Wenn du mit Trümmer-Bildern aufgewachsen bist, prägt das dein ganzes Leben.


Nur 12 Jahre nach Kriegsende bin ich im Süden Brandenburgs auf die Welt gekommen. In diesem Jahr werde ich 60. Und heute habe ich – wieder einmal – den Ort meiner Vorfahren besucht: Gartz an der Oder. Meine Großmutter mütterlicherseits stammt von dort aus einer alten Bauernfamilie. Vater und Mutter wurden dort geboren. Uckermärkische Wurzeln also. Als ich vor nun beinahe 6 Jahren in die Uckermark kam, war da diese Entdeckung: da hatte sich ein Lebenskreis geschlossen. Ich war wieder in der Gegend, in der meine Vorfahren mal angefangen hatten.
Gartz also.
img_0261Meine Großmutter, Jahrgang 1902, wohnte in der Großen Mönchenstraße 360. Kurz vor der Wende haben wir das Haus verkauft. Heute wohnen mehrere Mietparteien darin.
Großmutter kannte noch die Zeiten „unter dem Kaiser“, wie sie sagte. Als der Erste Krieg begann, war sie 12. Sie hat den Zeppelin über Gartz gesehen als Kind und konnte sich an die „Zigeuner“ erinnern, die auf der Plane ihres Wagens den Untergang der Titanic gemalt hatten. Neuigkeiten wurden per Planwagen in die Ortschaften getragen. Meine Großmutter hatte eine Großmutter, die „in der Franzosenzeit“ mal betrunkene französische Offiziere aus dem Gastraum geworfen hat, den sie betreute.
Meine Mutter, Jahrgang 1926, ist hier aufgewachsen. Ging hier zur Schule. Später zur Handelsschule nach Stettin. Der große Garten des Hauses in der Großen Mönchenstraße ging hinunter direkt bis an die Oder. Großmutter erzählte, wie sie als Kind noch Wasser holen musste für’s Vieh. In Holzeimern am Trageholz über der Schulter, in Holzpantinen.
Gartz war mal ein schönes Ackerbauernstädtchen, mit einem eigenen Gymnasium, mit einer Lehrerbildungsanstalt. Mit einem Kino.
Heute ist davon nicht mehr viel.
Denn da war die Zeit, als „der Verrückte“ regierte, wie sich die Großmutter ausdrückte. „Der Adolf“ und „der Teufel“, damit war Goebbels gemeint.
Heute gehe ich über das uralte Kopfsteinpflaster dieses ehemals schönen Ackerbauernstädchens oben am Steilufer der Oder und habe alle diese Geschichten im Sinn, die meine Kindheit geprägt haben. Ich höre das helle Lachen meiner Mutter und das verschmitzte Lachen meiner Großmutter, wenn sie mal wieder „Gartzer Geschichten“ erzählte. Die von den Fischern zum Beispiel, die sich nach dem Fang die Beute teilten. Der Klügere teilte so: „Du’n Pitzker, ick’n Aal. Ick’n Aal un du’n Pitzker“. Pitzker waren die kleinen Fische. Und Aal aß man gern. In allen Variationen.
Und Tabak hat sie gefädelt die Großmutter. Auf dem Hof in der Großen Mönchenstraße 360. Seit 1900 gab es unten am Wasser auch den neuen Speicher, in dem der Tabak getrocknet und verarbeitet wurde.
Als ich zum ersten Mal diese Straßen ging, als kleines Kind noch an der Hand meiner Mutter, da gab es dieses ehemals schöne Ackerbauernstädtchen nicht mehr. 90% des Ortes waren zerstört.
Es war ein Freitag, der 20. April 1945, vier Wochen vor Ende des Krieges, als die Zerstörung über den Ort hereinbrach. „Die Russen“, wie man damals sagte, lagen schon längere Zeit am anderen Ufer der Oder. Aber nun griffen sie an, weil sich die Stadt nicht ergeben wollte. Und machten sie „platt“.
Durch die Ruinen bin ich als Kind gelaufen. Mein zwei Jahre älterer Bruder auch. Es gibt Fotos davon.
Ich bin mit Bildern von Ruinen groß geworden. Der Krieg war ja gerade mal erst 12 Jahre her.
Das hat mein Leben geprägt.
Diese verdammten 12 Jahre und vor allem ihre Folgen haben mein Leben geprägt. Immer und immer wieder habe ich mich mit dieser Zeit, ihren Ursachen, ihren Entwicklungen, ihren handelnden Personen, den Daten, den Quellen und vor allem dem vielen vielen Elend befasst.
Gegenwärtig arbeite ich an einer oral-history-Bibliothek, in der Lebensläufe von Kriegskindern erfasst werden, der Generation meiner Eltern also, obwohl, die waren ja am Ende des Krieges schon beinahe erwachsen.
Meine Mutter war 18, als sie „auf die Flucht ging“, wie man sagte und sagt.
Sie hatte eigentlich schönes langes Haar, manchmal in dicke Zöpfe geflochten. Aber nun, im April 1945, da hatte man ihr die Haare abgeschnitten, sie in Hosen für Jungs und in eine Jacke gesteckt, weil die Menschen Angst hatten vor „den Russen“. Konkret: vor Vergewaltigung.
Großmutter hat an seltenen Tagen manchmal etwas angedeutet von dem, was in jenen Tagen geschehen ist am Ostrand der Uckermark. Sehr konkret geworden ist sie nicht.
Die Eltern haben so gut wie nie über diese Zeit gesprochen. Und wenn, dann nur sehr kurz und nur auf Nachfrage.
Als ich Kind war, waren da nicht nur die Ruinen von Gartz an der Oder, da waren auch noch die Flüchtlinge im Dorf im Süden Brandenburgs. Und der ehemalige Soldat, der nun als „Holzhacker“ seinen Lebensunterhalt verdienen musste.
Man könnte meinen, ich sei in einer „idyllischen“ Kindheit mitten in den brandenburgischen Wäldern aufgewachsen, was äußerlich auch zutrifft.
Aber zur Wahrheit gehört: ich bin mit diesen Ruinen-Bildern aufgewachsen. Und sie wurden zu einem bestimmenden Lebens-Thema. Es hat mich begleitet in der Jugend, es hat mich begleitet im Studium und dann ein Leben lang.
img_0282Heute stand ich vor dem Rest der einst schönen Kirche in Gartz an der Oder und hatte alle diese Geschichten im Sinn.
In dieser Kirche wurde meine Großmutter getauft und konfirmiert, hier wurde sie getraut. Meine Mutter wurde hier getauft und konfirmiert, mein Vater wurde hier getauft. Hier liegen „meine Wurzeln“.
Was heute von dieser ehemals schönen Kirche noch zu sehen ist, sieht aus wie ein hohler Zahn. Ein Turm, dann mehr oder weniger nichts, dann ein überdachter Hoher Chor. Man hat die Ruine wieder nutzbar gemacht, das schon. Aber sie ist eben nach wie vor nur der Rest einer ehemals schönen Kirche im Ackerbauernstädtchen Gartz an der Oder.
Und sie ist deshalb eine Ruine, weil da diese Völkischen waren, die glaubten, „die Deutschen“ müssten „die ersten“ sein in Europa und in der Welt.
Diese Völkischen, die alles ausrotteten, was „volksfremd“ war und „ungesund für den Volkskörper“.
Diese Völkischen, deren politische Wurzeln weit zurückreichen, waren ein wichtiger Quellgrund für den Nationalsozialismus, diese perfekte Organisation des Massenmordes.
Wenn ich vor der alten Gartzer Kirche stehe, geht mir das alles durch den Sinn.
Niemals mehr dürfen die Völkischen an die Macht kommen. Niemals mehr.
Egal, wie sie heißen, ob sie sich „AfD“ oder „Le Pen“ nennen, ob sie Wilders heißen oder Höcke, ob Gauland oder wie auch immer.
Diese Leute dürfen niemals wieder an die politische Macht kommen.
Wir können nämlich sehen, was dabei heraus kommt:Ruinen.
Mittlerweile gibt es – glücklicherweise – viel Literatur über uns Kriegsenkel. Es gibt Vereinigungen, auch von Seelenkundigen, die sich – endlich – mit den Folgen des Krieges auf die Generation der Kinder und Enkel befassen.
Ich kann von mir eines sagen:
Es gibt ein Grundgefühl, das für mich mit dieser Zeit unauflösbar zusammenhängt und das zu meinem Leben gehört, wie jene Gartzer Ruine zu meinem Leben gehört.
Trauer.
Und aus dieser Trauer erwächst an manchen Tagen Zorn. Nicht Wut, nein, Wut nicht. Aber Zorn.
Und zwar Zorn über diese unsägliche Gedankenlosigkeit, die uns allenthalben heutzutage wieder entgegenschlägt, wenn es gegen „den Islam“, gegen „die Flüchtlinge“, „gegen Zuwanderung“, „für Abschiebung“ geht.
Wie seelisch verwirrt und verdorben muss man eigentlich sein, dass man Gedanken wieder Raum gibt, die für alle die noch heute zu besichtigenden Ruinen verantwortlich sind?
Diese reiche und übersatte Republik gibt sich leichtfertig einem Denken hin, das Ursache für übergroßes Elend geworden ist. Man bunkert sich ein. Man zieht Mauern und Zäune, man grenzt aus, man wehrt andere sogar mit Waffengewalt ab.
Obwohl es einem äußerlich sehr gut geht.
Deutschland ist wirtschaftlich die stärkste Nation innerhalb des europäischen Verbundes. Und das Land hat – dank hunderttausender ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer – auch viel Gutes getan.
Aber: Deutschland steht in der Gefahr, das alles leichtfertig wieder zu verspielen.
Aus Angst und aus Gedankenlosigkeit. Und, weil man sich bislang noch zu wenig um die Trümmer in den Seelen der Menschen gekümmert hat, die mit den Bildern der Ruinen aufgewachsen sind. Man hat in den fünfziger Jahren geglaubt, das Elend des Völkischen sei durch materiellen Wohlstand zu überdecken.
Aber das war ein großer Irrtum.
Aufgabe unserer Eltern war es, den äußeren Schutt nach dem Kriege zu beseitigen.
Unsere Aufgabe ist es, die Trümmer in den Seelen der Menschen aufzuräumen.
Zu allererst in der eigenen Seele.
Wenn wir nicht genau anschauen, was uns geprägt hat, wenn wir diesen „Schatten“ nicht wirklich anschauen, bis er zu sprechen beginnt. Wenn wir „die Geschichten“ nicht endlich erzählen und das Geschehene auch betrauern, dann besteht die große Gefahr, dass wir sie wiederholen.
Man kann die Seele nicht betrügen.
Deshalb: schaut euch die Ruinen an. Sie sind große Lehrmeister.

4 Gedanken zu “Wenn du mit Trümmer-Bildern aufgewachsen bist, prägt das dein ganzes Leben.

  1. „Aufgabe unserer Eltern war es, den äußeren Schutt nach dem Kriege zu beseitigen.“
    So ist es wohl. Nicht leicht, aber notwendig.

    1. Sehr schön die Eingrenzung „äußerer Schutt“. Das ist auch eine Leistung, die man nicht schmälern sollte. Doch an den „inneren Schutt“ hat man sich nicht rangetraut, auch später kaum. Die Seilschaften waren immer noch „kameradschaftlich“ bis zur Kumpanei. Für manche stand der äußere Wiederaufbau – gerade der zerstörten historischen Bauten – dafür, dass alles wieder in Ordnung und eigentlich nichts Weltbewegendes geschehen sei. – Ich vergesse nicht, wie meine Mutter, ehemaliges Parteimitglied, beim Besuch in Yad Vashem mental überwältigt und körperlich überfordert war.

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