammenhang ist das insofern von Interesse, als damit belegt ist, daß Mueller offensichtlich Befehlsgewalt gegenüber den KZ-Wachmannschaften in Born hatte.
Auch taucht Himmlers Leibarzt Felix Kersten als „Zeuge“ in der Akte auf, der gar behauptet, Mueller habe ihm geholfen „Tausende Juden“ ins Ausland zu schaffen. Sein „Zeugnis“ – beide kannten sich aus dem Persönlichen Stab des Reichsführers SS und von Himmlers Mittagstisch bestens – liest sich wie folgt:

Mueller hat sich für diesen Brief später bei Kersten „bedankt“ und ihm ein ähnliches „Zeugnis“ ausgestellt. Auch hat er gegenüber Herrn Kersten seine Bereitschaft erklärt, „gegebenenfalls auch vor Gericht“ seine Aussage „zu beeiden“. Meineid also. Das war normal in jenen Jahren. Ganoven unter sich: man stellt sich gegenseitig „Persilscheine“ aus. Auf Felix Kersten und seine Behauptung, er habe tausenden Niederländern die Deportation „in den Osten erspart“ – wofür er einen hohen Orden der niederländischen Regierung bekommen hat, obwohl die Sache von vorn bis hinten erfunden war – habe ich hier im blog separat behandelt.

Wie also konnte es kommen, dass Mueller-Darss im Mai 1949 „freigesprochen“ wurde?

Nun, die Briten, das ist mittlerweile umfänglich dokumentiert und untersucht, hatten 1948/49 andere Sorgen, als ehemalige Nazis zu suchen. Ihnen lag vor allem daran, daß ihre Besatzungszone wirtschaftlich wieder „auf die Beine“ kam, denn England hatte, nicht zuletzt als Folge des Krieges, selbst mit massiven wirtschaftlichen Problem zu kämpfen und musste nun auch noch die Bevölkerung im Besatzungsgebiet versorgen. Näheres hat z.B. die Bundeszentrale für Politische Bildung notiert. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (20. 11. 1945 – 1. Oktober 1946) hatte stattgefunden, auch waren schon etliche der Nachfolgeprozesse geführt. Und es war eine Phase eingetreten, in der in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden war, Mitläufer würden strenger gemaßregelt, als die eigentlichen Täter.
1949 waren die Entnazifizierungsbemühungen der Alliierten „abgeschlossen“. Man hatte ohnehin bereits 1947 die Vorgänge in die Hände der deutschen Länder gegeben. 1949 wurden die beiden deutschen Staaten gegründet. Der Kalte Krieg begann und die Geheimdienste begannen mit ihrer Arbeit: Ost gegen West und West gegen Ost. Da war keine Zeit mehr, „alte Kameraden“ zu suchen. Man glaubte, man sei mit der Sache fertig. Bis 1961. Dann kam der Eichmann-Prozess und das Thema „Vergangenheit“ kochte wieder hoch.

Franz Mueller-Darss jedenfalls arbeitete bereits seit 1948 für die „Organisation Gehlen“, die Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes; da war seine Berufung im Entnazifizierungsverfahren noch gar nicht abgeschlossen.
Aber dazu kommen wir noch ausführlich, wenn ich die Akte, die dazu im Archiv des BND liegt eingesehen habe.

Ein Gedanke zu “Entnazifizierungsakte 221-11 Z 10370 Staatsarchiv Hamburg. SS-Generalmajor Franz Mueller-Darss

  1. Erschreckend, wie Unrecht zu Recht werden kann und „Verbindungen“ sich über das Recht stellen. Gemeinschaftlich erträgt es sich offenbar besser Unrecht zu begehen?
    Warum drängen sich mir dabei Parallelen zur Gegenwart auf?
    Oder sind es vielleicht gar keine Parallelen?

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