Mir ist so seltsam zu Mute bei dieser Silberhochzeit. Etwas zum Mauerfall


Gefühle soll man ernst nehmen.
Deshalb hab ich mich gefragt, weshalb mir so seltsam zu Mute ist bei diesem Jubiläum? 25 Jahre Hochzeit zwischen Ost und West. 25 Jahre Fall der Mauer? Silberhochzeit.
Große Worte sind in der Welt.
Von „Revolution“ wird da geredet. Friedlich sei sie verlaufen.
Von „Freiheit“ wird auch geredet. „Widerstandkämpfer“ habe es gegeben
Mir ist das alles eine Nummer zu groß und mich beschleicht das Gefühl, dass etwas „nicht stimmt“.
Ich wusste lange nicht, wie ich es in Worte fassen könnte.
Bis da heute ein Text geflogen kam. Ein Redetext.
Gehalten von einem Südamerikaner.
Es hat da zum ersten Mal ein Treffen von sozialen Gruppen aus aller Welt gegeben im Vatikan.
Und dieser südamerikanische Papst fand die Worte, die eine Erklärung wurden, woher mein Unwohlsein kommt bei dieser Silberhochzeit, die in Deutschland gefeiert wird in diesen Tagen.
Denn da stimmt etwas ganz und gar nicht. Nicht nur im Staate Dänemark.
Und Papst Franziskus hat es in Worte gekleidet:
„Die Sozialen Bewegungen bringen zum Ausdruck, wie dringend unsere Demokratien verlebendigt werden müssen, weil sie oft von unzähligen Faktoren entführt werden. Für die Gesellschaft ist eine Zukunft nur vorstellbar, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eine aktive bestimmende Rolle mit spielt. Eine solch aktive Rolle geht über die logischen Verfahren einer formalen Demokratie weit hinaus. Die Aussicht auf eine Welt mit dauerhaftem Frieden und Gerechtigkeit verlangt von uns, jeden paternalistischen Assistentialismus hinter uns zu lassen und neue Formen der Partizipation zu entwickeln, damit die sozialen Bewegungen aktiv mitwirken können. So könnte der moralische Energieschub, der aus der Eingliederung der Ausgeschlossenen in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft entsteht, zu Regierungsstrukturen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene animieren. Und das konstruktiv, ohne Groll, mit Liebe.“
Was ist geworden aus der Aktivität der Vielen, die 89 auf der Straße waren?
Ist sie erstickt im Konsum?
Geht es nur noch darum, wer das schönste Selfie schickt?
Geht es nur noch darum, möglichst selber gut über die Runden zu kommen?
Ist das das Erbe von 89?

Wir müssen wieder von vorne anfangen. Oder, genauer: dort weitermachen, wo wir 1989 aufgehört haben.
Was sind „Maßstäbe des Menschlichen“ in einer wahnsinnig gewordenen Welt, in der sich alles nur noch um Geld zu drehen scheint, um die Sicherung der eigenen Interessen, um Einflusssphären und Gewalt?
Wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der es nicht nur um Gewinnmaximierung sondern um Gemeinschaft geht?

„Einige von euch haben gesagt: Dieses System ist nicht mehr zu ertragen. Wir müssen es ändern. Wir müssen die Würde des Menschen wieder ins Zentrum rücken und dann auf diesem Grund alternative gesellschaftliche Strukturen errichten, die wir brauchen. Das müssen wir mit Mut, aber auch mit Intelligenz betreiben. Hartnäckig, aber ohne Fanatismus. Leidenschaftlich, aber ohne Gewalt. Und gemeinsam, die Konflikte im Blick, ohne uns in ihnen zu verfangen, immer darauf bedacht, die Spannungen zu lösen, um eine höhere Stufe von Einheit, Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen“.

Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung.
Das waren die Stichworte, die zur „Wende“ geführt haben.
Geblieben sind davon die Reisefreiheit (so man genug Geld hat), die Meinungsfreiheit (die schamlose Auswüchse entwickelt), die Wahlfreiheit (und die Wahlbeteiligung sinkt mit jeder Wahl).
Das ist zu wenig!
Wir wollten mehr.
Wir träumten von einer solidarischen Gesellschaft – aufgewacht sind wir im real existierenden Kapitalismus.
„Dieser Kapitalismus tötet“ – sagt Franziskus.
Eine im Konsum gefangene Gesellschaft kann Freiheit nicht feiern. Welche denn? Die, sofern man Geld hat, unbegrenzt zu konsumieren?
Nein, da stimmt etwas nicht mit dieser silbernen Hochzeit.

„Wir sprechen über Landbesitz, Arbeit und Dach über dem Kopf … wir sprechen über die Arbeit für Frieden und die Bewahrung der Natur … Aber warum schauen wir dann immer noch zu, wie menschenwürdige Arbeit beseitigt, so viele Familien aus ihren Häusern vertrieben, campesinos ihrer Länder beraubt, Kriege geführt werden und die Natur misshandelt wird? Weil man in diesem System den Menschen, die menschliche Person, aus der Mitte gerückt und sie durch etwas anderes ersetzt hat. Weil man dem Geld einen götzendienerischen Kult widmet. Weil man die Gleichgültigkeit globalisiert hat! Man hat die Gleichgültigkeit globalisiert nach dem Motto: Was geht mich das an, wie es anderen geht, wenn ich mich doch um mich selbst zu kümmern habe? Denn die Welt hat den Gott vergessen, der Vater ist. Sie ist wieder eine Waise geworden, weil sie Gott beiseite geschoben hat“.

Schaut man in die sozialen Netzwerke, kann man finden: die „Ironie“ ist beinahe zum Standard-Ausdrucksmittel geworden.
Auch nimmt Zynismus zu.
Besonders schlimm sind die „Euphemismen“ – Worte, die gut klingen sollen. Um etwas zu verbergen.

„Es ist schon komisch, wie Beschönigung und Bagatellisierung durch Euphemismen in der Welt der Ungerechtigkeit überhand nehmen. Man redet nicht in eindeutigen klaren Worten, sondern sucht nach beschönigenden Umschreibungen. Ein Mensch, ein abgesonderter Mensch, ein außen vor gehaltener Mensch, ein Mensch, der unter Elend und Hunger leidet, wird also als Mensch auf der Straße bezeichnet – eine elegante Lösung, nicht wahr? Sucht stets hinter jedem Euphemismus das Verbrechen, das sich dahinter verbirgt – im Einzelfall mag ich mich irren, aber im allgemeinen ist es so, dass hinter einem Euphemismus ein Verbrechen steckt“

„Bei diesem Treffen habt ihr auch über Frieden und Ökologie gesprochen. Das liegt in der Logik: Man kann kein Land besitzen, man kann kein Dach über dem Kopf haben, man kann keine Arbeit haben, wenn wir keinen Frieden haben und wenn wir den Planeten zerstören. Diese wichtigen Themen müssen die Völker und ihre Basisorganisationen dringlich diskutieren. Sie dürfen nicht allein von den politischen Führungskräften behandelt werden. Alle Völker der Erde, alle Männer und Frauen guten Willens, alle müssen wir zum Schutz dieser beiden kostbaren Gaben unsere Stimmen erheben, für Frieden und für die Natur, bzw. – wie Franz von Assisi sie nennt – für die Schwester Mutter Erde.

Kürzlich habe ich gesagt, und ich wiederhole das hier, wir stecken mitten im dritten Weltkrieg, allerdings in einem Krieg in Raten. Es gibt Wirtschaftssysteme, die um überleben zu können, Krieg führen müssen. Also produzieren und verkaufen sie Waffen. So werden die Bilanzen jener Wirtschaftssysteme saniert, die den Menschen zu Füßen des Götzen Geld opfern. Man denkt weder an die hungernden Kinder in den Flüchtlingslagern, noch an die Zwangsumsiedlungen, weder an die zerstörten Wohnungen, noch an die im Keim erstickten Menschenleben“.

Warum ist mir so seltsam zu Mute bei dieser Silberhochzeit?
Weil da etwas ganz gewaltig aus dem Lot geraten ist.
Deutschland ist stark geworden.
Aber ich wünsche mir kein Deutschland, dass wegen seiner Kraft nun auch noch militärisch eine „führende Rolle“ übernimmt.
Ich wünsche mir ein Deutschland, das anknüpft an das Erbe der Bürgerrechts- und Ökologiegruppen, die sich damals zunächst unter dem Dach einiger weniger Kirchen und Pfarrhäuser versammelten und sich die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ an die Jacke nähten.

Wir stehen wieder ganz am Anfang. Lasst uns dort weitermachen, wo wir 1989 aufgehört haben.
Die Aufgabe ist zu groß, als dass wir sie allein den Parlamenten und Regierungen überlassen dürften.

(den kompletten Text der Rede von Franziskus vom Oktober 2014 findet man hier).

Das kommt mir spanisch vor. Oder: etwas von der Madonna.


"Rex Christos" am Ende Europas mit dem Blick nach Afrika.....Tarifa liegt in Andalusien. Dieser „letzte Ort Europas“ an der Straße von Gibraltar birgt zahlreiche Zeugnisse der Begegnung zwischen Afrika und Europa, zwischen Islam und Christentum, zwischen reicher und ärmerer Welt. Ein Foto geht mir nach. Man sieht im kleinen Hafen von Tarifa auf der Kaimauer eine Statue, die nach Afrika hinüber blickt. Auf dem Sockel der Statue eingraviert ein lateinisches „R“ und ein „chi“. „Rex christus“. Das ist gedacht gewesen als Kampfansage des katholischen Spanien gegenüber „den Muslimen“, die, zunächst 710 mit einer kleinen Gruppe von Kundschaftern kommend, dann ab 711 im Lande nach und nach die Macht übernahmen, bis sie – in Tarifa 1292, in anderen Orten später – wieder vertrieben wurden und der spanische Katholizismus seine Macht festigte. Noch heute feiert man diese Ereignisse. Noch heute ist die Auseinandersetzung zwischen spanischem Katholizismus und Islam in den Feierlichkeiten wirksam. Noch heute findet sich der Zusatz „….de la Frontera“ in der Ortsbezeichnung so mancher andalusischen Stadt. Orte „an der Front“.
Vor dieser Statue auf der Kaimauer ist ein Polizeischiff der Küstenwache zu sehen. Es dient auch der Abwehr von Flüchtlingen.
Ich finde solche Zeugnisse bedrückend.
Als sich politische Macht das Christentum aneignete und instrumentalisierte, geschah etwas Ungeheuerliches: der die Gewaltlosigkeit predigende Sohn eines jüdischen Zimmermanns, aufgewachsen in ärmlicher Umgebung, wurde zum Machtsymbol.
Eine entsetzlichere Verdrehung der Botschaft des Christentums ist nicht vorstellbar.
Wenn man sich mit der Geschichte der Entdeckung der „Neuen Welt“ befasst (das bleibt nicht aus, wenn man in Spanien ist), mit der Unterwerfung der dort lebenden Bevölkerungen – in nicht wenigen Gegenden kam diese Unterwerfung praktisch einer Ausrottung gleich- wird erschreckend deutlich, wozu ein missverstandenes „macht Euch die Erde untertan“ geführt hat.
Gegenwärtig rüstet Europa wieder und weiter auf. Vor allem gegen Flüchtlinge aus Afrika. Viele Millionen Dollar werden ausgegeben, um Zäune zu errichten,  um Schiffe auszurüsten, um Fluchtwege zu „verstopfen“.
Dieses Foto mag ein Symbol dafür sein. Wie ein Menetekel steht es da und kündigte schon vor etlichen Jahrhunderten an, worum es gehen würde. Um die Abwehr des Bruders.
Es geht darum, die eigene Macht zu behaupten. Und dabei soll auch die Madonna helfen.

Madonna und Bodega. Prozession in Sevilla
Madonna und Bodega. Prozession in Sevilla

Wenn man in Andalusien Gelegenheit hat, an einer der vielen dort üblichen Prozessionen teilzunehmen, bei der eine Madonnenfigur aus der Heimatkirche herausgetragen, durch den Ort geführt, öffentlich gezeigt und dann wieder in die Heimatkirche getragen wird, dann wird man den Eindruck nicht los, dass es bei diesen Prozessionen auch darum geht, zu zeigen, wer die Macht im Lande hat. Diese Prozessionen hinterlassen sogar bei Menschen, die sich für areligiös halten, einen starken Eindruck. Über 80 Bläser gehen, in langsamen Schritt, mit Posaunen, Oboen, Klarinetten, Saxophonen, Pauken und Becken musizierend hinter der schwankenden Patronin her, die von Freiwilligen getragen wird, die sich die Augen haben verbinden lassen, nur geführt von sparsamen Signalen eines Vormannes. Junge Männer, denen es eine Ehre ist, die zentnerschwere Madonna zu tragen.
Die Plätze sind voll. Zu Tausenden stehen die Menschen, begrüßen die Madonna, die gleichzeitig immer auch Patrona des Ortes oder einer Zunft ist, klatschen, fotografieren, wollen in ihrer Nähe sein. Man kann den Eindruck haben, da würde eine ägyptische Gottheit durch die Stadt getragen. Ganz Ursprüngliches wird da bei den Menschen berührt. Und die Menschen wollen es. Beteiligen sich. Freiwillig. Kommen zu Tausenden, nicht nur als Besucher, sondern sie wollen „mit der Madonna mitgehen“.
„Ich bin da. Ihr braucht euch nicht fürchten“ so ist eine der Botschaften, die von der Patrona ausgeht, wenn sie mitten durch die Märkte, durch die engen Gassen voller Cafes und Restaurants, vorbei an Kneipen und Bodegas getragen wird. Mitten im andalusischen abendlichen Alltag erscheint sie, geht durch das Volk, und verschwindet wieder…..
Sie zeigt auch, wer die Macht tatsächlich hat im Lande.
Parteien kommen und gehen. Die Madonna bleibt.
Und das Volk liebt sie auf eine Weise, gegen die die scheinbar Mächtigen ganz und gar ohnmächtig sind. Weshalb sie sich mit ihr verbünden.
Das ist jedoch nicht unproblematisch, insbesondere, wenn es um die Beziehungen zu anderen, beispielsweise muslimischen Völkern geht.
Die Geschichte der Verfolgung Andersgläubiger ist lang in Spanien. Schon 100 Jahre vor der Inquisition hat man in Sevilla systematisch mit der Verfolgung von Juden begonnen, denen man vorwarf, nicht wirklich zum Christentum konvertiert zu sein. Die gebildeten Juden flohen in die Metropolen Europas – nach Paris, Hamburg, in die Türkei. Die Handwerker flüchteten nach Nordafrika. Es ist eine grausame, tief schwarze Geschichte, die da in Andalusien und anderen Orten stattgefunden hat. Vom jüdischen Viertel Santa Cruz in Sevilla steht praktisch nur noch ein einzelnes Grab – mitten in einem Autoparkplatz, alles andre ist Legende für Touristen. Von den zahlreichen Synagogen des Viertels gibt es faktisch keine mehr. Sie sind längst zu katholischen Kirchen geworden. Santa Cruz ist das zentrale Beispiel dafür.
Wie also wird es weitergehen zwischen katholischem Christentum und Islam?
Die Auseinandersetzung ist uralt. Gegenwärtig eskaliert die Auseinandersetzung erneut. Das christliche Abendland hat eine Allianz von über 40 Staaten gegen einen radikalen IS geschmiedet, der alles zerstören will, was sich nicht seinem Willen unterwirft.
Die entscheidende Frage aber wird wohl nicht sein, wer gegen wen gewinnt, sondern, ob und wie es nach all der fürchterlichen Geschichte der Intoleranz und gegenseitigen Vernichtung nicht doch endlich gelingen kann, dass die Bruderreligionen in der einen Welt friedlich nebeneinander und vielleicht sogar miteinander leben. Dass die Begegnung der Kulturen auch zu wundervollem Reichtum führen kann, zeigt ja auch gerade Andalusien. Die Begegnung der arabischen Architektur mit der Gotik ist sicher eines der beeindruckendsten Beispiele dafür. Zu besichtigen zum Beispiel in Grenada.
Wie also kann es gelingen, dass die Bruderreligionen lernen, nebeneinander und vielleicht gar miteinander zu leben?
Es wird dabei auf diejenigen in beiden Religionen ankommen, die sich nicht von der Gewalt, sondern vom eigentlichen, ursprünglichen Kern ihrer Religion bestimmen lassen. Es wird dabei auf diejenigen in beiden Religionen ankommen, die von der Versöhnung, von der Begegnung, von der wechselseitigen Bereicherung sprechen und in ihr eine wirkliche Perspektive gemeinsamen Lebens erkennen.
Solche Stimmen haben es gegenwärtig schwer. Es kommt darauf an, sie zu stärken.

Tempo!


Etwa 1500 mal schneller als ein Wimpernschlag ist ein Geldgeschäft im internationalen Hochfrenzhandel geworden. Enorme Geldströme werden so im Bruchteil einer Millisekunde ausgelöst – mit entsprechenden Folgen. Ein solches System ist nicht mehr kontrollierbar.
Frank Schirrmacher und andere haben auf die Folgen einer solchen Entwicklung, die ein immer höheres Tempo von den Menschen verlangt, hingewiesen.
Auch der politische Prozess unterliegt einem enormen Termin- und Zeitdruck.
Der hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Qualität der Entscheidungen. Nicht selten, eher zunehmend, werden Entscheidungen getroffen, die mit „heißer Nadel“ genäht sind – und deshalb nicht von Bestand sind.
Da ich lange Jahre meines Lebens diesen Prozessen selbst unterworfen war, kenne ich sie ziemlich gut auch von innen.
Allerdings ist jeder Mensch frei, sich dem zu entziehen und nach Alternativen Ausschau zu halten.
Es gibt mittlerweile eine weltweite Suchbewegung, die nach Alternativen zu diesem „immer schneller“ sucht, um wieder ein menschliches Maß für das Leben zu finden. Denn die zerstörerischen Folgen einer sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft sind ja nicht mehr zu übersehen.
ARTE hat dieses weltweite Suchbewegung im Film „Schluss mit schnell“ kürzlich eindrucksvoll dokumentiert.
Wir sind mit unserem Projekt „Internetgarten“ Teil dieser weltweiten Suchbewegung.

Garten 5.9.140242
Der Garten am 4. September 2014
Garten am 12.4.2012
Die Anlage des Gartens am 12. April 2012

Einer sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft, die möglichst alles jetzt und sofort „haben“ möchte, dabei nicht selten das Leben selbst aus dem Blick verliert und sogar seine Grundlagen zerstört, setzen wir hier einen Lebensentwurf entgegen, der sehr wohl ein klares Ziel verfolgt, aber bei dessen Umsetzung wir das Tempo der Natur beachten, Beharrlichkeit üben, Achtsamkeit trainieren und Kooperation praktizieren.

Es geht uns darum, im Leben wieder ein „menschliches Maß“ zu finden. Eine ausgewogene Balance zwischen Denken und Tun, zwischen Einatmen und Ausatmen, zwischen Tun und Lassen, zwischen actio und contemplatio. Uns zunächst fremd erscheinende Kulturen und Religionen betrachten wir dabei nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung.
Die Resonanz ist überraschend und manchmal auch überwältigend. Wir haben ein sehr großes mediales Interesse erleben können: ZDF, ARD, MDR, NDR, Süddeutsche, Tagesspiegel und andere waren da und haben geschrieben oder darüber Sendungen produziert, was man mit einer Idee und einem Laptop so anfangen kann.
Etwa 35.000 Menschen verfolgen das Projekt via Internet. Über 4.000 Menschen waren schon persönlich zu Besuch.
Wir freuen uns darüber.
Aber wir lassen uns davon nicht aus dem Takt bringen. Bleiben beim ruhigen, konsequenten Wechsel zwischen Tun und Lassen.
Wir lassen uns nicht mehr hetzen.
Offensichtlich hat dieses Garten-Projekt einen Nerv getroffen. Offensichtlich sieht eine zunehmende Anzahl von Menschen, dass ein einfaches „weiter so – aber noch mehr Tempo!“ nicht zielführend ist. Und offensichtlich tut sich etwas. Immer mehr Menschen beginnen konkret, nach Alternativen zu suchen und sie zu entwickeln.
Das ist angesichts der Zerstörungen, die wir weltweit sehen können, eine erfreuliche Entwicklung.

Anwesenheitswahn. Etwas von der politischen Sprache


Sie wolle etwas gegen den „Anwesenheitswahn“ tun, äußerte die Bundesministerin nun öffentlich. Sie meinte damit bestimmte Betriebe. Gesagt hat sie das aber nicht.
Nun ist es ein seit längerem zu beobachtender unguter Trend, dass die öffentlich geäußerte Sprache mehr als zu wünschen übrig lässt. Sie verkommt regelrecht.
Worthülsen, Nichtssagendes werden zum Standard. Das ist eine große Plage unserer Zeit.
Aus unklarem Denken folgt unklare Rede.
Solcherlei Reden sind weit entfernt vom eigentlich notwendigen geschliffenen Wort.
Als ich mir Ausschnitte der Regierungserklärung vom heutigen Tage ansah, wurde mir sehr schnell klar: so etwas werde ich mir künftig ersparen. Anwesenheit ist nicht mehr erforderlich. Denn es gibt keinen argumentativen Schlagabtausch mehr.
Im Parlament wird nur noch verkündet.
Dann ist Mittag.
Der „Anwesenheitswahn“ hat ein Ende. Das Parlament kann nach Hause gehen.
Es kommt nicht mehr drauf an.
Die Mehrheiten sind dermaßen verteilt, dass es nicht mehr erheblich ist, ob ein Abgeordneter da sitzt oder nicht.
Da zeichnet sich eine „bequeme Legislatur“ ab für den einen oder anderen Mandatsträger.
Weit entfernt sind die Zeiten, in denen es auf jede Stimme ankam.
Weit entfernt die Zeiten, in denen man mit Gruppenanträgen quer zu den Fraktionen noch etwas bewegen konnte.
Die präsidierende Kanzlerin hat nun eine dermaßen komfortable Mehrheit, dass ein Streit der Argumente zwischen Koalition und Opposition faktisch nicht mehr vorkommt.
Denn: das knappste Gut heutzutage ist Aufmerksamkeit.
Die kann die Opposition nur noch erreichen, wenn sie besonders plakativ vorträgt.
Deshalb wird auch sie sich vom geschliffenen Argument immer weiter entfernen.
Eine direkte Folge der neuen Mehrheitsverhältnisse.
Wie Mehltau breitet es sich aus.
Gehirnkleister.
„Es kommt nicht mehr drauf an, man hat ja ohnehin die Mehrheit“ – Anwesenheit nicht mehr erforderlich.
Man möchte sich zusammenrollen und die Bitte äußern: „In vier Jahren könnt ihr ja mal wieder anklopfen……“

Ein Dank an Juli Zeh und Illija Trojanow


Juli Zeh und Illija Trojanow ist für die internationale Initiative der Schriftsteller gegen den Überwachungsstaat zu danken.
Die Initiative hat ein breites Medienecho gefunden, die Diskussion geht weiter. Das ist gut und wichtig.
Iris Radisch von der ZEIT kann man zustimmen, wenn sie meint, dieser Aufruf zeige „eine Internationale der Schriftsteller, wie es lange keine mehr gab“. Auch ist ihr Hinweis auf Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Stèphane Hessel berechtigt.
Allerdings weist Iris Radisch zu Recht darauf hin, dass der Aufruf „keinen Adressaten“ habe. Zwar wird an die UN appelliert, eine entsprechende „Konvention“ zu verabschieden, aber selbst dieses bleibt eher im Ungefähren.
Dem Aufruf fehlt die Konkretion.
Im Moment ist die Beobachtung sicher nicht ganz unberechtigt, dass es in den Parlamenten für das Anliegen an wirksamer Unterstützung fehlt. Zwar gibt es hinreichend allgemeine Erklärungen, dass „man“ sich um den Schutz der Bürgerrechte kümmern „müsse“, Konkretionen jedoch fehlen.
Allerdings konnte man im amerikanischen Parlament erleben, dass es davon Ausnahmen gibt. Dort wurde der Versuch unternommen, die „Dienste“ unter eine strenge parlamentarische Kontrolle zu zwingen, indem man ihnen das Geld kürzt.
Nur wenige Stimmen fehlten der notwendigen Mehrheit für diesen Antrag. Ein Achtungserfolg. Immerhin.
Die NSA war dermaßen alarmiert über jenen politischen Angriff aus dem Parlament, dass der Chef der NSA, Keith Alexander, persönlich im Parlament erschien, um das aus seiner Sicht „Schlimmste“ zu verhindern.
Ein Signal dafür, das die Initiative genau richtig war.
Was fehlt, ist ein internationales Bündnis von entschlossenen Abgeordneten, die über die Haushaltsausschüsse ihrer Parlamente die Angelegenheit nun konkret in die Hände nehmen.
Denn die Finanzierung ist das einzige Argument, das die Dienste sofort verstehen.
Allgemeinen Absichtserklärungen gegenüber sind sie immun, wie man in der Vergangenheit oft beobachten konnte.
Bitten um Auskunft über ihre Tätigkeiten wimmeln sie mit allgemeinen Papieren und vernebelnden Erklärungen ab.
Sie rücken an Informationen nur heraus, was sie herauszugeben bereit sind.
Längst dominieren die Dienste die Politik, längst sind die Diener zu Herren geworden.
Die entscheidende Frage ist, wer in der Lage sein könnte, sie wieder in ihre Schranken zu weisen.
Mutige Abgeordnete könnten das, wenn sie von ihrem stärksten Recht Gebrauch machen.
Ihre stärkste Waffe sind die Haushalte, die Parlamente haben das Haushaltsrecht.
Es ist noch ein weiter Weg zu gehen bis dahin, darüber braucht man sich nicht täuschen.
Was aber nicht bedeutet, dass man ihn nicht gehen kann.
Deshalb gebührt Juli Zeh und Illija Trojanow Dank dafür, dass sie gemeinsam mit ihren internationalen Schriftstellerkollegen den ersten Schritt gegangen sind.
Weitere müssen folgen.

Samstagsfoto


Mobilität
Mobilität

Die Sonne bringt einen schönen Herbsttag, die Luft ist kühl.
Das Foto finde ich bei Google+ und betrachte es lange.
Wohin sind die Menschen auf diesem Bild unterwegs? Wohin entwickeln sich die Städte? Was ist das Ziel von Politik?
Das Bild springt mich an mit solchen Fragen.
„Der helle Wahnsinn“ kommentiert ein Facebook-User das Bild spontan.
Ich weiß von vielen Reisen rund um die Welt, dass über die Hälfte der Weltbevölkerung in megacities lebt. Solche Städte sind nicht selten das Ziel der Wünsche der Menschen, weil sie hoffen, dort ausreichend Nahrung und Arbeit zu finden für sich und ihre Kinder.
Das Bild ist Symbol für die Leistungsgesellschaft westlicher Prägung; Synonym für Industriealisierung, Mobilität, Energieverbrauch, Naturzerstörung, Krieg um letzte Rohstoffe, Massengesellschaft. Das Individuum, der einzelne Mensch – wird zur Nummer, zum Datensatz, zur Kennziffer.
Ist ein solcher Lebensraum ein für Menschen lohnendes Ziel?
Leben Menschen glücklicher in solchen Städten?
„Die Stadt“ ist zum Synonym geworden für eine unkontrollierbare Entwicklung, Synonym für Zerstörung. Der Seelen vor allem.
Die Menschen verlieren den Kontakt zu sich und zur Natur. Lichtsmog und Lärm vernebeln ihnen die Sinne. Sie können nur noch schwer wahrnehmen, was an Reichtum eigentlich da ist.
„Entschleunigung“ ist ein Wort unserer Tage. Auch „Depression“. Die Zahl seelischer Erkrankungen in den Industrienationen wächst stark.
Was wären „Maßstäbe des Menschlichen“?
Lässt sich überhaupt eine Politik denken, die solche Prozesse zu steuern noch in der Lage ist?
Ein hochrangiger Kommunalpolitiker in Neu Delhi sagte mir auf einer Dienstreise: „Diese Stadt kann man eigentlich nicht regieren. Wir wissen ja nicht mal, wo sie anfängt…..“.
Das Bild ist ein Synonym geworden für „noch mehr“, „noch schneller“, „noch gewaltiger“. Ich sehe es in den Tagen, in denen über „Rettungsschirme“ gesprochen wird. Der „Zusammenbruch des Euroraumes“ wird befürchtet, die „Griechenland-Krise“ wirft ihre Schatten.
Das Bild zeigt: wir leben über unsere Verhältnisse. Seit etwa 150 Jahren nutzt man das Auto. In dieser Zeit haben wir mehr als die Hälfte der Rohstoffe durch die Motoren gejagt, die in Milliarden von Jahren in der Erde entstanden sind. Nimmt man das Lebensalter der Erde zum Maßstab und setzt es als vierundzwanzig Stunden bis heute, dann haben wir in den letzten Sekunden verbrannt, was während des ganzen Lebens gewachsen ist. Es ist wie ein Feuerwerk. Der Wahnsinn nennt es „Fortschritt“. Und in den Hirnen vieler Menschen, vor allem in Wirtschaft und Politik, geistert das Wort vom „Wachstum“ immer noch als lohnenswertes Ziel.
Die Prozesse der Naturzerstörung beschleunigen sich.
Aber vielleicht wächst durch die zunehmende Vernetzung der Menschen untereinander durch die neuen sozialen Netzwerke auch ein Bewusstsein dafür, wie sehr wir abhängig sind von der Erde, die unsere Zivilisation trägt. Es ist nur eine vage Hoffnung, denn die Netzwerke werden auch genutzt, um das Wachstum der Wirtschaft noch schneller voran zu treiben.
Auf vielen Dienstreisen rund um die Welt hatte ich oft Gelegenheit, solche Riesenstädte aus der Luft zu sehen – beim Landeanflug auf einen der vielen Flughäfen, die solche Städte oftmals haben.
Fliegt man über Städte wie Tokyo, Delhi, Hongkong, Buenos Aires und andere, kann einen der Gedanke anwehen, als wären diese Städte wie wildwuchernde Krebsgeschwüre auf der Haut der Erde…..
In solche Städte fliegt die Umwelt-Community, um wieder mal eine Konferenz zum Klimaschutz abzuhalten. Man jettet von Großstadt zu Großstadt, um die Welt zu retten. Vergeblich. Denn die Emissionen steigen weiter stark an, die Zerstörung nimmt weiter zu.

Das Bild lässt mich auch ratlos. Denn es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie denn diesen Wahnsinn Einhalt geboten werden könnte. Zu vernetzt ist die Zivilisation. Komplex verwoben ist sie. Wenn sich etwas in einem Teil der Erde verändert, verändert sich das gesamte System. Weshalb einfache Antworten nicht mehr möglich sind. Immer wenn ich in politischen Programmen lese „nur so“ sei die Lösung eines Problems erreichbar, blättere ich weiter. Denn „nur so“ ist vereinfachtes Denken, das der Komplexität unserer Welt nicht mehr angemessen ist.

Ein Weg ist natürlich, bei sich selbst zu beginnen und diesen „Wahnsinn“ nicht mehr mitzumachen. Viele Menschen gehen diesen Weg, so gut sie können.
Aber, schaut man auf den Globus, kann man sehen, dass der größere Teil der Weltbevölkerung weiterhin in diese Städte zieht. Umweltzerstörung, Klimawandel, Hoffnung auf ein wenig mehr Nahrung und Arbeit treiben die Menschen hin zum Moloch.

Aus einem Langstreckenflieger oder gar aus dem Weltall können solche Städte auch „schön“ aussehen, wenn sie in der Dunkelheit leuchten. Aber, kaum ist man gelandet, zeigt „die Stadt“ ihre andere Seite.

Es ist Samstag.
Herbst.
Die Sonne wärmt einen schönen Tag.
Die Erde dreht sich weiter um sich selbst und umkreist die Sonne. Politiker reden, Zeitungen schreiben, Musiker spielen, Kinder lachen, Mönche schweigen.
Und die alte Sonne wärmt das alles, gibt Wasser und Brot, wie sie es seit Jahrmilliarden getan hat….

Pogrom


Da steht es.
Das Wort.
Pogrom.
Es kommt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“.
Beiläufig las ich es heute. Und wurde aufmerksam.
Was geschieht da im Winkel zwischen Tschechien und Sachsen? „Nur ein verstärkter Polizeieinsatz konnte Pogrome verhindern“ lese ich.
Eine Kleinstadt ist drauf und dran, andere Menschen umzubringen. Wenn die Polizei nicht da wäre.
Ein Pogrom droht.
Es ist eine Gegend in Tschechien, die man den „Schluckenauer Zipfel“ nennt. Der Landstrich reicht bis nach Sachsen.
Ragt also gewissermaßen nach Deutschland hinein.

Ich lese diesen Text auch in der Prager Zeitung. Immerhin.
Allerdings befassen sich die meisten Texte dieser Tage mit ganz anderen Themen. Ich lese „Rettungsschirm“, ich lese „Euro-Bond“, ich lese „Versagen der Politik“, ich lese „Steuerreform“ und „alle müssen mehr zahlen“. Es geht also vor allem ums Geld.
In Deutschland und seinen Gazetten.

Aber da steht mittendrin nun dieses Wort.

Pogrom.

Und lässt sich nicht mehr wegwischen.

An den Schwächsten entlädt sich wieder einmal der „Volkszorn“. Die Roma sind die größte Minderheit in Europa. Man schätzt sie auf etwa 10 Millionen, verstreut über etliche europäische Staaten. Sie leben mitten unter uns. Der Volksmund nennt sie „Zigeuner“. Was als Schimpfwort gemeint ist.

Dietrich Bonhoeffer hat mal den Satz gesagt: „Wer nicht für die Juden schreit, soll nicht Halleluja singen“.
Es war ein Appell an die Menschen in diesem Land, die sich „christlich“ nannten, endlich den Mund aufzutun für die, die keine Stimme haben.

Deshalb schreibe ich hier diesen kurzen Text.
Um an ein Wort zu erinnern, dessen grausamer Hall wieder zu hören ist.
Pogrom.
Mitten in Europa.
Im Grenzland zwischen Tschechien und Deutschland.
Man nennt die Gegend  „Schluckenauer Zipfel“……

ARTE ist es zu danken, dass mehr Informationen über dieses europäische Thema zusammengetragen wurden. Es handelt sich offenbar um ein Thema, das von Politikern eher in Hinterzimmern mit spitzen Fingern angefasst wird, denn mit wirklicher Politik.

Gelassenheit. Eine Erinnerung


Der Erfurter Meister Ekkehart (1260-1328) hat das Wort von der Gelassenheit geprägt und die deutsche Sprache um dieses schöne Wort bereichert.
Gemeint ist: Gegründet sein. Seinen Ort gefunden haben, ein-gelassen sein. Verbunden sein mit dem Grund, der alles trägt.
Gelassenheit ist eine rare Tugend in Zeiten wie unseren, die von täglich neuer Aufregung geprägt sind.

Meine Erinnerung geht an einen Ort, an dem Gelassenheit anschaulich geworden ist. Volkenroda bei Meiningen.
1131 wurde jener Ort von ein paar Männern gegründet, die ihrem Zeitgeist widersprochen und Mönche geworden waren – Zisterzienser.
Sie wollten nicht länger vom Ertrag des Zinses, von der Rendite des Geldes, sondern von ihrer Hände Arbeit leben.
Deshalb gründeten sie die Klöster ihrer Lebensgemeinschaft abseits von den aufstrebenden Städten, in denen die reichen Händler lebten; weit draußen auf dem Lande, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Jene Orte des Protestes gegen den Zeitgeist wurden jedoch über die Jahrhunderte Stätten der Kultur, der Gelassenheit, der Gesundheit.
Denn die Wurzeln, die sie tief in die Erde trieben und die Äste, die sie dem Himmel entgegenstreckten waren so kräftig und gesund, daß über die Jahrhunderte hinweg Menschen in ihnen Orientierung und Halt fanden.
Die Menschen kamen und suchten diese besonderen Orte auf. Denn es waren Kraft-Orte. Orte der Orientierung in orientierungsloser Zeit.
Orte der Verwurzelung in einer entwurzelten Gesellschaft.
Orte, an denen Gelassenheit erfahrbar wurde.

Thomas Müntzer hat 1525 mit seinen kriegerischen Bauern jenen alten Ort weitgehend zerstört.
Alle Versuche, den Ort wieder herzurichten, blieben erfolglos.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Ort praktisch nur noch eine vermüllte Ruine.

Heute jedoch, zwanzig Jahre später, lebt der Ort, der auf der EXPO 2000, der Weltausstellung, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenkte.
Denn auf der EXPO wurde jener „Christus-Pavillon“ zum ersten mal gezeigt, der nun in Volkenroda neben der alten Kirche der Zisterzienser ein Zentrum der ganzen Anlage geworden ist.
Gelassenheit.
An diesem Ort kann man sie finden.
Der Ort selbst spricht mit seiner Geschichte das Wort aus.

1000jährige Eiche in Volkenroda/Thüringen

In Volkenroda fand ich heute am Morgen auch einen alten Baum.
Etwa 1000 Jahre alt ist er.
Auch er ein Zeichen von tief gegründeter Gelassenheit.

Ich war an jenen Ort gekommen, weil mich jemand eingeladen hatte. Dr. Schoedl, den Leiter des europäischen Jugendbegegnungszentrums Volkenroda hatte ich bei einer Gesprächsrunde im Mitteldeutschen Rundfunk kennen gelernt. Wir sprachen damals über die Stille. Über unsere schnelle, laute und oftmals krankmachende Gesellschaft; wir dachten nach über die Not-Wendigkeit, in aller Hektik und Betriebsamkeit die Orientierung und vor allem, eine gute Verwurzelung zu behalten. Zuviele Entwurzelte leben in unserer Gesellschaft, die sich immer schneller nur noch um sich selber dreht.

Nun kamen da vier zusammen an jenem Ort in Thüringen: der Computerfachmann und Fotograf Markus Spingler, der mit wundervollen schwarz-weiß Fotografien und einfühlsamen Texten dem Thema „Stille“ nachspürt.
Der Saxophonist Rainer Schwander und der Gitarrist Bernhard von der Goltz, die beide seit über dreißig Jahren der Musik nachspüren, jener Brückenbauerin zwischen Himmel und Erde. Wer den Jan Garbarek einmal gehört hat, der hat eine Vorstellung, wie das Sopransaxophon von Rainer Schwander im abendlichen Pavillon in Volkenroda gestern geklungen hat.

Ich hatte ein paar Texte mitgebracht, die vom Hören sprechen, von der Not-Wendigkeit einer wirklichen Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Einen Text hatte ich auch, der handelt von der Musik, vom „sound of silence“, den nicht nur Simon&Garfunkel kannten.
Und siehe da: es fügte sich ein wundervoller Abend in uraltem Gelände.
Männer, die sich nie vorher gesehen, geschweige denn, je etwas gemeinsam gemacht hatten, fügten ihre Arbeiten zu einem sehr schönen Ganzen zusammen: Bild, Wort, Musik.
Und: sie „verstanden“ sich.
Jeder in seiner Sprache, in der Sprache der Musik, des Bildes, des Wortes – und doch sprachen wir von gemeinsamer Erfahrung.

Spät noch am Abend standen wir draußen im Hof der alten Klosteranlage bei einem Gläschen Rotwein und spürten dem nach, was da gerade geschehen war:
eine Erfahrung von Gelassenheit.

Das wird bleiben: die Erinnerung
an  denkwürdigen Ort, der scheinbar hoffnungslos verlassen war – und doch neu aufgeblüht ist.
Die Erinnerung an den Baum – der so viel mehr gesehen hat als eine Menschengeneration sehen kann.
Die Erinnerung an die Klänge des Abends und die Bilder, die eine Brücke schaffen zwischen Himmel und Erde.

Ein guter Ort.
Uralt.
Gut verwurzelt.
Ein Ort der Gelassenheit.

Berliner Philharmoniker und Richard Strauss – etwas zum Thema „Kunst und Nationalsozialismus“.


Vor einigen Tagen hatte ich hier im blog auf ein Programm der Berliner Philharmoniker hingewiesen, das zumindest Fragen zulässt. Es ging zunächst um einen Text von Susanne Stähr im begleitenden Programmheft, aber eben auch um die Frage, ob, und wenn ja, unter welchen Umständen ein ausschließlicher Strauss-Abend veranstaltet werden kann. Anlass war ein Konzert unter der Leitung von Christian Thielemann am 5. Mai diesen Jahres, das ein ausschließliches Richard-Strauss-Programm bot.
Bei der Beschäftigung mit diesem nicht unsensiblen Thema „Kunst und Politik“ insbesondere dem Kapitel „Kunst und Nationalsozialismus“ bin ich nun auf einen Text von Frau Stähr über Richard Strauss gestoßen, den ich wichtig und gut finde, weshalb ich ihn hier im blog zur Verfügung stelle.
Er ist 2008 im Programmheft zur Oper „Daphne“, das die Hamburgische Staatsoper herausgegeben hat, erschienen. Interessant ist auch die 2007 veröffentlichte zweibändige Geschichte der Berliner Philharmoniker „Orchester mit Variationen“ (Henschel-Verlag), für das Frau Stähr die Kapitel 1892-1945 und 1954 – 1989 geschrieben hat. Sie hat darin auch die Verstrickungen in der Nazi-Zeit behandelt.

Hier nun ihr Text zu Richard Strauss aus dem Jahre 2008:

„Das hat mit Politik nichts zu tun“
Richard Strauss und der Pakt mit dem Dritten Reich

Zu den Vorzügen des Musikdramatikers Richard Strauss gehört ohne Frage sein sicheres Gespür für die literarische Qualität der Textbücher, die er vertonte, und auch sein Instinkt für den theatralischen Effekt. Maßstabsetzend wirkte vor allem seine Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal, die im Jahr 1906 ihren Anfang nahm. „Ihre Art entspricht so sehr der meinen, wir sind füreinander geboren und werden sicher Schönes leisten, wenn Sie mir treu bleiben“, schrieb Strauss an den Autor, nur kurz nachdem sie sich in Berlin begegnet waren, um das Konzept einer „Elektra“ ins Visier zu nehmen. Die Hoffnungen, die der Komponist damals hegte, sollten sogar noch übertroffen werden: Mit sechs gemeinsamen Werken gelang es dem Duo, das Opernrepertoire dauerhaft zu bereichern – der „Rosenkavalier“ entwickelte sich nachgerade zu einem der „Greatest Hits“ auf den Spielplänen. „Treu“ blieb Hofmannsthal dem Tondichter ohnehin, denn erst sein Tod setzte 1929 der beglückenden schöpferischen Allianz ein jähes Ende. So schmerzlich für Strauss der Verlust des langjährigen Weggefährten auch war: mit dem Romancier Stefan Zweig fand er einen ebenbürtigen Nachfolger, der nicht nur mit Straussens berüchtigtem Temperament und seiner unverblümten Direktheit umzugehen vermochte, sondern der ihm mit der „Schweigsamen Frau“ ein Libretto lieferte, das ganz nach dem Gusto des Komponisten ausfiel. Zweigs Vorlage sei „der beste Text, der auf dem Gebiet der Opéra comique seit dem Figaro geschaffen worden ist“, urteilte Strauss und bekannte: „Die Composition keiner meiner früheren Opern fiel […] so leicht und hat mir solch unbeschwertes Vergnügen bereitet.“

Wie harsch lesen sich dagegen die Worte, die Richard Strauss seinem letzten Librettisten, dem Wiener Theaterhistoriker Joseph Gregor, zugedacht hat, dem Verfasser der „Daphne“. Je öfter er das Textbuch lese, desto weniger gefalle es ihm, vermerkte Strauss am 25. September 1935: „Es ist ein völliges Nacheinander, keine Spur von irgend einer Schürzung des dramatischen Knotens“, mäkelte er und forderte: „Theater und keine Literatur!“ In der Wortwahl gab er sich bei seiner Kritik keineswegs zimperlich: „Schulmeisterliche Weltanschauungsbanalitäten“ wollte Strauss in dem Buch erkennen oder einen „nicht immer glücklich imitierten Homerjargon“. Auch der Tonfall, den er wählte, war denkbar schroff gehalten und ließ jede Höflichkeit vermissen: „Vielleicht haben Sie die Güte, bis wir uns aussprechen, […] Änderungen vorzunehmen“, heißt es da zum Beispiel, oder gar im Befehlston: „bitte dringend zu beachten!“ Ein einziges Mal hat der devote Gregor gegenüber dem „hochverehrten, lieben Herrn Doktor“, wie er Strauss in seinen Briefen bis zuletzt nennt, gegen die Vorhaltungen aufbegehrt – und wurde gleich doppelt bestraft: „Es tut mir natürlich leid, daß ich Ihnen weh getan habe“, beschwichtigte der Komponist in seiner Antwort zunächst, um gleich darauf die Peitsche wieder hervorzuholen: „aber auch die Säge des Chirurgen schmerzt, wenn sie ohne Narkose arbeitet. Darum lassen Sie es [sich] nicht verdrießen, wenn ich Ihre Daphne in der jetzigen Form für unbrauchbar, vor allem für untheatralisch und kein Publikum der Welt interessierend halte.“ Mehrfach hat Joseph Gregor den „Daphne“-Text grundlegend revidieren müssen, bis Strauss das „kindliche Philologenmärchen“, wie er das Libretto despektierlich nannte, schließlich akzeptieren wollte. Nicht minder schwierig gestaltete sich die Kooperation bei dem Einakter „Friedenstag“ und der „Liebe der Danae“. Ein viertes geplantes Projekt, die Konversationsoper „Capriccio“, die Gregor zunächst skizziert hatte, wurde ihm vom Komponisten 1939 sogar gänzlich entzogen – lieber realisierte er die Szenenfolge in gemeinsamer Heimarbeit mit dem Dirigenten Clemens Krauss. Die Verbindung zwischen Strauss und Gregor hatte sich endgültig als Mesalliance entpuppt.

Richard Strauss sei ein Opfer der Zeitläufte geworden, der Nazidiktatur, begründen seine Verteidiger diesen „Missgriff“ und betonen, wie gerne der Komponist weiter mit Stefan Zweig gearbeitet hätte. Mutig sei es doch gewesen, dass Strauss an seinem jüdischen Librettisten festgehalten und noch bis zur Uraufführung der „Schweigsamen Frau“ am 24. Juni 1935 in Dresden alle Versuche der braunen Machthaber abgewehrt habe, Zweigs Namen von den Plakaten und dem Besetzungszettel zu tilgen. Diese Standhaftigkeit ist Strauss in der Tat hoch anzurechnen, doch wäre es falsch, daraus den Schluss zu ziehen, Strauss habe gegen die „Rassenpolitik“ opponieren und ein Zeichen des Widerstands setzen wollen. Die Motive, die ihn bei seinen Entscheidungen beflügelten, waren selten grundsätzlicher und schon gar nicht politischer Natur; sein subjektives Empfinden und sein persönlicher Nutzen bildeten vielmehr das Zentrum seines Weltbilds und leiteten ihn in seinem Urteil, in seinen Taten. Die Rolle, die Strauss im Dritten Reich spielte, war entsprechend ambivalent, um nicht zu sagen: sie erscheint suspekt.

Wer Straussens Verhalten unter der NS-Herrschaft verstehen will, muss weiter zurückgehen: in die zwanziger Jahre, in die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs droht ihm der Nimbus, einer der führenden Köpfe im deutschen Musikleben zu sein, abhanden zu kommen. Fast ausschließlich Lieder sind es, die er nach seiner Oper „Die Frau ohne Schatten“ zunächst komponiert – ein Genre, mit dem er die breite öffentliche Aufmerksamkeit aber schwerlich erreichen kann. Als Kodirektor der Wiener Staatsoper sieht er sich wachsender Kritik ausgesetzt, weil er zu selten anwesend sei und lieber lukrative Gastverpflichtungen wahrnehme, als am eigenen Hause zu dirigieren: Strauss wird 1924 zum Rückzug genötigt, und das, obwohl seine Erwartung, an der Berliner Staatsoper wieder eine leitende Rolle spielen zu können, sich ebenfalls zerschlagen hat. Zu allem Überfluss wird publik, dass der geschäftstüchtige Strauss während der galoppierenden Inflation darauf bestanden hat, seine Gage in US-Dollar ausgezahlt zu bekommen; die Honorarhöhe, die er als Dirigent für sich nach wie vor reklamiert, tut ein Übriges, um den Ruf der Geldgier zu befestigen. Dass Strauss sich überdies in der Zeit der schwersten ökonomischen Depression eine pompöse Villa in Wien errichten lässt – das „Strauss-Schlössl“ heißt sie im Volksmund –, nährt obendrein den Verdacht, er sei ein gesinnungsloser Spekulant, der versucht habe, aus der Geldentwertung materiellen Nutzen zu ziehen. Negative Pressestimmen mehren sich, die Politszene der jungen Weimarer Republik zeigt wenig Interesse an dem einstigen Vorzeigekünstler des Kaiserreichs, und die neuen Musiktheaterwerke, die Strauss schließlich komponiert, das „Intermezzo“ und die „Ägyptische Helena“, erreichen bei weitem nicht den Erfolg und die Aufführungszahlen seiner Vorkriegsopern. Ende der zwanziger Jahre kommt er um die Erkenntnis nicht mehr herum, dass die Öffentlichkeit ihn inzwischen als alternden Komponisten wahrnimmt, der seinen Zenit längst überschritten habe: ein Mann von Gestern. Er kompensiert diese Demütigung mit einer Radikalisierung seiner politischen Haltung, wie Harry Graf Kessler berichtet, der schon 1928 Zeuge wurde, als Strauss die Notwendigkeit einer Diktatur propagierte.

„Ich habe aus Berlin große Eindrücke mitgebracht und gute Hoffnung für die Zukunft der deutschen Kunst“, urteilte Strauss am 29. März 1933 in einem Brief an seinen Verleger Anton Kippenberg, zwei Monate, nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Seinen persönlichen „Sündenfall“ hatte er da schon vollbracht. Am 15. März nämlich hatte die NS-Führung über den Dirigenten Bruno Walter ein Auftrittsverbot verhängt – mit diesem denkbar prominenten Casus wollte man offenbar ein Exempel gegen jüdische Künstler statuieren. Für Walters Konzert mit den Berliner Philharmonikern am 20. des Monats fand sich jedoch nicht so leicht ein ebenbürtiger Ersatz: Wilhelm Furtwängler stand als Einspringer nicht zur Verfügung, und auch Richard Strauss, der gerade an der Staatsoper „Elektra“ dirigierte, lehnte zunächst kategorisch ab. Als ihm indes zu Ohren kam, dass es die neue Reichsregierung sei, die sein Dirigat erbitte, revidierte er sogleich seine Entscheidung – und sagte zu. Damit freilich lieferte er den NS-Ideologen den gewünschten Beleg für die These, dass sich jeder jüdische Künstler, und sei er noch so beliebt und berühmt, problemlos durch einen deutschen Kollegen ersetzen lasse. Ob Strauss sich gefreut hat, dass ihn der „Völkische Beobachter“ daraufhin postwendend feierte? „Dr. Strauss hat […] das Konzert als einen Gruß an das neue Deutschland nur unter der Bedingung übernommen, daß das für Herrn Bruno Walter ausgesetzte Honorar restlos dem Orchester zufließe“, vermeldete das Blatt. Bereut hat Strauss seine Anbiederei und mangelnde Loyalität jedenfalls auch später nicht. Als ihn Stefan Zweig im Juni 1935 auf sein politisches Engagement in Nazideutschland anspricht, scheut sich der Komponist nicht, mit antisemitischem Unterton zu replizieren: „Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich politisch so weit vorgetreten bin? Weil ich für den schmierigen Lauselumpen Bruno Walter ein Concert dirigiert habe?“

Strauss war in geradezu egomanischer Weise auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Bruno Walter, der in Salzburg triumphierte und ihm dort längst den Rang abgelaufen hatte, war ihm ein Dorn im Auge. Deshalb erschien ihm das Einspringen für den verfolgten Kollegen auch nicht als unsolidarisch; aus seinem subjektiven Blickwinkel heraus dürfte er es für durchaus geboten gehalten haben. Arturo Toscanini empfand er ebenfalls als lästigen Rivalen – und übernahm nur allzu gerne für ihn die Stabführung, als der Italiener Ende Mai 1933 seine Mitwirkung bei den Bayreuther Festspielen absagte, aus Protest gegen Hitler. Es habe sich bei diesem Schritt allein um seine „bescheidene Hilfe für Bayreuth“ gehandelt, rechtfertigte sich Strauss zwei Jahre später in dem bereits zitierten Brief an Stefan Zweig: „Das hat mit Politik nichts zu tun. Wie es die Schmierantenpresse auslegt, geht mich nichts an.“

Umgekehrt suchte Strauss die Gunst jener zu erlangen, deren Stunde geschlagen zu haben schien. Wie etwa Hans Knappertsbusch, der aus seiner nationalistischen Gesinnung keinen Hehl machte und als Favorit des NS-Ideologen Alfred Rosenberg galt. Seit 1922 amtierte Knappertsbusch – übrigens in der Nachfolge Bruno Walters – als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper; dass sein Wort in den kommenden Jahren noch höheres Gewicht erhalten würde, schien für Strauss auf der Hand zu liegen, und er intensivierte den freundschaftlichen Austausch. Als nun Thomas Mann im Februar 1933 seinen Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ an der Münchner Universität öffentlich vortrug und die Nazis diesen Auftritt zum Vorwand nahmen, gegen den Literaturnobelpreisträger zu agitieren, verfasste Knappertsbusch einen „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“, der Mitte April in den Münchner Neuesten Nachrichten veröffentlicht wurde. Dass es Knappertsbusch gelungen war, das gesamte Solistenensemble der Bayerischen Staatsoper zur Unterzeichnung dieser „Protestnote“ zu bewegen, mag im Abhängigkeitsverhältnis der Mitarbeiter zu ihrem Chef begründet liegen. Dass aber auch Richard Strauss, fast siebzig Jahre alt, hochgeehrt, vermögend und auf Knappertsbuschs Wohlwollen nicht eigentlich angewiesen, seine Unterschrift unter das Dokument setzte, ist schwer verständlich, zumal er den Wortlaut des Aufsatzes von Thomas Mann gar nicht kannte. Allein die Aussicht, Knappertsbusch für sich einnehmen und dadurch eine höhere Aufführungsfrequenz seiner Werke erwirken zu können, dürfte ihn in seinem Handeln bestärkt haben. Für Thomas Mann aber blieb nach der Publikation des Schmähtexts nur noch der Weg ins Exil.

Mit dem Dreisatz seiner Aktionen gegen Bruno Walter, Arturo Toscanini und Thomas Mann hatte Richard Strauss seinem Ansehen im Ausland (und in allen nicht gleichgeschalteten Kreisen Deutschlands) erhebliche Schrammen zugefügt. Im Urteil der Nazis hingegen hatte er sich genau damit für höhere Weihen qualifiziert: Am 10. November 1933 erhielt er ein Telegramm von Joseph Goebbels mit dem Angebot, die Präsidentschaft der gerade neu gegründeten Reichsmusikkammer (RMK) zu übernehmen. Strauss, der glaubte, mit diesem Amt werde seine Stellung als bedeutendster deutscher Komponist nach Wagner endlich gebührend gewürdigt, sagte zu – und er wurde zum hochrangigen Funktionär des Systems. Er sah in der neuen Position die Chance, dem deutschen Musikleben jene alte „Größe“ zurückzubringen, die es in der Weimarer Zeit eingebüßt habe: Die Unterhaltungsmusik und namentlich der „Wiener Operettenschund“ müsse dezimiert, der Anteil ernster deutscher Musik dagegen gesteigert werden, und die Werke der großen Meister seien vor jeder Zerstückelung zu bewahren, forderte er. Chöre und Orchester müssten vergrößert, die Ausstattungsetats verbessert werden, und wenn das Geld nicht reiche, so sei eben an eine Erhöhung der Subventionen zu denken. Mit diesen Postulaten entsprach Strauss indes nicht unbedingt der Parteilinie, vielmehr erhob er allein seine persönlichen Wünsche zur Maxime seiner Politik. Denn Hitler war bekanntermaßen ein Bewunderer der Operetten von Lehár (gegen den sich die „Reformpläne“ von Strauss nicht zuletzt richteten), und Goebbels war nicht im mindesten daran interessiert, alte Zustände aus dem Kaiserreich wiederherzustellen, ihm ging es, ganz im Gegenteil, um die Schaffung einer „nationalsozialistischen Modernität“. Und an eine Anhebung der Zuschüsse für die darbenden Theater dachte weder der eine noch der andere. Gleichwohl ließ man Strauss seine Steckenpferde im Stillen reiten; die eigentliche Politik der Reichsmusikkammer wurde ohnehin vom Geschäftsführer Heinz Ihlert, einem langgedienten Parteigenossen, gestaltet, dem es auch oblag, Strauss zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass er keinen „Schaden“ anrichten konnte.

War alles nur ein Missverständnis? Strauss blieb ein Präsident ohne Wirkung, ohne Gestaltungsmöglichkeiten, er diente der NS-Führung allein als schmuckes Aushängeschild. Wieder waren es seine Eitelkeit und seine Profitgier, die ihn dazu verleitet hatten, sich vereinnahmen zu lassen. Er habe das Amt nur angetreten, um „Gutes zu tun und größeres Unglück zu verhüten“, argumentierte Strauss gegenüber Zweig zu seiner Entlastung. Seine Fürsprecher haben diese Behauptung dankbar aufgegriffen und zum Beleg angeführt, dass er doch die Satzung des „Berufsstands deutscher Komponisten“ niemals paraphiert habe, weil er mit den darin verankerten „rassepolitischen“ Vorstellungen nicht einverstanden gewesen sei. Diese Aussage mag richtig sein, doch muss man entgegenhalten, dass Strauss seine Bedenken niemals öffentlich artikuliert und gegen diese Vorstellungen Einspruch erhoben hat. Im Gegenteil: Bereits die Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz aus dem Jahr 1933, die Strauss bei Amtsantritt vorfand, enthielt einen „Arierparagraphen“; sie hinderte ihn nicht daran, die Präsidentschaft anzunehmen. Und mehr noch, Strauss selbst ließ in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer veröffentlichen: „Nichtarier sind grundsätzlich nicht als geeignete Träger und Verwalter deutschen Kulturguts anzusehen. Berlin, am 23. April 1934, Der Präsident.“ Wusste Strauss nicht, was er da sanktioniert hatte? Gänzlich diskreditiert hat er sich im spektakulären „Fall Hindemith“: Nachdem Wilhelm Furtwängler, der in einem flammenden Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung eine Lanze für den verfemten Paul Hindemith gebrochen hatte, von seinen Ämtern als Staatsoperndirektor und Chef der Berliner Philharmoniker suspendiert worden war, hielt Goebbels am 6. Dezember 1934 eine Brandrede gegen „atonale“ Komponisten – unschwer einzustufen als Replik auf Furtwängler. Richard Strauss telegraphierte daraufhin an Goebbels: „Zur großartigen Kulturrede sende herzlichen Glückwunsch und begeisterte Zustimmung. In treuer Verehrung, Heil Hitler, Richard Strauss.“

Wie immun war Strauss gegen antisemitisches Gedankengut? Als Kind des Jahrgangs 1864 wurde er in eine Gesellschaft geboren, in der judenfeindliche Äußerungen weit verbreitet waren: Richard Wagners Schrift „Über das Judentum in der Musik“, die er 1850 verfasste und 1869 in Buchform veröffentlichte, bildet ein prominentes Beispiel. Auch im Elternhaus von Strauss standen abfällige Bemerkungen gegenüber Juden auf der Tagesordnung; sie richteten sich namentlich gegen Hermann Levi, ab 1872 GMD und Hofkapellmeister des Königlichen Hof- und Nationaltheaters in München, den „Chef“ von Richards Vater Franz Strauss, der als Solohornist in Reihen des Orchesters wirkte. „Du eilst ja wie ein Jude“, soll Franz Strauss den Sohn angeherrscht haben, wenn er als Schüler das Tempo nicht halten konnte. Dass in den Briefen des jungen Richard Strauss immer wieder ein antisemitischer Zungenschlag auffällt, kann deshalb nicht verwundern. „Bis auf die arg vielen Juden ist Frankfurt ein reines Paradies“, schreibt er etwa 1885 aus der Mainmetropole; „Schund von einem Juden“, bemerkt er über ein Scherzo von Karl Goldmark, einen „jüdischen Schlamperer“ nennt er einen Pianisten, den er 1878 zu hören bekommt. Im Verlaufe seines Lebens jedoch verliert sein Antisemitismus das Gewicht einer grundsätzlichen, geschlossenen Überzeugung, er wird nur noch als verstärkende Begründung herbeizitiert, wenn Strauss eine bestimmte Person jüdischer Abkunft nicht leiden mag: wie etwa Bruno Walter oder den Musikwissenschaftler Paul Bekker, den Strauss noch 1948 als „israelitischen Schreiber“ bezeichnet.

Diese relative „Milderung“ seines antisemitischen Weltbildes, wenn man die Akzentverschiebung so nennen darf, hatte nicht zuletzt mit der Entwicklung seiner familiären Situation zu tun: 1924 heiratete sein einziger Sohn Franz die Pragerin Alice von Grab, die aus einer jüdischen Industriellenfamilie stammte. Nach nationalsozialistischen Begriffen galten die beiden Enkel Richard und Christian, an denen Strauss mit Liebe und Stolz hing, als Halbjuden, und er war stets in Sorge, dass sie Opfer der Drangsalierungsmaßnahmen werden könnten. Als Strauss erfuhr, dass diverse Verwandte seiner Schwiegertochter interniert worden waren, versuchte er sogar, bei der Prager SS zu intervenieren und fuhr persönlich nach Theresienstadt, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Einlass in das Konzentrationslager erhielt er, wie sich denken lässt, allerdings nicht, und auch ein Bittbrief, den er an Baldur von Schirach, den Reichsstatthalter in Wien, richtete, konnte Rettung nicht bringen: 25 Angehörige von Alice Strauss wurden im Zuge des Genozids ermordet. Strauss war die terroristische und verbrecherische Dimension des NS-Systems also sehr wohl bekannt – offen Einspruch erhoben gegen die Verfolgung und Diskriminierung der Juden hat er jedoch nicht.

Immerhin gewährte er einzelnen, ausgewählten Juden weiter seine Unterstützung, auch als dies gegenüber der braunen Obrigkeit längst nicht mehr opportun erscheinen konnte. Den markantesten Fall stellt ohne Frage sein Eintreten für Stefan Zweig dar: Die Zusammenarbeit mit dem Autor war für Strauss so essentiell, dass er sogar in Erwägung zog, den österreichischen Dichter „inkognito“, heimlich und verborgen, weiterhin als Librettisten zu beschäftigen, auch wenn dies der Direktive von Goebbels zuwiderlaufen würde. Dabei hatte er allerdings nicht mit der Standhaftigkeit von Zweig gerechnet, dem Straussens Konzessionen an die Machthaber „in höchstem Maße peinlich“ waren und der lieber auf die Aufträge verzichtete als sich zu kompromittieren. Nachdem Zweig abermals seine Bedenken gegenüber der politischen Karriere des Komponisten geäußert hatte, verfasste Strauss seinen berühmten Brief vom 17. Juni 1935: „Dieser jüdische Eigensinn! […] Dieser Rassestolz, dieses Solidaritätsgefühl – da fühle sogar ich einen Unterschied!“, wettert er zunächst gegen Zweigs Vorhaltungen, um sich gleich darauf ins bessere Licht zu rücken: „Glauben Sie, daß ich jemals aus dem Gedanken, daß ich Germane (vielleicht, qui le sait) bin, bei irgend einer Handlung mich habe leiten lassen? Glauben Sie, daß Mozart bewußt ‚arisch’ komponiert hat? Für mich gibt es nur zwei Kategorien Menschen; solche die Talent haben und solche die keins haben, und für mich existiert das Volk erst in dem Moment, wo es Publikum wird. Ob dasselbe aus Chinesen, Oberbayern, Neuseeländern oder Berlinern besteht, ist mir ganz gleichgültig, wenn die Leute nur den vollen Kassenpreis bezahlt haben. […] Daß ich den Präsidenten der Reichsmusikkammer mime? […] Unter jeder Regierung hätte ich dieses ärgerreiche Ehrenamt angenommen, aber weder Kaiser Wilhelm noch Herr Rathenau haben es mir angeboten. Also seien Sie brav, vergessen Sie auf ein paar Wochen die Herren Moses und die anderen Apostel und arbeiten Sie nur Ihre zwei Einakter …“ (gemeint sind „Friedenstag“ und „Daphne“).

Der Brief, den Strauss an Stefan Zweigs Züricher Adresse richtete, wird von der Gestapo in Dresden abgefangen, wo sich der Komponist zu den Schlussproben der Uraufführung seiner „Schweigsamen Frau“ aufhält. Am 1. Juli, eine Woche nach der Premiere, erhält Hitler Kenntnis von dem Wortlaut: Umgehend wird „Die schweigsame Frau“ verboten, Strauss wird zum Verzicht auf die Präsidentschaft der Reichsmusikkammer gezwungen und muss am 6. Juli „aus gesundheitlichen Gründen“ um Entlassung bitten. Doch hat er nichts Besseres zu tun, als sich gleich darauf mit einem einschmeichelnden Brief bei Hitler in Erinnerung zu bringen – in der Hoffnung, das Geschehene vergessen zu machen: „Mein Führer! […] ich gebe gerne zu, daß der Inhalt dieses Briefes ohne Erklärung aus dem Zusammenhang gerissen ist und daher missdeutet werden kann […] Leider hat man es mir gegenüber unterlassen, mir Gelegenheit zu irgendeiner Form der unmittelbaren persönlichen Erklärung über Sinn, Inhalt und Bedeutung dieses Briefes zu geben, der in einem Augenblick der Verstimmung gegen Stefan Zweig, selbst ohne weitere Überlegung rasch hingeworfen wurde. Ich brauche […] nicht zu beteuern, daß dieser Brief und alles, was an improvisierten Sätzen er birgt, nicht irgendeine weltanschauliche oder auch für meine wahre Gesinnung charakteristische Darlegung bedeutet.“ Strauss bittet „Sie, mein Führer, ergebenst“ um Aussprache – doch Hitler schweigt. Eine Antwort wird Strauss niemals erhalten.

Von weiteren Repressionen jedoch bleibt er auch verschont. Man arrangiert sich in den kommenden zehn Jahren des Dritten Reiches. Strauss dient weiter dem System, indem er die Präsidentschaft des „Ständigen Rats für internationale Zusammenarbeit der Komponisten“ übernimmt, einer Organisation, die in Nazideutschland die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) ersetzte. Er sucht den Ruhm des Reiches durch Gastspielreisen im Ausland zu mehren, er dirigiert auf dem Reichsmusiktag, als Komponist stützt er die Propaganda mit einer „Olympischen Hymne“ und die außenpolitischen Bemühungen der Regierung mit der „Japanischen Festmusik“ zum 2600-jährigen Bestehen des Kaiserreichs. Auch vor persönlichen Huldigungen schreckt er nicht zurück: Als der Kreisleiter von Garmisch im Herbst 1943 anordnet, Strauss möge in seiner geräumigen Villa eine ausgebombte Münchner Familie aufnehmen, wehrt er sich mit Händen und Füßen und schaltet schließlich einen der ihm gewogenen Granden aus dem NS-Establishment ein, um die Einquartierung zu verhindern: Hans Frank, den Generalgouverneur im besetzten Polen. Dank dessen Fürsprache gelingt es, die betroffene Familie in einem Nebengebäude unterzubringen, und Strauss bedankt sich artig mit der Komposition eines Kanons, zu dem er selbst den Text dichtet: „Wer tritt herein so fesch und schlank? / Es ist der Freund Minister Frank. / Wie Lohengrin von Gott gesandt, / hat Unheil er von uns gewandt. / Drum ruf ich Lob und tausend Dank / dem lieben Freund Minister Frank!“ Welch grotesker Begriff von „Unheil“! Hans Frank, Widmungsträger dieser Verse, wurde nicht zufällig „der Schlächter von Polen“ genannt; in seinem Machtbereich befanden sich die vier Vernichtungslager Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek, er war mitverantwortlich für den millionenfachen Mord an Europas Juden und wurde im Zuge der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt.

Es blieb ein Ende in Tränen. Deutschland lag in Trümmern. Das Nationaltheater, in dem sein Vater vier Jahrzehnte musiziert hatte; die Berliner Lindenoper, seine Wirkungsstätte als Preußischer Hofkapellmeister; die Dresdner Semperoper, wo die meisten seiner Opern uraufgeführt wurden: sie alle ragten nur noch als brandgeschwärzte Ruinen in den Himmel. Strauss klagte: „Mein Lebenswerk ist zerstört, die deutsche Oper kaputt geschlagen, die deutsche Musik in das Inferno der Maschine verbannt, wo ihre gequälte Seele ein armseliges Jammerdasein fristet. Mein liebes schönes Wiener Haus, auf das ich so stolz war, in Schutt und Asche – meine Werke werde ich auf dieser Welt nicht mehr hören und sehen. […] Na, Schwamm drüber! Über Alles!“ Auch über seine eigene Unfähigkeit zu trauern und die wahre Dimension der Katastrophe einzugestehen? Strauss blieb bis zuletzt Gefangener seiner Egozentrik, er lamentierte über sein persönliches Unglück, ohne zu analysieren, wie es dazu kommen konnte. In seiner schriftlichen Hinterlassenschaft stellt er sich nirgends die Frage, ob sein Verhalten wirklich richtig war oder ob er nicht etwas hätte anders machen sollen. Wäre das zu viel verlangt gewesen?

Susanne Stähr

Lieder, Lärm und Lustigkeit – Goebbels bei den Philharmonikern?


Ich schätze die Berliner Philharmoniker sehr. Sie gehören zu den weltbesten Orchestern. Deshalb bin ich regelmäßig bei ihnen zum Konzert.
Heute allerdings komme ich nachdenklich nach Hause. Heute gab es Richard Strauss. Den ganzen Abend. Das Orchester zeigte, was es musikalisch „drauf“ hat – und glänzte wie gewohnt.
Die Freude wurde allerdings getrübt.
Unter der Überschrift „Lieder, Lärm und Lustigkeit – Ein Strauss für alle Gelegenheiten“ konnte man im Programmheft, für das Susanne Stähr den Einführungstext geschrieben hat Seltsames lesen.
Ich zitiere:
„Gelegenheitswerke haben es nicht leicht, sich im aktiven Konzertrepertoire zu behaupten. Es haftet ihnen der Verdacht an, sie seien nicht für die Ewigkeit, sondern für einen bestimmten Moment entstanden: als tönender Geburtstagsgruß und Einweihungsfanfare, als Huldigungs- oder Dankadresse. Vor allem, wenn der Anlass, der bei der Geburt dieser Stücke Pate stand, im Nachherein einen gewissen Beigeschmack aufweist, wird die vorurteilsfreie Rezeption erschwert. So ist es Richard Strauss mit einigen Kompositionen ergangen, die er während der tausend braunen Jahre zwischen 1933 und 1945 geschaffen hat: Man denke nur an seine Olympische Hymne für die Berliner Spiele 1936 und an die Japanische Festmusik zum 2600-jährigen Bestehen des mit Nazi-Deutschland verbündeten japanischen Kaiserreichs. Auch die Festmusik der Stadt Wien muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Baldur von Schirach, „Reichsjugendführer“ und seit 1941 Statthalter von Wien, hatte 1942 den Beethovenpreis der Stadt Wien neu ausgelobt und mit 10.000 Reichsmark dotiert – ein Propagandainstrument in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht. Als erster Preisträger wurde Richard Strauss ausersehen: Er nahm die Würdigung am 16. Dezember im Wiener Rathaus entgegen und revanchierte sich postwendend für die Ehre mit der Komposition der Festmusik für Blechbläser und Pauken, die er am 9. April 1943 zur Feier des fünften Jahrestags von „Großdeutschland“ mit dem Wiener Trompetenchor uraufführte, als Jubiläumsgabe zum Einmarsch der Nazis in Österreich. So weit die Fakten.
Dass Strauss mit diesem Werk ein politisches Bekenntnis verbunden hätte, wäre indes zu weit gegriffen. Viel eher dürften ihn die Besetzung und die Interpreten interessiert haben…..“

Soweit das Zitat.
Der Text fährt dann fort mit der genaueren musikalischen Besprechung der Werke des Abends.
Nun hat Susanne Stähr einem Foto, das Richard Strauss mit Joseph Goebbels zeigt, immerhin eine Viertel Seite ihres sehr begrenzten Druckplatzes zur Verfügung gestellt, räumt dem Thema „Strauss und die Nazis“ also erhebliche Bedeutung ein.
Zunächst ist es gut, daß Susanne Stähr darauf hinweist, daß Richard Strauss und die Nazis ein durchaus enges Verhältnis hatten: er hat Preise von ihnen angenommen, sie haben seinen Erfolg für ihre Zwecke benutzt. Er hat sich mit Stücken für diese Preise bei ihnen bedankt, sie haben seine Stücke anlässlich von Jahrestagen für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Es ist ein schwieriges Kapitel, das Kapitel über „Nazis und die Künstler“. Denn es gab natürlich nicht nur Künstler, die mit den Nazis kollaborierten, sondern es gab auch Künstler, deren Werke man verbrannte, die ausgewiesen wurden, Publikationsverbot hatten und anderes mehr. Der blog hier ist nicht ausreichend, um das schwierige Verhältnis von Richard Strauss zu den Nazis hinreichend zu beleuchten, er genügt auch nicht, um das umfassendere Kapitel „Die Nazis und die Kunst“ darzustellen.
Aber auf den Abend in der Philharmonie will ich dennoch eingehen.
Denn, so ist zu fragen, wieso hat Susanne Stähr so formuliert, wie sie formuliert hat? War es Nachlässigkeit? Oder Absicht?
Sie schreibt: „Baldur von Schirach…..hatte 1942 den Beethovenpreis….neu ausgelobt….ein Propagandainstrument in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht.“
Sie schreibt das ohne Anführungszeichen. Was soll das heißen: „….in schwerer Zeit, dem Ruhm der deutschen Kunst zugedacht“? Teilt sie diese Auffassung der Nazis? Teilt sie sie nicht? Wenn nicht, weshalb dann keine Anführungszeichen, um ihren inneren Abstand zur Denkweise der Nazis deutlich zu machen?
Nachdem sie dargestellt hat, daß sich Strauss mit seiner „Festmusik“ für diesen Preis „postwendend bedankt“ hat, schreibt sie: „Dass Strauss mit diesem Werk ein politisches Bekenntnis verbunden hätte, wäre indes zu weit gegriffen.“
Das behauptet sie, ohne den Satz zu begründen.
Aber genau die Begründung wäre für das internationale Publikum des Abends durchaus interessant gewesen!
Wie kommt sie zu der Vermutung, es handele sich bei jenem Stück nicht um ein politisches Bekenntnis, wo er es doch, ihren eigenen Worten folgend, „postwendend“ als „Dank“ an die Nazis komponiert hat?
Die Sache spielt in den Jahren 1942 und 1943; die Kristallnacht war vorüber, der Krieg kam ins Stocken – allmählich dämmerte etlichen Deutschen, was es mit den Nazis denn wirklich auf sich hatte. Strauss komponierte für die Nazis weiter.
Kein „politisches Bekenntnis“? Mich würden die Gründe für diese Behauptung interessieren. Aber genau diese Gründe verschweigt Susanne Stähr.

Wir haben in der Pause mit anderen Konzertbesuchern darüber gesprochen. Auch sie waren schlicht empört.
Der Begleittext zum Konzert – extra geschrieben für dieses Programm – kommt dermaßen unkritisch und harmlos daher, daß einem die Haare zu Berge stehen. Statt den wenigen Platz zu nutzen, um ihre These wenigstens in Andeutungen zu begründen, druckt sie den Herrn Goebbels ab, wie er mit dem Richard Strauß verhandelt.
Was soll soetwas?

Das ganze steht unter der Überschrift: „Lieder, Lärm und Lustigkeit“ (linke Seite) – direkt gegenüber (rechte Seite) das große Goebbels-Bild.
Gibt es eigentlich eine Redaktion bei den Philharmonikern?
Ich muss sagen, ich bin ärgerlich über solche Nachlässigkeit!
Nun war der ganze Abend Richard Strauss gewidmet – auch das eine Ausnahme in den Konzerten, die sonst Werke verschiedener Künstler zur Aufführung bringen.
Wenn aber der ganze Abend nur einem Komponisten gewidmet ist – der wiederum ein, sagen wir es vorsichtig, „schwieriges Verhältnis“ zu den Nazis pflegte – dann muss man zu diesem Verhältnis eben mehr sagen, als das, was da zu lesen ist!

Ich habe mir für einen Moment vorgestellt, wie ein Besucher, sagen wir aus Polen oder Israel, dieses Programmheft in die Hand nimmt. Er schlägt es auf, sieht den Goebbels da hocken, wie er mit dem Strauss konferiert und findet die „Erklärung“ des Abends auf der gegenüberliegenden Seite: „Lieder, Lärm und Lustigkeit. Ein Strauss für alle Gelegenheiten.“

Ich finde, soetwas geht nicht, liebe Freunde von der Philharmonie!
Ich wünsche mir ein wenig mehr Sorgfalt!