Es war ja schon verdächtig, daß wir in den Zeiten der Diktatur freiwillig russische Literatur lasen.
Denn in Zeiten der Diktatur war russische Literatur offiziell verordnet. Man musste sie in der Schule lesen. In Auswahl, versteht sich. Man las Lenin vor allem, aber auch Literatur – die offizielle. Scholochow zum Beispiel. Ostrowski, später auch Dsingis Aitmatow.
Wir aber lasen die Russen – freiwillig. Und eine Welt tat sich auf.
Schon bei Michail Bulgakow („Der Meister und Margarita“) wurde es interessant. Denn plötzlich kam die Religion ins Spiel. Und die passte den Oberen überhaupt nicht in den Kram.
Aber Lew Tolstoi?
Gut. Die „großen“ Stücke: „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Kreutzersonate“ und anderes wurden auch „offiziell“gelesen. Zwar nicht in der Schule oder im Studium, und wenn, dann eher oberflächlich. Man „kannte“ diese Sachen vom Tolstoi, gewiß. Aber verstand man ihn?
Denn mit seinem Pazifismus hatten die Oberen nicht viel im Sinn. Das galt als dekadent, als unpolitisch, als „bürgerlich“ (was zu Zeiten der Diktatur immer ein Schimpfwort war), als „nicht klassenbewußt“.
„Bürgerlich“ hieß so viel wie: „das ist von gestern“.
Um so spannender wurde es also, den großen Russen genau zu studieren. Wir lasen sozusagen gegen das an, was die Oberen uns weismachen wollten.
Romain Rolland ging voran. Ich war über Stefan Zweig zu ihm gekommen.
Nun lag sein Buch „Das Leben Tolstois“ auf dem Tisch und ließ nicht mehr locker.
Die Fährte führt zu Gandhi. Doch davon später.
„Im November 1853 war der Türkei der Krieg erklärt worden. Tolstoi meldete sich zur Donau-Armee, dann ließ er sich zur Krim-Armee beordern und kam am 7. November 1854 in Sewastopol an. Er brannte vor Begeisterung und patriotischem Glauben. Er erfüllte tapfer seine Pflicht und befand sich oft in Gefahr….“ (Romain Rolland, Das Leben Tolstois, Rütten & Loening 1974, 37). Die „Sewastopoler Erzählungen“ entstanden. Patriotisch die erste und die dritte, doch in der zweiten schildert er den Tod Praskuchins. „Zwei ganze Seiten sind dort der Beschreibung dessen gewidmet, was in der Seele des Unglücklichen in der Sekunde vor sich geht, in der die Granate am Boden liegt und leise zischt, bevor sie krepiert – und eine ganze Seite schildert das, was in ihm vor sich geht, nachdem sie krepiert ist und ein Splitter ihm mitten in die Brust gedrungen war und ihn getötet hatte“. (Rolland, a.a.O., S. 41). „Und der Christ Tolstoi vergißt den Patriotismus seiner ersten Erzählung und verflucht den ruchlosen Krieg:
„Und diese Menschen, alles Christen, die sich zu ein und demselben erhabenen Gesetz der Liebe und Selbstlosigkeit bekennen, sollten angesichts dessen, was sie angerichtet haben, nicht von Reue ergiffen werden und impulsiv vor demjenigen auf die Knie sinken, der, als er ihnen das Leben schenkte, in die Seele eines jeden zugleich mit der Furcht vor dem Tode auch die Liebe zum Guten und Schönen gelegt hat? Sie sollten sich nicht unter Tränen der Freude und des Glücks in die Arme fallen wie Brüder?“ (Rolland, a.a.O. S. 42).
Um sich mehr der Literatur widmen zu können, bittet Tolstoi 1865 um den Abschied aus der Armee und reist von Januar bis Juli 1857 nach Frankreich, in die Schweiz und nach Deutschland.
„Er glaubte an den Fortschritt…. . Ihm war, als drücke dieses Wort etwas aus. ….Aber diese Reise ins Ausland brachte diesen Glauben zum Einstürzen. So bewies ihm am 6. April 1857 in Paris der Anblick einer Hinrichtung davon, wie hinfällig sein Aberglaube an den Fortschritt war.
Als ich sah, wie sich der Kopf vom Körper trennte und dann mit dumpfen Geräusch auf dem Boden des Korbes aufschlug begriff ich – nicht mit dem Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen-, daß keine Theorie von der Vernunft der bestehenden Ordnung und des Fortschritts diese Handlungsweise rechtfertigen könne, und wenn auch die ganze Menschheit auf Grund irgendwelcher Lehrsätze, die seit Erschaffung der Welt aufgestellt wurden, behaupten würde, so etwas sei notwendig, so wüßte ich doch, daß so etwas nicht notwendig ist, daß so etwas schlecht ist. Denn nicht, was die Leute sagen und tun, und auch nicht der Fortschritt entscheidet darüber, was gut und notwendig ist, sondern mein Herz.“ (Tolstoi: Meine Beichte; zitiert bei Rolland, a.a.O. S. 49).
Das war Sprengstoff in Zeiten der Diktatur.
Denn plötzlich konnten wir einen Kompass sehen, der es uns ermöglichte, im Alltag der Diktatur irgendwie auf dem Weg zu bleiben.
Wir lasen und lasen, wir lauschten, hörten zu, nahmen auf, was unser dieser großartige Russe zu sagen hatte.
Und gelangten am Ende zu jenem legendären Brief, den Tolstoi am 7. September 1910 an Gandhi schrieb, zwei Monate vor seinem Tod:
An M.K. Gandhi, Johannesburg, Transvaal, Südafrika.
7. September 1910, Kotschety.
Ich habe Ihre Zeitschrift Indian Opinion erhalten und freute mich, kennenzulernen, was darin über die Anhänger des Verzichtes auf alle Gegenwehr durch Gewalt geschrieben wird. Zugleich überkam mich das Verlangen, Ihnen die Gedanken auszudrücken, die durch die Lektüre in mir erweckt wurden.
Je länger ich lebe – und besonders jetzt, da ich den Tod deutlich herannahen fühle -, desto stärker drängt es mich, auszusprechen, was ich vor allem andern lebhaft empfinde und was meiner Meinung nach von ungeheurer Wichtigkeit ist: es handelt sich darum, was man den Verzicht auf allen Widerstand durch Gewalt heißt, worin sich aber letzten Endes nichts anderes ausdrückt, als die durch Truggespinste noch nicht entstellte Lehre vom Gesetz der Liebe. Die Liebe, mit anderen Worten das Streben der Menschenseelen nach Vereinigung und ihr daraus sich ergebendes Verhalten untereinander, sie stellt das höchste und einzige Gesetz des Lebens dar – das weiß und fühlt ein jeder in der Tiefe seines Herzens (wie wir es am deutlichsten an den Kindern sehen); er weiß es, solange er nicht in die Lügennetze weltlichen Denkens verstrickt ist. Dieses Gesetz ist von allen Weltweisen, den indischen sowohl wie den chinesischen und jüdischen, den griechischen und römischen, verkündet worden. Am klarsten ist es, glaube ich, von Christus ausgesprochen, der geradezu sagte, daß darin alles Gesetz und die Propheten enthalten seien. Doch nicht genug damit, in Voraussicht der Verzerrung, die dieser Erkenntnis widerfährt und jederzeit widerfahren kann, wies er ausdrücklich auf die Gefahr einer Entstellung hin, wie sie Leuten naheliegt, die von weltlichen Interessen leben, nämlich daß solche sich das Recht nehmen könnten, ihre Interessen mit Gewalt zu verteidigen oder, wie er es ausdrückt, Schlag mit Schlag zu vergelten, sein entwendetes Eigentum mit Gewalt zurückzuholen und so weiter und so weiter. Er wußte, wie es jeder verständige Mensch wissen muß, daß jede Anwendung von Zwang unvereinbar mit der Liebe als dem höchsten Lebensgesetz ist und daß, sobald Vergewaltigung auch nur in einem einzigen Fall als zulässig erscheint, damit zugleich dies Gesetz negiert wird. Die ganze, äußerlich so glanzvolle, christliche Zivilisation erwuchs aus diesem offenbaren und seltsamen, zum Teil absichtlichen, größtenteils aber unbewußten Mißverständnis und Widerspruch. Im Grunde aber galt das Gesetz der Liebe nicht mehr und konnte nicht mehr gelten, sowie daneben die Abwehr mittels Gewalt gestellt wurde – galt aber einmal das Gesetz der Liebe nicht, so gab es überhaupt kein Gesetz außer dem Recht des Stärkeren. So lebte die Christenheit durch neunzehn Jahrhunderte hindurch. Allerdings ließen sich die Menschen zu allen Zeiten von der Gewalt als oberstem Prinzip in ihrer Gesellschaftsordnung leiten. Der Unterschied zwischen den christlichen und allen anderen Nationen bestand nur darin, daß im Christentum das Gesetz der Liebe so klar und bestimmt gegeben war wie in keiner anderen Religion und daß seine Anhänger sich feierlich dazu bekannten, trotz alledem aber Gewaltanwendung für zulässig erachteten und ihr Leben auf Vergewaltigung gründeten; daher ist das Leben der christlichen Nationen ein einziger großer Widerspruch zwischen dem, was sie bekennen, und dem, worauf sie ihr Dasein aufbauen: ein Widerspruch zwischen der Liebe, die das Gesetz des Handelns vorschreiben soll, und der Vergewaltigung, die unter verschiedenen Formen anerkannt wird, als da sind: Regierungen, Gerichte und Militär, die als notwendig hingestellt und gepriesen werden. Dieser Widerspruch verschärfte sich mit der Entwicklung des geistigen Lebens der Christenheit, und er ist in der letzten Zeit zur höchsten Spannung gediehen. Die Frage steht jetzt so: eins von beiden müssen wir wählen; entweder zugeben, daß wir überhaupt keine religiöse Sittenlehre anerkennen und uns nur vom Recht des Stärkeren in unserer Lebensführung bestimmen lassen, oder fordern, daß alles zwangsweise Erheben von Abgaben eingestellt, all unsre gerichtlichen und polizeilichen Institutionen und vor allem das Militär aufgehoben werden.
In diesem Frühjahr prüfte beim Religionsexamen an einem Töchterinstitut Moskaus zuerst der Religionslehrer und dann der gleichfalls anwesende Erzbischof die Mädchen über die zehn Gebote und im besonderen über das fünfte. Auf das richtige Hersagen des Gebotes hin stellte der Erzbischof jeweils meist noch die Frage: ist das Töten immer und in allen Fällen durch das Gesetz Gottes verboten? Und die unglücklichen, durch ihre Lehrer verdorbenen Mädchen mußten antworten und antworteten auch: nicht immer, denn im Kriege und bei Hinrichtungen darf getötet werden. Als aber einem dieser unglücklichen Geschöpfe (was ich erzähle, ist keine Anekdote, sondern tatsächlich passiert und mir von einem Augenzeugen berichtet) die übliche Zusatzfrage gestellt wurde, ob denn das Töten immer Sünde sei, da wurde das Mödchen rot und entgegnete erregt und entschieden: „Ja, immer!“ Und auf all die herkömmlichen Sophismen des Erhzbischofs blieb es unerschütterlich dabei: Töten sei unter allen Umständen untersagt, auch schon im Alten Testament, Christus aber habe nicht nur zu töten verboten, sondern überhaupt dem Nächsten Böses zu tun. Der Erzbischof in all seiner Majestät und Redegewandtheit verstummte, und das Mädchen behielt den Sieg.
Ja, wir können in den Zeitungen von unsern Fortschritten in der Beherrschung der Luft schreiben, von verwickelten diplomatischen Beziehungen, von verschiedenen Klubs, von Entdeckungen, von allerhand Bündnissen, von sogenannten Kunstwerken, und wir mögen darüber hinweggehen, was jenes Mädchen entgegnete: totschweigen können wir es jedoch nicht, weil es ein jeder Christenmensch fühlt, mag er es auch noch so unklar fühlen. Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Heilsarmee, Zunahme von Verbrechen, Arbeitslosigkeit, der wachsende widersinnige Luxus der Reichen und die Verelendung der Armen, das furchtbare Anschwellen der Selbstmordzahlen, all das sind Merkmale jenes inneren Widerspruches, der gelöst werden muß und gelöst werden wird. Und selbstverständlich so gelöst werden muß, daß das Gesetz der Liebe anerkannt und jede Gewaltanwendung verworfen wird. Daher steht Ihre Wirksamkeit in Transvaal, das für uns am Ende der Welt liegt, dennoch im Mittelpunkte unserer Interessen und stellt die wichtigste Betätigung dar, an der die Welt augenblicklich teilnehmen kann und woran nicht nur die christlichen, sondern alle Völker der Welt teilnehmen werden.
Ich denke, es wird Sie freuen, zu hören, daß auch bei uns in Rußland eine solche Agitation schnell um sich greift, daß die Weigerungen, Militärdienst zu leisten, sich von Jahr zu Jahr mehren. Wie gering auch bei Ihnen noch die Zahl derjenigen ist, die auf alle Gegenwehr mit Gewalt verzichten, und wie klein auch bei uns die Anzahl der Leute, die jeden Heeresdienst verweigern – die einen wie die andern dürfen sich sagen: Gott ist mit uns. Und Gott ist mächtiger denn die Menschen.
In dem Bekenntnis zum Christentum, wenn auch nur zu einem derart entstellten Christentum, wie es bei uns gelehrt wird, und in dem Glauben zugleich an die Notwendigkeit von Heeren und ihrer Ausrüstung zu Schlächtereien allergrößten Maßstabes, darin liegt ein solch offenbarer, himmelschreiender Widerspruch, daß er über kurz oder lang, wahrscheinlich aber sehr bald in voller Nacktheit zutage treten muß; das aber wird entweder die christliche Religion vernichten, die zur Aufrechterhaltung der Staatsgewalt nicht zu entbehren ist, oder es wird das Militär und alle damit verbundene Gewaltanwendung, die der Staat nicht weniger benötigt, hinwegfegen. Diesen Widerspruch empfinden alle Regierungen, Ihre britische ebensowohl wie unsere russische, und daher wird die Erkenntnis dieses Widerspruchs von den Regierungen aus Selbsterhaltungstrieb energischer verfolgt als jede andere staatsfeindliche Tätigkeit, wie wir es in Rußland erlebt haben und wie es aus den Aufsätzen Ihrer Zeitschrift hervorgeht: die Regierungen wissen, woher ihnen die größte Gefahr droht, und wahren mit wachsamem Auge in dieser Hinsicht nicht mehr bloß ihre Interessen, sondern kämpfen hier geradezu um ihr Sein oder Nichtsein.
Mit vorzüglicher Hochachtung.
Lew Tolstoi“
(Romain Rolland, a.a.O. S.214-216).
Man kann vielleicht ahnen, wie ein solcher Text in einer Diktatur wirken musste, die glaubte, in allem Recht zu haben.
Dieser Text stellte die Machtfrage.
Und er hatte Wirkungen. Viele der jungen Menschen, mit denen ich damals Anfang der achtziger Jahre jenen Text las und besprach, waren aktiv und taten das Ihre zum Fall der Mauer.
Ich will diesem Brief hier nicht mehr viel hinzufügen, nur soviel sagen:
Heute, im Kriegsjahr 2010, in dem uns Kanzlerin, Minister und andere wieder weismachen wollen, wir hätten „die Freiheit Deutschlands“ am Hindukusch zu „verteidigen“, erinnern wir uns an den großen Russen Lew Tolstoi, der uns schon so lange Jahre im Leben ein Wegweiser und eine Orientierung war und weiterhin ist.
Wir werden denen nicht folgen, die uns weismachen wollen, wir hätten unsere Freiheit zu verteidigen in Afghanistan.
Deutschland hat keine Feinde in Afghanistan.
Dort leben Menschen muslimischen Glaubens, Angehörige der Bruderreligion des Christentums.
Wir werden nicht dem „Recht des Stärkeren“ folgen, sondern wir folgen dem, was uns die Suttner, Stefan Zweig und Lew Tolstoi auf den Weg gegeben haben und was jener Erzbischof nicht glauben wollte:
„Töten ist immer und in jedem Fall untersagt.“
Deshalb müssen die Soldaten der Bundeswehr zurückgezogen werden aus Afghanistan.
Je schneller. Je besser.