Haltet ein!


Am Abend dieses Tages schicke ich nun noch diesen Text von Martin Buber.

Der Text stammt von 1957 und ist, wie kann es bei Buber anders sein, hineingesprochen, genauer: hineingerufen in eine konkrete Situation; die der fundamentalen Konfrontation der Blöcke mitten im Kalten Krieg.
Dennoch: was er auf die damalige Situation bezog, gilt in neuer Weise heute, in der sich zuspitzenden Krise, die mit „Klimawandel“; „Bankenkrise“, „wachsender Ungerechtigkeit“ ihre Stichworte gefunden hat.
Damals wie heute geht es um das geschwundene Vertrauen.
Damals wie heute geht es darum, mit Hilfe der Sprache zu einem wirklichen Dialog zurückzufinden, der notwendig ist, um das Gemeinsame gegenüber dem Zerstörerischen zu stärken.
Es geht darum, zu einem wirklichen Dialog, zu einem wirklichen Gespräch zu finden:

Martin Buber
Haltet ein!
(1957)
Es ist höchste Zeit, daß wir Menschen den Politikern unseren Standpunkt klarmachen.
Wir wollen nicht, daß die Menschheit sich selbst zu vernichten beginnt.
Hört auf mit diesem Spiel, bei dem unser aller Leben zum Einsatz kommt und bei dem beide Partner verlieren müssen!
Wir gaben euch die Macht, über die ihr heute verfügt, weil dir dachten, ihr seiet Persönlichkeiten, die immer und unter allen Umständen wissen, was sie tun.
Wir sehen nun ein, daß wir uns getäuscht haben.
Die Spielleidenschaft hat euch der Fähigkeit beraubt, die wahre Natur des Spieles, das ihr treibt, zu erkennen und zu sehen, wohin es führen kann. Ihr kennt euch aus in allen Tricks des Spieles und wandelt sie methodisch ab, aber ihr seid nicht gewahr, daß das Spiel selbst in euren Händen zu etwas anderem geworden ist.
Nun wird das Spiel mit euch gespielt.
Ihr seht nicht ein, daß, wenn ihr jetzt nicht haltmacht, der Moment kommen muß, und dies vielleicht schon sehr bald, wo der weitere Ablauf der Ereignisse nicht mehr von euch abhängen wird und wo es auch nicht mehr möglich sein wird, innezuhalten.
Wir kennen diesen Ablauf aus früheren Erfahrungen – aber selbst die schlimmste jener Erfahrungen wird ein Kinderspiel sein gegenüber dem, was diesmal kommen wird – wenn es kommt.
Diesmal bedeutet das Kriegsspiel Zerstörung aller Länder und Völker – bis es nichts mehr zu zerstören gibt und niemanden, der zerstören kann.
Das Grundgesetz alles Spieles heißt: die Erfolgschance darf nicht kleiner sein als das Risiko. Diesmal wird das Risiko unendlich groß, die Chance eines Erfolges gleich Null sein.
Haltet ein, solgane ihr noch könnt!
Und wenn man uns fragt, was dieses „Einhalten“ im vorliegenden Fall bedeuten soll, so muß die Antwort lauten:
Es hat zu allen Zeiten und überall Interessenkonflikte gegeben, es gibt sie jetzt, und sie werden ausgefochten. Doch ist solchen Streitigkeiten eine Grenze gesetzt – es kommt der Moment, wo ein Kompromiß der einzig vernünftige Ausweg ist.
Darunter verstehen wir keine sogenannte Versöhnung oder Befriedung, sondern ein wohlabgewogenes Abkommen, das vor kommenden Generationen vertreten werden kann, einen Ausgleich der Interessen, der den lebenswichtigen Bedürfnissen der Völker beider Seiten – nachdem die nichtlebenswichtigen zuvor ausgeschieden worden sind – gerecht wird.
Der kritische Moment ist gekommen.
Was zieht ihr Wissenschaftler selbst vor: Gegenseitige Zugeständnisse auf Grund sorgfältiger und fairer Überlegung – oder den ungewollten Selbstmord der Menschheit?“

und in seiner Ansprache anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels führt Buber 1953 aus:

„….Die Krisis des Menschen, die in unseren Tagen kenntlich geworden ist, gibt sich am deutlichsten als Krisis des Vertrauens kund, wenn wir diesen Begriff des Wirtschaftslebens so gesteigert anwenden wollen. Man fragt: Vertrauen zu wem? Aber die Frage enthält schon eine Begrenzung, die hier nicht zulässig ist. Es ist das Vertrauen schlechthin, das dem Menschen dieses Zeitalters immer mehr abhanden gekommen ist. Und damit ist aufs engste die Krisis der Sprache verbunden; denn im wahren Sinn zu einem sprechen kann ich nur, wenn ich erwarten darf, daß er mein Wort wahrhaft aufnehme. ….Dieser Mangel an Vertrauen zum Sein, diese Unfähigkeit zum rückhaltlosen Umgang mit dem Andern weisen auf eine innerste Erkrankung des Daseinssinns hin. Eine der Äußerungsformen dieser Erkrankung, und die aktuellste von allen, ist das, wovon ich ausgegangen bin:
daß ein echtes Wort zwischen den Lagern nicht aufkommt.
Kann solche eine Krankheit heilbar sein? Ich glaube, daß sie es ist, und von diesem meinem Glauben aus spreche ich zu Ihnen. Ich habe keine Beweise für meinen Glauben, ein Glaube ist nicht beweisbar, sonst wäre er nicht, was er ist, das große Wagnis. Statt eines Beweises rufe ich den potentiellen Glauben eines jeden meiner Hörer an, der ihn zu glauben vermag.
Wenn es Heilung gibt, wo kann die heilende Handlung ansetzen? Vielmehr, wo muß die Wesensumkehr beginnen, auf die die heilenden Mächte, die Heilsmächte auf dem Grunde der Krisis warten?
Daß die Völker, die Völkermenschen kein echtes Gespräch mehr miteinander führen können, ist nicht bloß das aktuellste, es ist auch das uns am dringensten anfordernde Phänomen der Pathologie unserer Zeit.
Ich glaube trotz allem, daß die Völker in dieser Stunde ins Gespräch, in ein echtes Gespräch miteinander kommen können.
Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den andern, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten Andern wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiß nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.
Zum Beginnen des Gesprächs sind naturgemäß jene berufen, die heute in jedem Volk den Kampf gegen das Widermenschliche kämpfen.
Sie, die die ungewußte große Querfront des Menschentums bilden, sollen sie bewußt machen, indem sie rückhaltlos miteinander sprechen, nicht über das Trennende hinweg, sondern entschlossen, es gemeinsam zu tragen.
Ihnen entgegen steht der Nutznießer der Völkertrennung, das Widermenschliche im Menschen, welches das Untermenschliche ist, der Feind der werden wollenden Menschheit.

Das Wort Satan bedeutet im Hebräischen Hinderer.
Das ist die rechte Bezeichnung des Widermenschlichen im Menschen und im Menschengeschlecht.
Lassen wir uns von dem satanischen Element darin nicht hindern, den Menschen zu verwirklichen! Erlösen wir die Sprache aus ihrem Bann! Unterfangen wir uns, trotz allem, zu vertrauen!“

Ich füge an diese hier zitierten Worte des großen Denkers Martin Buber nur an:
immer wenn mir jemand einreden will, weshalb (um nur einen der zahlreichen Konflikte zwischen den Völkern zu benennen; man könnte ebenso beispielsweise die weiterhin scheiternden Verhandlungen zu einem wirksamen Klimaschutzabkommen exemplifizieren) das westliche Bündnis beispielsweise in Afghanistan mit Panzerhaubitzen und dergleichen Kriegsgerät einen Beitrag leiste, zur Verständigung zwischen den Völkern beizutragen; immer wenn man ohne Beweis behauptet, „die Taliban“ seien vom westlichen Bündnis aus was auch immer für Interessen zu „bekämpfen“:
dann erinnere ich mich an diese hier zitierten Worte über das wirkliche Gespräch zwischen den Völkern;
an diese tiefen Worte über das wirkliche Gespräch zwischen den Kulturen.

Dieser wirkliche Dialog ist dringender ist denn je.

Denn die Alternative ist die Selbstzerstörung.

(die Zitate stammen aus: Martin Buber. Nachlese. Verlag Lambert Schneider. Heidelberg 1966; S. 228 ff.)

Martin Buber und Dag Hammarskjöld


In Martin Bubers „Nachlese“ (Verlag Lambert Schneider 1966) finde ich heute diesen wunderbaren Text über die Begegnung der beiden Männer und teile ihn wegen seiner Bedeutung:

Martin Buber: Erinnerung an Hammarskjöld.
1962.
Rede für den Schwedischen Rundfunk.

Ich bin ersucht worden, den Hörern des Schwedischen Rundfunks etwas über mich selbst zu sagen.
Da ist es wohl das beste, ich erzähle Ihnen von meinen Beziehungen zu einem großen Sohn des schwedischen Volkes, Dag Hammarskjöld.
Als ich im Frühjahr 1958 Gastvorlesungen an der Universität Princeton hielt, schrieb mit Hammarskjöld, er habe in meinem Buch „Pointing the Way“ meine Reden und Aufsätze über die politischen Grundprobleme dieser Stunde gelesen. „I want to tell you“, schrieb er, „how strongly I have respondet to what you write about our age of distrust and to the background of your observations which I find in your philosophy of unity created ‚out of the manifold'“.
Als wir dann in New York in dem Haus der merkwürdigerweise so genannten United Nations zusammenkamen, zeigte es sich, daß es uns beiden in der Tat um das gleiche ging:
ihm, der an dem vorgeschobensten Posten internationaler Verantwortung stand, und mir in der Einsamkeit eines Geistesturms, der in Wahrheit ein Wachtposten ist, von dem aus man alle Fernen und Tiefen der planetarischen Krisis zu erspähen hat. Daß es uns, sage ich, um das gleiche ging.

Uns beide peinigte gleicherweise die von einem fundamentalen gegenseitigen Mißtrauen durchsetzte Scheinsprache der Vertreter von Staaten und Staatengruppen, die in der unveränderlichen Rolutine aneinander vorbei zu den Fenstern hinausreden.

Wir beiden hofften, wir beiden glaubten daran, daß doch noch zur rechten Zeit vor der Katastrophe treue, ihrer wahren Sendung treue Vertreter der Völker miteinander in ein echtes Gespräch, in eine echte Verhandlung treten würden, in der es sich in aller Klarheit ergeben müßte, daß die gemeinsamen Interessen der Völker noch stärker sind als die einander entgegengesetzten.
Eine echte Verhandlung, in der es sich ergeben müßte, daß ein Zusammenwirken – ich sage nicht: „eine Koexistenz“, das ist nicht genug, ich sage und meine trotz all der ungeheuren Schwierigkeiten:
eine Kooperation dem gemeinsamem Untergang vorzuziehen ist.

Denn es gibt kein Drittes, nur eins von beiden: gemeinsame Realisierung der großen gemeinsamen Interessen oder das Ende all dessen, was man auf der einen und auf der anderen Seite die menschlichte Zivilisation zu nennen pflegt.

Damals, im Hause der „Vereinigten Nationen“ einander gegenübersitzend, erkannten wir beide, Dag Hammarskjöld und ich, was es im Grunde war, das uns miteinander verband.
Aber ich spürte, ihn anschauend und anhörend, noch etwas, das ich mir nicht zu erklären vermochte, etwas Schicksalhaftes, das irgendwie mit dieser Weltstunde, mit seiner Funktion in dieser Weltstunde zusammenhing.

Bald darauf, im Juni 1958, legte er in einer Dankrede an der Universität Cambridge, die ihm das Ehrendoktorat verliehen hatte, Zeugnis für unsere Gemeinsamkeit ab, indem er mit besonderer Betonung einen großen Teil der Ansprache vorlas, die ich 1952 in New York gehalten hatte, und zwar den Teil, dessen Gegenstand die Bekämpfung des allgemeinen existentiellen Mißtrauens war.

Im Januar 1959 besuchte mich Hammarskjöld in Jerusalem.
Im Mittelpunkt unseres Gesprächs stand das Problem, das mich im Lauf meines Lebens immer wieder beansprucht hat:
das Scheitern des geistigen Menschen in seinen geschichtlichen Unternehmungen.
Ich exemplifizierte es an einem der höchsten uns bekannt gewordenen Beispiele: an dem Mißlingen von Platons Versuch, in Sizilien seinen Staat der Gerechtigkeit zu begründen.
Ich empfand, und Hammarskjöld, das war mir gewiß, empfand es wie ich: auch wir waren Empfänger jenes Briefs, in dem Platon von seinemn Scheitern und von seiner Überwindung dieses Scheiterns erzählt.

Im August 1961 schrieb mir Hammarskjöld über seine Eindrücke vom Lesen einiger meiner philosophischen Werke.
Er wolle, schrieb er, eins dieser Bücher ins Schwedische übersetzen: „so as to bring you closer to my countryman“, fügte er hinzu und fragte noch an, welches Buch ich dafür für das geeignetste halte.
In meiner Antwort empfahl ich ihm, das Buch „Ich und Du“ zu übersetzen.
Er ging sogleich an die Arbeit.
In dem Brief, in dem er mir darüber berichtete, bezeichnete er das Buch als „key-work“, decisive in its message.

Ich erhielt jenen Brief eine Stunde, nachdem ich am Radio die Nachricht von seinem Tode gehört hatte.
Wie mir hernach berichtet worden ist, hat er noch auf seinem letzten Flug an der Übertragung von „Ich und Du“ gearbeitet.“

(a.a.O. S.33-36).

Ich wünschte mir in diesen Tagen der Weltkrise, das wir anknüpfen könnten an jenem Gespräch über das Mißtrauen zwischen den Völkern und die Notwendigkseit sähen, unsere Welt als ein gemeinsam zu verantwortendes zu begreifen.

„Denn es gibt kein Drittes, nur eins von beiden:
gemeinsame Realisierung der großen gemeinsamen Interessen oder das Ende all dessen, was man auf der einen und auf der anderen Seite die menschlichte Zivilisation zu nennen pflegt“.

Beide Männer, Buber und Hammarskjöld, waren „Stilleerfahrene“. Sie kamen beide vom Hören des Wortes her. Sie kamen beide vom Dialog, von der wirklichen Begegnung.
Ich bin im Buch deshalb auf beide Männer eingegangen. Sie sind zu Weggefährten geworden:

http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=339747

Vertuschung – was Farbtöne lehren können


Heute experimentiere ich mit Farben: Aquarell. Öl. Wasser. Papier. Pinsel.

Und Fotografie.

Die Dinge verändern sich, obgleich sie sich eigentlich gar nicht verändern.

Die Sicht auf die Dinge aber ändert sich, je mehr Bearbeitungsschritte ich hinzufüge.

Ein interessanter Prozess beginnt.

Ausschnitte sehen anders aus, als die Gesamtheit.

Kontraste verändern sich.

Linien.

Farbtöne.

Die Farben werden zu einem Bild, das zu leben beginnt.

Das Bild selbst verändert meine Sichtweise.

Ruft neue Reaktionen hervor.

Ich spüre: Man könnte die Dinge auch ganz anders betrachten.

Dieser Prozess wird zum Lehrstück für die Art und Weise, wie wir die Welt sehen.

Das Bild, das wir von ihr haben, ist nicht das endgültige Bild.

Es hängt von der Sichtweise ab.

Männergeschichten


Es ist ein merkwürdiges Fest. „Himmelfahrt“. Volkstümlich „Männertag“.
Ich bin nie mitgezogen in diesen Männergruppen, die, merkwürdig gekleidet, ausgestattet mit diversen Hupen, Klingeln, Stöcken, Hüten – und vor allem Flaschen – sich auf den Weg machen, um zu wandern und viel zu trinken.
Es waren mir immer irgendwie verdächtige und merkwürdige Gestalten, die da loszogen.
Im Dorfe meiner Kindheit fuhr man mit dem Pferdewagen, geschmückt mit frischem Maigrün, zu einem Fest ins Nachbardorf. Ein Posaunenchor ist auf einem der alten Fotos abgelichtet, die ich aufbewahrt habe aus diesen frühen Tagen der Kindheit.
Ich kann mich noch an die Enge auf dem Wagen erinnern, an die Holzbänke, auch an die Lieder, die gesungen wurden.
„Schmückt das Fest mit Maien“ oder „Geh aus mein Herz und suche Freud“.

Bilder aus der Jugend: die besoffenen Männer, die schon gegen die Mittagsstunde hilflos irgendwo im Gebüsch lagen. „Na, ein toller Feiertag ist das!“ pflegte meine Mutter zu kommentieren und es konnte passieren, daß Vater ausgerechnet an diesem Tag sich mal wieder um eine seiner „Schnapsdrosseln“ bemühen musste, um die er sich kümmerte. Arbeit mit Alkoholikern.
Am Männertag sind sie besonders gefährdet.

Später hat mich die Frage erreicht, was denn diese Männer eigentlich „herunter schlucken“ wenn sie soviel saufen an „ihrem“ Feiertag?
Männer schlucken viel.
Vor allem schlucken sie Gefühle herunter.
Sie sind so erzogen. Nun sind sie so.
Sie schlucken.

Viele jedenfalls.
Eine Hilflosigkeit wird sichtbar an diesem „Feiertag“. Eine Hilflosigkeit, wie man denn richtig feiern könnte.
Ohne Alkohol scheint „es“ irgendwie nicht zu gehen.
Auch bei der Sauferei gehen die Hahnenkämpfe untereinander weiter. Wer wohl am längsten durchhalten kann bei der Sauferei? Wer wohl am längsten am Tisch sitzen bleibt oder am längsten noch alleine laufen kann?
Irgendwie ist es nicht wirklich fröhlich, dieses Fest.
Traurige Gestalten sind es, die da an mir vorbeiziehen. Sie werden einen dicken Schädel haben, wenn sie wieder munter werden nach dem Gelage.
Es gibt etliche Familien in diesem Lande, die gerade am heutigen Tage mit Angst und Sorge auf den Abend blicken, wenn Vater wieder mal besoffen nach Hause kommt.
Es ist ein Tag, in dem viel Gewalt stattfindet in den Familien.
Schläge gibt es. Zornige Worte. Einsamkeiten.

Ein solcher „Männertag“ schmeckt irgendwie schal wie ein abgestandenes Bier.
Ich höre aus manchem offenen Fenster gegen Abend eines solchen Tages brüllende Männer und keifende Frauen.
Kinder höre ich kaum. Sie sind still.
Die Angst hält ihnen den Mund zu.

Auf einer zweiten, tieferen Ebene klingt dieser Tag nach Sehnsucht.
Da schwingt eine Sehnsucht vieler Männer in diesem Tag, daß sie endlich mal was „für sich“ tun könnten. Wenigstens an diesem Tag im Jahr.
Mal wieder „mit den Kumpels“ losziehen, mal ohne Frau und Kind, einfach nur so, mit „guten Freunden“.
Eine Sehnsucht schwingt da mit, daß sie wenigstens mal an diesem Tag „frei“ sein könnten von der „Familie“, frei von etwas, das sie als „Last“ empfinden.
Die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen ist eben leider immer noch sehr oft so, daß sich die Männer um das Einkommen der Familie und das „Haus“ kümmern.
Sie bauen die Häuser; sie schuften bis zum Umfallen.
Sie liefern das Erarbeitete „für die Familie“ ab und sie wissen oft gar nicht was es bedeuten könnte, einmal etwas „für sich“ zu tun.
„Mal wieder mit den alten Kumpels losziehen“, so wie jedes Jahr; vielleicht.
Am Männertag.
Dann ziehen sie los und können doch nichts loswerden von ihrer inneren Sehnsucht nach Nähe und Berührung. Denn sie können nicht darüber sprechen. Man hat es ihnen abgewöhnt und später hatten sie es verlernt. Sie kennen ihre inneren Bedürfnisse kaum noch.
Sie können nur „tüchtig“ und „erfolgreich“.
Sie können nicht „schwach“ und „hilfsbedürftig“.

Es sind Gefühle von Überforderung, von unmäßigem Leistungsdruck, von ungestillter innerer Sehnsucht; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, von Anlehnungsbedürfnis und vielleicht auch ein versteckter Wunsch nach Kreativität, die da am „Herrentag“ so viele tausend Mal heruntergeschluckt werden, wenn die Kerle, laut singend und hupend und bimmelnd, immer die selben Lieder singend, durchs Land ziehen, um sich nach und nach zu betrinken.

Es ist ein seltsames Fest.

Wenn ich mich ein wenig in der Literatur umschaue und über dieses „Fest“ nachlese, begegnet mir mythisches Denken:

„Der Versuch, aus eigenen Kräften zum Sitz der Götter aufzusteigen, steht in Mythen und Redensarten für Unmögliches und Vermessenheit. Dennoch befähigt göttliche Hilfe (Wind, Wolke, Flügel, Engel) Garanten von Wissen (ältestes Beispiel der sumerische König Enmeduranki) zu vorübergehender Himmelfahrt. In jüdischen Apokalypsen werden alttestamentarische Gestalten dem himmlischen Milieu anverwandelt und so in kosmische und jenseitige Geheimnisse eingeführt. Verwandt sind Jenseitsreisen bei Plato, Plutarch u.a. ‚Die Hakhalot-Literatur schreibt Rabbinen solche Himmelfahrten zu und gibt praktische Anweisungen für den Nachvollzug, wie auch die sogenannte Mithrasliturgie, bei der die Magier in die Sonne eindringt, um den größten Gott zu befragen. Die islamische Tradition interpretiert Sure 17,1 des Koran als Versetzung Muhammads nach Jerusalem, von wo er auf einer Leiter, einem Flügelroß o.ä. Paradies und Hölle erkundet. Da eine solche Himmelfahrt oft in Traumvisionen oder „außerhalb des Leibes“ erfolgt, hat man die Ekstase der Schamanen damit verglichen. “ (Religion in Geschichte und Gegenwart, Mohr Tübingen, 200; S.1746 f.)

Während ich das lese, ahne ich, daß das Verhalten vieler Männer an „ihrem“ Tag vielleicht mit diesem uralten und vergeblichen Versuch zu tun hat, „aus eigener Kraft“ den „Himmel“ zu erreichen.
Denn dieser Tag, an dem man sich in Gesellschaft anderer Männer häufig einfach nur betrinkt, um „endlich mal gelöst“ zu werden, verbirgt ja vielleicht die Sehnsucht danach, ohne eigene Leistung und Kraft „in den Himmel“ zu kommen.
„Mal wieder richtig ausspannen“; „mal nichts leisten müssen“; „mal wieder richtig feiern“ – vielleicht verbirgt sich in einer ganz tiefen mythologischen, aber gerade deshalb überaus wirksamen Schicht unserer Seele diese geheime Sehnsucht.

Dann hätte der Feiertag der „Himmelfahrt“ vielleicht auch für Männer wieder seinen alten – und überraschend aktuellen – Sinn: nämlich, ein Leben zu versuchen und zu feiern, daß sich nicht aus Leistung, aus Tüchtigkeit und Anstrengung erklärt, sondern sich dem „unverdienten“ Geschenk des Lebens verdankt?

Vielleicht wird Mann auf einem solchen entspannten, fröhlichen und dankbaren Wege eher „in kosmische und jenseitige Geheimnisse eingeführt“, als wenn er es über Tüchtigkeit, Anstrengung und Leistungsbereitschaft versucht?

Fröhliche Himmelfahrt, Männer!

Bautzen-Forum II: Wenn der Geheimdienst die Seelen zerstört


13.30 Uhr Fortsetzung. Podium: Moderation: Michael Beleites (Leiter der Gauck-Behörde Sachsen).

“Formen und Folgen von Willkür und Gewalt im kommunistischen Herrschaftssystem”

Dr. Doris Denis, Spezialistin für posttraumatische Störungen; berichtet anhand eines Einzelschicksals eines 55jährigen Mannes, der vor 25 Jahren traumatisiert worden war, über Details dieser schweren seelischen Folgen von Knasterfahrungen und die Möglichkeiten, ihm therapeutisch zu helfen.

Sind Folgen von Haft behandelbar?
Ja. Was sind Beschwerden? Posttraumatisches Belastungsstörung: Wiedererleben; Gerüche, Geräusche, Schlafstörungen, hohe Reizbarkeit in der Familie;
konkretes Fallbeispiel. Heute 55; mit 18 im Knast wegen Republikflucht; Schlafentzug in der sechswöchigen U-Haft; 72 Stunden ununterbrochen befragt; Dunkelzelle; Schläge; psychischer Druck mit der herzkranken Mutter; Stehkarzer dunkel; nach 6 Wochen Verurteilung zu 18 Monaten; in d er Haft setzt er sich für Mithäftlinge ein, bekommt dafür Arrest, wird mehrfach von den Wärtern vergewaltigt (Haftzeit: 70iger Jahre). Nicht die Regel, aber auch kein Einzelfall.
Symptome: seit der Haft: ständige Anspannung; bei jede Klingeln und Türklopfen; geht nur in Begleitung der Frau aus dem Haus; fühlt sich schnell beobachtet; beginnt zu zittern und zu schwitzen; Alpträume; Wenn er im Fernsehen Gewalt sieht, muss er aus dem Zimmer; braucht stunden, um sich wieder zu erholen; versucht, sich von Sex frei zu halten, weil es ihn belastet; Partnerschaft leidet darunter; unter Männern fühlt er sich sehr unwohl; fürchtet, dass man ihm ansehe, dass er vergewaltigt worden sei;
er war 18, als er im Knast war. Kann man so einem Mann helfen?
25 Jahre lange Folgestörungen?
Kann man so einem Mann helfen?
Ja, man kann.
60 therapeutische Sitzungen über 2 Jahre; keine Albträume; gute Sexualität; keine Schuldgefühle mehr; besserer Schlaf; Erinnerungsbilder an die Haft wurden schwächer;
was war in der Therapie passiert?
Anfangs Informationen, warum ihn die Bilder nicht losließen und was er tun konnte für sich.
Er verstand, dass er sich in einer anderen Art und Weise zu erinnern als bisher.
Er lernte, Erlebnisse auszusprechen und zu benennen.
Es war sehr schmerzhaft, aber es erleichterte ihn.
Er erzählte zum ersten Mal den Geschwistern von seiner Haft und bekam ermutigende Antworten.

Er lernte, sich außerhalb der Wohnung zu bewegen.
Positive Bilanzen wurden verstärkt.

Er lernte Schritt für Schritt.

Er musste lernen, dass die alten Gefühle heute nicht mehr gefährlich sind.

Das war nur möglich weil Herr M. den Mut hatte, sich auf einen neuen Weg zu begeben.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Formen von Gewalt und bestimmten Folgen dieser Gewalterfahrung? Macht es einen Unterschied, ob jemand wegen seiner Herkunft oder wegen seiner aktiven Rolle verfolgt wurde?
Antwort: Man kann unterscheiden. Alle Formen der Verfolgung können zu psychischen Folgen führen. Aber: Knasterfahrung bleibt etwas Besonderes. Es macht einen Unterschied, ob ich politisch aktiv war und deshalb verfolgt wurde, oder ob ich eher “passiv” die Repression ertragen musste. Wer aktiv war, findet eher einen “Sinn” in der Repression und kann mit de Folgen eher besser umgehen.

Dr. Sandra Pingel-Schliemann; Spezialistin für „Zersetzungsmaßnahmen“ der Stasi, die sie seit 1976 als „neue Maßnahmen“ einsetzte.

Die Dimension der Zersetzungsmassnahmen ahnte ich anfangs nicht. Starke posttraumatische Belastungsstörungen auch bei Zersetzungsopfern; nicht nur bei Menschen, die im Knast waren.

Ging es der Stasi auch um eine “Bestrafung ohne Urteil”?
Ja. Maßnahmen zielten darauf ab, Lebenskrisen hervorzurufen, vor allem im privaten Bereich. Die Zersetzung war politisch intendiert, spielte sich aber vor allem im privaten Bereich ab.

Können Sie Beispiele für “Zersetzung” nennen?

Mielke hat 1976 die Richtlinie 1/76 eingeführt, in der zum ersten Mal “Zersetzungsmaßnahmen” für die Stasi normiert wurden. Honecker wollte damals außenpolitisch anerkannt werden. Es war nicht mehr so einfach, politische Gegner einfach zu verhaften. Also ist im MfS eine neue “Strategie” entwickelt worden: man ging verdeckt gegen politische Gegner vor. Diese “Zersetzungsmaßnahmen” sollten so umgesetzt werden, dass nicht erkennbar ist, wer der Urheber der Eingriffe in Biografien ist. Das unterscheidet sie von Folter, Haft und Tötung, denn sie ist anonym umgesetzt, sie war sehr persönlichkeitsorientiert; sehr aufwändig.
Die Stasioffiziere waren oft wochenlang mit der Erarbeitung neuer Pläne für Zersetzungsmaßnahmen befasst und sie brauchten eine großes Netz von Menschen, die mit ihnen kooperierten.
Politische Verurteilen gingen in den 70igern zurück; Zersetzungen nahmen zu.

Z.B. Beispiel:

Schweriner Kinderärztin in der Friedensbewegung, u.a. eine der Freundinnen wurde als IM verdächtigt, dadurch zerbrach die Freundschaft; Gerüchte, sie sei fachlich nicht kompetent; OV “STellvertreter”; MfS nahm Einblick in die Krankenakte und fand heraus, dass sie manisch depressiv sei.
MfS besorgten sich Nachschlüssel für die Wohnung und verstellten wochenlang Gegenstände in der Wohnung.

Der Krankheitsbefund der Ärztin hat sich verschlechtert, politisch zog sie sich zurück und nahm sich 1989 das Leben. Das MfS hat in diesem Fall nicht aufgehört, die Zersetzungsmaßnahmen einzustellen, obwohl sie selbst immer wieder notiert haben, dass die Frau längst politisch aufgehört hatte zu arbeiten.

Dr. Udo Grashoff, Historiker. Befasst sich mit den Selbsttötungen in der DDR.

Gab es politische Ursachen für die hohe Zahl der Selbsttötungen?
Wenn man international vergleicht, dann sieht man, dass die DDR ein Land war, das bei internationalen Vergleichen immer bei den Spitzenwerten in Bezug auf die Selbsttötungen lag. Hat das etwas zu tun mit der Diktatur, mit der permanenten Unfreiheit?
Das war die Ausgangsfrage der Untersuchung.

Ist die Selbsttötungsrate ein Indikator für die verborgene Repression in der Diktatur?

Man muss die Qualität der Statistiken prüfen. Die Selbsttötungsstatistiken waren relativ genau, aber streng geheim. Man musste diese Statistiken nicht fälschen, weil sie nur sehr wenige Menschen kannten.

Wie kriegt man die Motive heraus, die die Menschen zum Suizid trieben? Immerhin nahmen sich 5. – 6.000 Menschen pro Jahr das Leben.

Die SED hatte eine eigene politische Kriminalpolizei bei der Stasi. Diese untersuchte alle diese Todesfälle, die in irgendeiner Weise mit politischen Gründen zu tun hatten.
Sie haben nur etwa 1% von den 5.000 untersucht.
Von diesen 1% sind nur ganz wenige politisch motiviert. Die meisten sid Selbsttötungen von Stasileuten, Angehörigen des Staatsapparates etc, die sich in den allermeisten Fällen aus persönlichen Gründen getötet haben.
Dann hat er einen anderen Weg in der Untersuchung versucht:
Er habe versucht, den entgegengesetzten Weg zu gehen: über die Betroffenen. Im “Stacheldraht” Betroffene gesucht.
Interviews mit Angehörigen.
Es gibt eine große Überlieferung im Bereich der Volksbildung in Bezug auf Selbsttötungen von Schülern und Kindern.
Etwa in 100 Fällen konnten die Bedingungen rekonstruiert werden.
In fast allen Fällen war der politische Aspekt nur ein Teilaspekt; meistens hatten die menschen auch andere Probleme, es kam eins zum andern. Der politische Konflikt war vielleicht der Hauptkonflikt, aber nicht der einzige.
Ergebnis: der Einfluss der Stasi auf die Häufigkeit von Selbsttötungen ist vermutlich in der Vergangenheit wohl überschätzt worden.

Aber: wenn man sich besondere Gruppen ansieht, verändert sich das Bild.
Es gab in der Geschichte der DDR bestimmte Situationen, in denen bestimmte Gruppen unter besonderen Druck kamen.Zwangskollektivierung

Allerdings gibt es nicht viele Beispiele, wo man diese Zusammenhänge nachweisen kann.

Teilstudie zu den Gefängnissen der DDR:
große Überraschung: die Häufigkeit der Suizide war nicht besonders hoch.

Drei bis viermal höher ist die Häufigkeit in westdeutschen Gefängnissen!
Hauptgrund: die Überwachung der Gefängniszellen war im Osten anders als im Westen. Die an Folter grenzende Überwachung der Häftlinge führte dazu, dass es in den DDR Gefängnissen eine sehr niedrige Selbsttötungsrate gegeben hat. Dennoch gab es eine hohe Rate an Verzweifelten, die sich gern das Leben genommen hätten.
Jeder fünfte Untersuchungshäftling der Stasi hat es versucht, aber keinem ist es gelungen, wegen der Überwachungsmaßnahmen.

Nachfrage: Psychoterror gehört zum Repertoire der Stasi. Gibt es in der Gruppe der OVs eine erhöhte Suizidrate?

Antwort: ich weiß nicht, wie viele Leute, die in OVs bearbeitet wurden, sich das Leben genommen haben. Ich weiß nur, es waren wenige. Dass jemand von der Stasi in den tod getrieben wurde, erscheint aus meiner sicht als seltener Einzelfall.

Er habe 1.400 Fälle durchgesehen. Einen vergleichbaren Fall wie den aus Schwerin geschilderten habe er nicht gefunden.

Wenn man mit Angehörigen redet, kann man beobachten: es gab noch eine ganz andere folge der Diktatur: das Leiden der Angehörigen.

Es war ohnehin schon schwer, über Suizid zu reden, um so mehr, wenn er etwas mit politischen Konflikten zu tun hatte.

Manche Angehörigen suchen nach Antworten und reagieren: “Vielleicht hat sich mein Angehöriger nicht von sich aus das Leben genommen, sondern ist von der Stasi dahin getrieben worden.” Wenn man die Fälle aber überprüft, lässt sich das nicht nachweisen.
D.h.: Angehörige wollen “die Wahrheit” manchmal gar nicht wissen, sondern sie brauchen Hilfe.

 

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk (Historiker, Gauck-Behörde Berlin)

Die Diktatur gab es für 4 Jahrzehnte. Die jüngeren kannten den Terror der Frühphase nicht mehr. Viele Opfer sind dreimal erniedrigt worden: als sie enteignet wurden; als sie jahrelang nicht darüber sprechen durften; und dann in den 90igern, als die Gesellschaft nicht angemessen reagierte.
Man muss bedenken, dass es viele Formen der Gewalt in der Diktatur gab: das Verbreiten von Angst (offener Terror in den Anfangsjahren); aber subtiler in den Folgejahren. Von dieser Atmosphäre der Angst waren alle (auch Polizei und Militär) betroffen. Gewalt und Willkür bezieht sich nicht nur auf Stasi, Armee etc. sondern dazu gehören auch Bildungswesen, Medien.

Zwei Gruppen von Opfern:
a) welche, die aus “objektiven Gründen” (vom sozialen Hintergrund, als Eigentümer; aus dem “falschen Elternhaus” etc.) zu Opfern gemacht wurden.
b) politische Akteure, die auf Grund ihres Widerstandes in die Lager und Gefängnisse kamen.

Nachfrage: es gab verschiedene Formen der Willkür. Es gab aber auch immer Widerstand. Ist die Repression erfolgreich gewesen? Ist sie immer gleich erfolgreich gewesen?

Antwort:

Man muss unterscheiden vor 1961 und danach.

Vorher war die Repression offener. Auch Widerstand und Opposition waren von prinzipieller und fundamentalerer Ausrichtung gekennzeichnet. Vor 1961 konnte man sich viel leichter einer Verhaftung entziehen.

Nach der Mauer wurde das schwieriger. 1973 Einzug der DDR in die UNO; KSZE Schlussakte; alles hatte innenpolitische Folgen: die Stasi verfeinerte ihre Methoden.

Der Mauerbau war nicht nur herrschaftsstabilisierend, er auch das Widerstandspotenzial verändert, denn er machte 17 Millionen zu “Insassen”.

Wenn der Westen z.B. in den Tagen des jährlichen Jubiläums über den 17. Juni berichtet hat, dann ist automatisch im Osten der Widerstandsgeist gestiegen. (Einfluss der Westmedien auf den Osten).
Berichtete das Westfernsehen nicht darüber, dann passierte in der DDR weniger (um den 17. Juni herum). Das gibt auch einen Hinweis auf die Verantwortung des Westens für das, was im Osten geschah: man musste informieren, über das, was im Osten vorging, weil es sonst keinen anderen “Kanal” gab.

Wenn ich mich frage, was ich jetzt, vor der Kaffeepause, innerlich erlebe, dann fühle ich Trauer.
Es ist viel unbewältigtes Leid in diesem Raum. Ich kann diese große Trauer fühlen. Und meine eigene Trauer über diese schweren Lebensjahre, die schon so lange hinter mir liegen.

Viel Kluges und Nachdenkliches ist gesagt worden. Innere Bilder sind wieder in mir aufgestiegen. Szenen aus einem gelebten Leben.

Junge Historiker, Psychologen, Therapeuten und Statistiker befassen sich nun mit meinem Leben.

Viel Richtiges ist gesagt worden.

Aber das Gefühl im Moment ist Trauer.

Sie haben uns ziemlich übel mitgespielt, die Kommunisten. Vieles haben wir geahnt, vieles nicht gewusst. Aber wir haben es gelebt, dieses verdammte Leben in der Diktatur.
Ich höre Systematisches und Grundsätzliches von den Vortragenden.  Ich aber: ich sehe Gesichter, höre Stimmen.
“Die Wahrheit” ist eben sehr individuell und persönlich.
Johannes Bobrowski fällt mir wieder ein. Er hat die “zerschossenen Dörfer wieder hingestellt” in seinen Texten. Vielleicht ist ja so etwas auch nötig von der Lebenszeit aus der ollen DDR.

Koalieren mit den Erben der Diktatur?


21. Bautzen-Forum FES Büro Leipzig 6.-7. Mai 2010
6. Mai

Schon beim Frühstücksgespräch an meinem Tisch beginnt es. Ich rede mit Herrn Dieter Rother (Vom sowjetischen. Militärtribunal 1950 wegen “konterrevolutionärer Propaganda“ verhaftet, 4 Jahre Zuchthaus Bautzen I). Er erzählt mir, er habe sich gestern den Knast angesehen, in dem er als 19-jähriger für 3 Jahre gesessen hatte. Er hatte als Jugendlicher Parolen an die Wände gemalt und war verurteilt worden. Er kennt Menschen, die hatten Schuhe aus dem Russen-Magazin geklaut “in den schlechten Jahren.” “Man hat sie nicht verurteilt zu 3 Monaten auf Bewährung, wie man erwarten könnte, sondern zu 25 Jahren Gefängnis” erzählt Rother, der morgen mit mir im Podium sitzen wird.

Gebürtig in Frankfurt/Oder macht er sich heute “zunehmend” Vorwürfe wegen seines Handelns damals, denn “meine Mutter wusste ein Vierteljahr lang nicht, wo ich bin”. Die “Sekundäropfer” melden sich.
Für mich ist es interessant, wie Menschen, die selbst Opfer der Willkür der Diktatur waren, durch die Entwicklung von Schuldgefühlen versuchen, mit diesem Schicksal umzugehen.

Ich erinnere mich noch, wie wir bei der FES in der Wendezeit mit dem Bautzen-Forum anfingen: Gustav Just, der „Vater der Brandenburgischen Verfassung“ und Vater meines früheren Kollegen Martin Just, hatte uns darum gebeten, dieses Forum für die Opfer der Diktatur einzurichten. Holger Börner hatte sofort verstanden, um welche Dimension es geht.

Es sind viele traurige Lebensgeschichten hier im Saal versammelt. Traumatisierungen werden erkennbar.

Begrüßung Mattias Eisel, Leiter FES Leipzig

Erinnert an den Gefangenenaufstand von 1950 (60-jähriges Jubiläum).

Harald Möller, Vorsitzender des Bautzen-Komitees

Dank an die FES und an “Stiftung Aufarbeitung”; Foren sind wichtiges Instrument zur Aufklärung geworden; erinnert an die Tage der Aufstände 13. und 31. März 1950 im “Gelben Elend” in Bautzen; Zeitzeugen Walter Kempowski, Wolfgang Hardegen; “viele leiden noch heute an den Folgen der Haftbedingungen; viele können heute noch nicht nach Bautzen reisen, weil sie noch immer traumatisiert sind; nur noch wenige können als Zeitzeugen danach erinnern – eine wachsende Aufgabe für Historiker“;

Sabine Friedel, MdL für die SPD

Sie habe 15 Jahre in der DDR gelebt als Jugendliche;  warum ist die Frage “war die DDR ein Unrechtsstaat” eine schwierige Frage? Viele waren in den Blockparteien; viele waren unangepasste; viele Menschen wissen aus ihrem Alltagsleben heraus keine einfache Antwort auf die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei; Umfragen zeigen, dass viele Ostdeutsche die Schattenseiten der DDR zunehmend ausblenden und sich vor allem an die “Vorteile” (Arbeitsplätze, niedrige Mieten; Kinderkrippenplätze) erinnern; Maßstäbe verschieben sich; viele hatten weder Staatsmacht noch wurden sie zu Opfern; dennoch waren sie “Eingesperrte” im System, in dem die Handlungsmacht des Staats Vorrang hatte; man hatte nur die “Freiheit in der Nische”; verblassende Erinnerungsbilder; unscharfe Maßstäbe; die DDR hat ihre Sozialpolitik zur Stabilisierung des Systems “missbraucht” (Richard Schröder auf dem vorletzten Bautzen-Forum). Aufklärung ist wichtig; Bautzen-Forum leistet einen wichtigen Beitrag dazu

Marko Schiemann MdL (CDU)

Erinnert an die Lebensleistung der Menschen, die im Osten gelebt haben. Viele haben hart gearbeitet für wenig Geld; Dank an die Opfer, die Jahr für Jahr nach Bautzen kommen; Dank an die Veranstalter; an die FES; das Bautzen-Forum kann deutsche Geschichte besser schreiben, als es Universitäten tun können, denn hier kann man das Gespräch mit den Zeitzeugen führen;
“Die Erinnerung muss sich gegen das Vergessen richten”; Trend zu immer mehr Verklärung, Vertuschung in den letzten Jahren; erinnert auch an den großen Häftlingsaufstand in Bautzen; “Folter und Spitzelsystem waren Voraussetzungen, damit die SED überleben konnte”. erinnert an die “menschlichen” Lehrer, die versucht haben, ohne Drangsalierung mit ihren Schülern umzugehen; in der Volkspolizei waren 99% Mitglied in der SED; nur 1% in einer anderen Partei; die Kirchengruppen waren das “Rückgrat der friedlichen Revolution”;
Das noch vorhandene SED Geld auf Schweizer und anderen Banken muss für die Arbeit der Opferverbände eingesetzt werden

Christian Schramm (Oberbürgermeister Bautzen; CDU)

Besonderes Forum, weil es im 20. Jahr des wiedervereinigten Deutschlands stattfindet; das Forum hilft, “tiefe Narben in der Lebensgeschichte zu betrachten”; Die Schwierigkeiten begannen, als mir der Glauben schwer gemacht wurde, als die Umwelt geschädigt wurde, als die zunehmende Militarisierung einsetzte; als ich nicht mehr die Musik machen durfte, die ich wollte; Städte verfielen; die staatlichen Lügengespinste wurden immer größer; wir stellten uns zunehmend die Frage, ob man etwas ändern könnte. Wahrheit und Freiheit lassen sich nicht dauerhaft unterdrücken – das war das Motiv, das zu den Wendeereignissen führten;
“Mielkes Privatknast Gelbes Elend” – Bautzen hat tiefe Spuren in seiner Geschichte aus jener Zeit. Bautzen hält in seiner Geschichte ein wichtiges Stück deutscher Geschichte wach. Neben der schönen Altstadt sollte man auch die Gedenkstätte Bautzen II besuchen. Die Stadt Bautzen steht für eine Erinnerungskultur gegen das Vergessen.

10.45 Vortrag Dr. h.c. Joachim Gauck (Vorsitzender Gegen Vergessen – für Demokratie e.V.): Unrechtsstaat DDR – Willkür. Gewalt. Macht.

Wir brauchen die Kultur des Erinnerns. Die Menschen hier im Saal sind Garanten einer eigenständigen Freiheit; einer Sehnsucht nach Würde. Etliche hier haben das Auf und Ab von Würdigung und erneutem Vergessen erlebt.
Der “Zeitgeist” geht oft eigene Wege. Er verdrängt gern das, was weh tut.
Es muss schon verwundern, dass ausgerechnet aus der unaufgeklärten Linken die Kritik an der angeblichen “Unschärfe” des Begriffes “Unrechtsstaat” kommt. Diese Partei braucht so etwas wie ein “inneres 68”; sie muss sich mit den Dingen befassen, dir wirklich weh tun; sie muss es glaubwürdig tun.
Das kathartische Element trat im Westen 1968 erst in dem Moment auf, als man sich nach der Kenntnisnahme der Fakten fragte: “Und ich? Und meine Familie?”. Dieses kathartische Element fehlt noch im Osten.
Wenn man dem eigenen Dunkel und der eigenen Schande nicht mehr entfliehen muss, sondern hinschaut; wenn man Schuld nicht mehr nur dort sucht, so kriminelle Schuld liegt; dann verändert sich eine Gesellschaft und sie wird glaubwürdig.
Dieses innere Erwachen muss im “linken Lager” erst noch eintreten. Dann könnte ich sie für glaubwürdiger halten.
Es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis es in dem angedeuteten Sinne bei der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur zu dem notwendigen “kathartischen Element” kommen wird. Das ist dadurch erschwert, weil die Diskurshoheit eine westdeutsche ist. An den Universitäten, an den Theatern. Die Mehrheit der öffentlichen Meinung ist eine westdeutsche! Deshalb haben viele Ostdeutsche das Gefühl, sie müssten gegenüber den Mehrheitsdeutschen noch mal “rumtrotzen”.
Die “altlinken” mögen den Diskurs nicht, weil sie dann “alt” aussehen, gegenüber denen, die die Mehrheit haben, den “Wessis”. Irgendwann müssen wir aber hinschauen, welchen Anteil wir selbst an der Schuld hatten. Aber soweit sind wir noch nicht.
Eine zweite Schwierigkeit:

Es scheint so zu sein, dass wir Deutschen eine große Bereitschaft haben, eine möglichst große Nähe zu den jeweils Herrschenden zu haben.
Anders die Polen, die das Sprichwort haben: “Glaube niemandem, der dir erklären will, dass du mit dem Kopf nicht durch die Wand kommst”.
Das gute Verhältnis der Deutschen zu ihren Obrigkeiten ist womöglich tatsächlich eine weitere Schwierigkeit, sich mit den Schattenseiten, mit dem “kathartischen Element” auseinander zu setzen.

Auch in den Familien der Widerständler gibt es Menschen, die sich immer wieder auf die Seite der “Sicherheit” begeben und sich unterwerfen, wo sie noch Widerstand leisten könnten. Nicht nur die Mitläufer haben das System stabilisiert, wir alle haben daran mitgestrickt. Eine Diktatur lebt nicht nur von den menschenfeindlichen Oberen, sondern, weil wir mit unseren Kräften ja auch “hoch kommen” wollen, weil unsere “Vernunft“ uns sagt, es sei “unvernünftig“, Widerstand zu leisten, denn: was kann denn der Einzelne schon gegen eine Diktatur ausrichten. Die Dikatur lebt, weil es eine “unüberzeugte Minimalloyalität” gibt: Innerlich denke ich vielleicht anders, aber ich mache dennoch mit.
Wie viele von uns sind am Wahlabend zur Wahl gegangen, obwohl sie “eigentlich“ anders dachten; wie viele von uns sind, obwohl sie “eigentlich” anders dachten, dennoch am 1. Mai mitmarschiert?

Sie haben innerlich vielleicht anders gedacht, aber sie sind dennoch mitgelaufen.

Was haben sie gefühlt, als sie mit den anderen mitgegangen sind? Wie ging es Ihnen da?
Als ich am 18. März 1990 zum ersten Mal frei wählen durfte, war ich 50 Jahre alt geworden. In dem Moment hatte ich starke Gefühle. Ich habe fünfzig Jahre lang nicht wählen dürfen. Deshalb war ich jetzt glücklich. Mir liefen die Tränen über das Gesicht und Freunde fragten mich, was mit mir sei: “Ich bin glücklich” habe ich ihnen gesagt. Ich hatte selber mitwirken dürfen, dass wir so wählen konnten.
Und was hast du gefühlt, als du in den Wahlraum gegangen bist zu DDR-Zeiten?
Nun ich war frech, ich war ja Pastor und glaubte mich im “Widerstand“. Ich hatte mir die Gefühle abgewöhnt. Wo waren damals eigentlich die Gefühle der Entfremdung? Wo war mein Zorn, dass ich ein Sklave war und – zum Beispiel bei der Wahl – mitmachte, obwohl ich “eigentlich“ anders dachte?
Ich hatte mir diese Gefühle abgewöhnt.
Es ist nicht gut, wenn man sich authentische Gefühle abtrainiert.
Wenn die Täter sich nicht an ihre Gefühle erinnern wollen, wissen wir, warum, sie wollen sich nicht erinnern.
Was ist mit der großen Gruppe derer, die mitgelaufen sind; die nicht überlegt haben: muss ich alles mitmachen?

Und so kommen wir dazu, dass wir zweierlei Arten von Nostalgie kennen:

Es sind die “alten Roten”, die sich nicht erinnern wollen. Sie verlangen einen “Systemwechsel” ohne etwas Besseres an der Hand zu haben. So etwas ist leicht zu bekämpfen. Man braucht nur etwas Mut.
Aber die unpolitische Nostalgie, die unpolitisch daher kommt, ist schwerer zu bekämpfen.

Denn man erinnert sich doch nicht am liebsten an die Krisenzeiten seines Lebens, sondern die Menschen erinnern sich an die schönen Zeiten im Leben.

Diese “wohlmeinende Schönung der Vergangenheit” können wir auf “politisch” und auf “unpolitisch”.

Was kann man dagegen tun?

Wenig.
Weil es ein Schutzmechanismus ist.
Was wir aber tun können: wir können mit den Menschen sprechen, ohne sie gleich als “Systemträger” zu verdächtigen. Und wir können uns erzählen, woran wir uns erinnern. Und ich kann erzählen, wie ich mich gefühlt habe in den Situationen, in denen ich mich zu entscheiden hatte.
Vielleicht fangen dann einige an und können diese Tür dieses verschlossenen Raumes zu ihren verschütteten Gefühlen endlich öffnen.
Und vielleicht fängt dann dieses “innere Erschrecken” an, die “Kathartische Erinnerung”, die so nötig ist zur Versöhnung.Nicht jeder, der nostalgisch denkt, ist ein verkommener Reaktionär, sondern sie sind normale Menschen, die Schmerzen vermeiden wollen.

Erzählen Sie Ihre Geschichte

Sie haben eine eigene Würde.

Vielleicht erwacht bei denen, die Ihnen zuhören, das eigene innere Erwachen: – “ach, ich hab ja mitgemacht. Ich habe dieses System, unter dem Sie gelitten haben, auf meine Weise stabilisiert. Es tut mir leid”.

Zum Beispiel Günther Schabowski.
“Wenn Sie sehen, wie so ein Mann bei dieser inneren Wahrheit angekommen ist, dann können sie ihm vergeben. Er kann sie vierzig Jahre lang unterdrückt haben: wenn Sie ihm ins Gesicht schauen, wenn er von diesem Punkt, von dieser innere Wahrheit, spricht – dann können Sie ihm glauben, dann können Sie ihm vergeben“.
Wenn ein Land sich innerlich versöhnen soll, dann erwächst dies aus einem Prozess.
Die Wahrheit ist das wichtigste Element dieses Prozesses.

Wenn unsere eigenen ehemaligen Unterdrücker zu dieser Wahrheit kommen: “Dafür hatte ich Verantwortung – und es tut mir leid”. Dann beginnt das Land sich zu verändern.

Aber:

es gibt auch die “Angst vor der Freiheit”. Denn der Gehorsam ermöglicht es mir, mich vor der Verantwortung zu drücken. (Erinnerung an Erich Fromms Buch). Und wir alle tragen diesen Wunsch in uns, die Verantwortung nicht tragen zu müssen. Ich hatte lange Zeit in meinem Leben gedacht, alle Menschen hätten eine Sehnsucht nach der Freiheit. Aber ich habe gelernt:
Es ist nicht so, dass alle die Freiheit und damit die eigene Verantwortung lieben.Deshalb ist es ein merkwürdiges Amalgam, das die Klärung der Vergangenheit behindert

a) Es sind die handfesten Kräfte der Politik, die Macht ausüben und Unrecht schaffen, die Menschen Leid zufügen.
b) Aber es sind auch die inneren seelischen Kräfte, die innere Bereitschaft, sich zu unterwerfen,

die “Angst vor der Freiheit”.
Darum erzählen wir die Geschichten unseres Lebens. Und wir werden nicht damit aufhören.”

 

“Ich hab den Vortrag auch für mich gehalten” meint er und ich sehe noch die innere Bewegung in seinen Augen. Ich kann diese Bewegung verstehen, wenn ich an den Absatz seines Vortrags erinnere, als er sich an seine verdrängten Gefühle erinnert, als er in die Wahlkabine ging zu DDR-Zeiten. Dieser Mann versucht, sich selbst Rechenschaft zu geben. Einer, der als “Widerständler” gilt, fragt sich, ob er klar genug war, ob er nicht doch auch “angepasst” war, und “mitgemacht” hat (z.B. bei den “Wahlen”), obwohl er “eigentlich” anders dachte.
 

 

Widerrede: Aus Gegnern müssen Dialogpartner werden


Eben habe ich mir  nochmal in Ruhe die Rede der Kanzlerin angesehen, die sie heute zu Afghanistan gehalten hat.
Hab mir die Gesichter angeschaut der früheren Kollegen, die Gesichter auch derer, die jetzt in Regierungsverantwortung sind.
Ich habe lange Jahre meines Lebens dort gesessen, auf den blauen Stühlen. Im Parlament und auf der Regierungsbank.
Und ich habe damals nach langen langen nächtlichen Debatten den Einsätzen der Bundeswehr zugestimmt, weil ich der Überzeugung war, die Doppel-Strategie Deutschlands: ziviler Aufbau und militärischer Schutz, könnte das Ziel erreichen und zu mehr Frieden in Afghanistan führen.
Nun habe ich nicht erneut kandidiert, lebe in einem Sabbatical in großer Stille und habe Zeit, diese Zeit gründlich zu überdenken.
Und ich merke: seit dem Luftschlag auf den Tanklastwagen in der Nähe von Kunduz hat sich für mich die Situation drastisch verändert.
„Bis zu 142“ Menschen sind dabei ums Leben gekommen. „Viele Zivilisten darunter“.

Mich treibt seither die Frage um: wie können wir soetwas definitiv ausschliessen?

Meine Antwort: wir können es nicht.
Was ist die Konsequenz?
Wir müssen diesen Krieg dort beenden.
Wir müssen sehen, daß unsere Doppel-Strategie gescheitert ist. Denn die Gewalt nimmt zu.
Ich weiß sehr wohl, was ich da sage, denn nichts ist schwerer, als sich soetwas einzugestehen.
Ich verstehe die früheren Kollegen gut in ihrem Applaus, den sie heute an manchen Stellen der Kanzlerin gegeben haben, denn sie haben mit diesem Applaus ja auch ihre eigene Entscheidung bekräftigt, die sie mit dem „neuen“ Mandat ausgesprochen haben.
Es ist verdammt schwer, sich einzugestehen, daß man geirrt hat.
Dieser Applaus hat für mich heute, wenn ich ihn sehe, auch etwas „Selbstbestätigendes“, gerade angesichts der mangelnden Unterstützung, die dieser Krieg in der Bevölkerung findet.
Dennoch:
Ich glaube, wir müssen uns eingestehen, daß unsere Doppel-Strategie: ziviler Aufbau, Ausbildung der Sicherheitskräfte und der Armee in Afghanistan und militärischier „Schutz“ dieser Aktivitäten gescheitert ist.
Denn: die Gewalt nimmt zu.

Nun haben die Amerikaner – und sie sind nach wie vor die treibende Kraft im Bündnis – als erste eine konkrete Abzugsperspektive eröffnet.
Sie wollen 2011, also etwa in einem dreiviertel Jahr, mit dem Abzug beginnen.
Schritt für Schritt.
Provinz für Provinz.
Je nachdem, was die Sicherheitslage und die Fähigkeiten der Afghanen, selbst für Sicherheit zu sorgen, zulassen.
Das deutsche Parlament hat gesagt: wir wollen in einem Zeitkorridor zwischen 2011 und 2013 abziehen.
Die Regierung sagt, sie setze die afghanische Regierung zunehmend unter Druck, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen.
Gleichzeitig weiß ich aber auch, daß das Militär dem Parlament nie die volle Wahrheit gesagt hat.
Besonders deutlich wurde das, als über die AWACS- Aufklärungsflugzeuge abgestimmt werden sollte, eine der letzten Abstimmungen, an denen ich noch beteiligt war und bei der ich mich gegen diese Flugzeuge entschieden habe.
Der Bundestag hat schließlich – dem üblichen Mechanismus folgend, das Mandat erteilt – danach jedoch stellte sich heraus, daß noch nicht mal Überflugrechte für die Flugzeuge vorlagen.
Das Parlament war nicht vollständig informiert.

Wenn heute wieder von „gefallenen“ und „tapferen“ Männern gesprochen wird, die „unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigen“, dann halte ich das für überhaupt nicht hilfreich, um aus dem Konflikt wieder heraus zu finden.
Zwar kann ich die Taktik der Kanzlerin verstehen, durch sorgsam ausgewählte Zitate von SPD-Politikern in ihrer Rede die große Gemeinsamkeit zur SPD in dieser Frage indirekt zu betonen; aber diese Taktik zeigt eben auch die große Unsicherheit, die die Regierung selbst in dieser Frage hat, man will sich der Mehrheiten im Parlament vergewissern.
Denn die Zustimmung in der Bevölkerung zu diesem Krieg sinkt von Tag zu Tag.

Zeitgleich zur Afghanistan-Debatte im Parlament ist McChrystal in Deutschland, um die geplante Großoffensive in Afghanistan vorzubereiten.
Wir werden in dieser Großoffensive Schlimmes erleben, fürchte ich.
Die Gewalt wird weiter zunehmen.
Ich bin fester denn je davon überzeugt, daß wir mit Soldatenstiefeln die Herzen der Menschen nicht gewinnen können.
Die Menschen in diesem agrarisch geprägten, muslimischen Land,von denen ein großer Teil der Bevölkerung Analphabeten sind, verstehen nicht, was vor sich geht.

Ich stelle mir manchmal die umgekehrte Situation vor:
Fremdes, sagen wir, muslimisches Militär würde sich in einem, sagen wir bayrischen, Dorf in einem Militärlager einquartieren und würde mit Patrouillen beginnen.
Man weiß in diesem bayrischen katholischen Dorf, daß diese fremden Soldaten einer anderen Religion angehören, vielleicht, sagen wir, Muslime sind.
Diese fremden Soldaten würden den Menschen sagen, man müsse diese Patrouillen machen, denn es gäbe Terroristen in der Gegend, es geschähe zu ihrer Sicherheit.
Nehmen wir weiter an:
die Soldaten haben kaum Kontakt zur Zivilbevölkerung, sondern sie leben eigentlich sehr zurückgezogen in ihrem Militärquartier, man weiß eigentlich nicht viel von ihnen.
Gerüchte machen die Runde im Dorf.
Nur zu Patrouillenfahrten verlassen die fremden Soldaten ihre Unterkunft.
Nehmen wir weiter an:
bei diesen Patrouillen würden eines Tages in einem Fahrzeug unbewaffnete Schüler erschossen (wie es gerade geschehen ist) – wie würde die Bevölkerung in diesem, sagen wir, bayrischen Dorf, reagieren?

Sie würde glauben, die Soldaten seien ihre Feinde.
Die Männer in den Familien wären in ihrer Trauer und ihrem Zorn über die getöteten Kinder kaum mehr zu bändigen.
Wut würde sich aufbauen, gegen diese „Andersgläubigen“ fremden Soldaten.

Aber genau dies geschieht anscheinend im Moment:
unsere Soldaten machen den Job, zu dem das Parlament sie beauftragt hat. Sie gelten in den Dörfern Afghanistans als „Ungläubige“.
Man weiß nicht viel von ihnen, denn sie leben eigentlich sehr abgeschlossen in ihrem Militärquartier da am Rande des Ortes.
Die deutschen Soldaten, und ihre Kollegen aus den anderen Ländern haben Angst auf ihren Patrouillenfahrten, weil sie kaum Kontakt zur Zivilbevölkerung haben und weil man ihnen sagt, dass terroristische Anschläge drohen. Man könne nicht ausschließen, daß „die Taliban“ heimtückische Angriffe planten. Und tatsächlich, gerade vor kurzem ist wieder so ein Anschlag passiert, bei dem 7 der Kollegen das Leben verloren.
Deshalb reagieren sie unsicher und schießen sogar auf ein Fahrzeug, in dem vier unbewaffnete Jugendliche sitzen, weil sie annehmen, das das Fahrzeug gefährlich für den Konvoi werden könnte. Schließlich ist es trotz mehrerer Warnungen nicht stehen geblieben, sondern ist weiter gefahren, direkt auf den Konvoi zu.
Man schießt.
Und stellt hinterher entsetzt fest, daß da vier unbewaffnete Jugendliche im Fahrzeug waren.

Ähnliches hat sich vermutlich vor dem Luftschlag in Kundus auf jenen entführten Tanklastwagen zugetragen.
Aus Furcht, der Tanklastzug könnte zu einer Waffe der Taliban gegen die eigenen Soldaten werden, wurde der Befehl zum Angriff gegeben.
Mehr als 142 Menschen kamen ums Leben.

Können wir solche Vorgänge definitiv ausschließen?
Wir können es nicht.

Die Angst in der Zivilbevölkerung wird zunehmen, weil immer mehr Zivilisten umkommen.
Beides, die Angst unter den Soldaten und die Angst in der Bevölkerung führt zu immer mehr Gewalt, statt zu mehr Frieden und Sicherheit.

In so einer Situation hilft es nicht wirklich weiter, wenn im Parlament angesichts von toten Soldaten und toten Zivilisten von „Tapferkeit“ gesprochen wird.
Eine Rede vom „tapferen Soldaten“ hat ja nur die Funktion, etwas zu tun gegen den wachsenden Widerstand in der eigenen Bevölkerung gegen diesen Krieg am Hindukusch.

Wenn die Metallsärge wieder mit Fahnen bedeckt werden und die Reden vom „tapferen Soldaten“ gehalten werden, ist Achtsamkeit vonnöten.
Denn die Gefahr ist übergroß, daß unser Denken, dann unsere Sprache und schließlich unser Handeln immer tiefer in die militärische Logik solcher Vorgänge mündet.

Nichts wäre schlimmer, als wenn wir immer tiefer in die militärische Logik hinein gerieten.
Die Logik des Militärs war stets: rüstet uns besser aus; gebt uns mehr und bessere Waffen; lasst uns endlich in Ruhe unseren „Job“ machen und sorgt „hinter der Front“ für Ruhe und vor allem für Unterstützung. (so konnte man es gestern im „Spiegel“ lesen).

Das aber genau darf der Politik nicht passieren.
Sie darf sich der militärischen Logik nicht unterwerfen.

Deshalb achte ich im Moment sehr aufmerksam auf die Sprache der Politik und der Medien.
Und ich merke, daß sie sich verändert.
Das Pathos kehrt zurück, das in Kriegen immer wieder da war.
Man redet vom „gefallenen Soldaten“; man redet vom „tapferen Soldaten“; man redet vom „Stolz“ auf den Soldaten; ja sogar die Kinder des Ministers werden in großen Medien zitiert, sie seien „stolz“ auf die toten Männer.
Man zeichnet das undifferenzierte und deshalb taugliche Bild vom „gefährlichen Taliban“, der „unsere Sicherheit“ bedrohe.
So funktionierten Feindbilder schon immer.
Je undifferenzierter, um so tauglicher.
Ein Bundestagsabgeordneter der CDU verstieg sich heute sogar zu folgender Argumentation:
„Fällt Afghanistan, dann fällt Pakistan. Und dann haben wir eines Tages eine Atombombe über einer deutschen Stadt.“ (spiegel online).
Man kann sehen, wohin Angst führt.

Deshalb „werfe ich Kieselsteine in den Strom“ und erinnere mit meinen geposteten Texten an frühere Kriegsheimkehrer, die alle als Gewandelte zurückkehrten und zu kompromisslosen Kriegsgegnern wurden.

Wenn die Kanzlerin heute in ihrer Regierungserklärung behauptet, es gäbe „keine Alternative“ zu dem, was da in diesem fernen Afghanistan vor sich geht, dann muß ich ihr widersprechen.
Denn die Alternative heißt: Dialog.

Ich glaube, wir werden aus diesem Konflikt, in den wir immer tiefer hineingeraten (und die amerikanischen Militärs haben ja heute in großen deutschen Zeitschriften schon angekündigt, uns stünde „ein schweres Jahr“ bevor),nur herausfinden, wenn wir sehen, was wir schon während der Zeit der Großen Konfrontation der Militärblöcke 1987 und früher wußten:
es gibt nur eine gemeinsame Sicherheit.
Es gibt keine Alternative zum Dialog mit den Menschen, die unsere immer mehr von der militärischen Logik geprägte öffentliche Rhetorik zum „Feind“ erklärt hat.

Nun scheinen die Entwicklungen jedoch einen ganz anderen Verlauf zu nehmen.
Statt eines Dialoges bereitet man eine Großoffensive vor.
Die Amerikaner verbreiten in deutschen Medien, uns stünde „ein schweres Jahr“ bevor.
Die Allianz will gemeinsam mit afghanischen Streitkräften in dieser Großoffensive „die Taliban“ endgültig zerstören.
Bruder gegen Bruder.
Afghane gegen Afghane.
Unterstützt von der Allianz aus dem Westen.
Danach will man abziehen.

Ich fürchte, diese Großoffensive ist der größte Fehler, den die Allianz nur machen kann.
Denn die anschließende Gewalt wird, wegen der vielen toten Zivilisten und Soldaten, wegen der erschossenen Bauern und ihrer Kinder, weiter wachsen und den Konflikt weiter verschärfen.
Der Zorn auf den Westen wird nicht geringer werden.

Neues vom Frühling


Frühlingsspaziergang am Orankesee im Berliner Norden. Landkarten sind zu finden. Innere und äußere. Die Wildkirsche blüht und die Weide lässt die Haare wehen. Mitten im Lärm der Stadt betrete ich die Stille. Und sehe den Reichtum um mich herum. Da gibt es nichts zu verbessern. Das ist gut wie am ersten Tag. Ein Gefühl von Dankbarkeit zeigt sich im Spiegel der Seele. Innere Landschaften zeigen sich wie die Landschaften in der Rinde des Ahorns. Ich beginne sie zu kennen.