Die Veränderung vollzieht sich seltsam still.
Ein Video steht seit Tagen im Netz. Es zeigt, wie Öl aus defekten Rohren tief unten im Meer aufsteigt.
Still.
Es strömt.
Stunde um Stunde.
Eine Gruppe im Internet, die sich mit dem Skandal um die „Deep Water Horizont“ nicht abfinden will, schickt eine interaktive Landkarte und kommentiert: „Wir sind verbunden. So, wie das Öl New Orleans erreichen kann, so kann es auch deine Heimatstadt erreichen.“
„We are connected“.
Das ist wahr.
Was da an Amerikas Küste geschieht, betrifft uns direkt. Denn es ist unser Lebensstil, der dieses Leck da unten am Meergrund verursacht hat. Es ist unsere Unersättlichkeit, der Aberglaube an die Chancen eines blinden Wachstums, dessen Energiequelle das Erdöl ist.
Nun sind bislang alle Versuche gescheitert, den Defekt wieder zu reparieren. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Fachleute meinen, es könnte bis August noch so weitergehen. Der bisher bereits eingetretene Schaden ist schon ungeheuerlich. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was ein weiteres Ausströmen bis August bedeutet.
In Deutschland hat – zum ersten Mal in der Geschichte der Republik – ein Bundespräsident sein Amt zurückgegeben und ein politisches Erdbeben ausgelöst.
Er hat den Rücktritt unter anderem mit „fehlendem Respekt vor dem Amt“ begründet.
Das Ansehen der Politikerkaste ist schlecht wie nie.
Die Regierung ist schon nach einem halben Jahr Arbeit wie paralysiert.
Eine Krise jagt die nächste.
Und der Graben zwischen der gewaltigen Macht des Internets und den real gewählten Parlamenten wächst von Stunde zu Stunde.
Neue Mehrheiten bilden sich blitzschnell im Netz.
Sie bilden sich beinahe zufällig. Je nachdem, wie oft eine Nachricht weitergeleitet – retweeted – wird. Große blogs, auch große Zeitungen mit ihren online-Ausgaben sind die nicht gewählten „Beschleuniger“ dieses Prozesses.
Das alte Zusammenspiel der Kräfte in einer parlamentarischen Demokratie verändert sich gerade in dramatischer Weise.
Die Datenmenge wird in zehn Jahren um den Faktor 44 gestiegen sein. 90% davon Videos.
Nur wenige beginnen zu begreifen, was da eigentlich gerade vor sich geht.
Unsere Gesellschaft verändert sich in den Grundfesten auf fundamentale Weise.
Diese Veränderung kommt still daher.
Denn abgesehen von den unendlich vielen Musikvideos und Video“botschaften“ liegt die Kraft der Veränderung bei denen, die an ihren Rechnern, Laptops, Handys ihre „Botschaften“ eintippen.
Es ist – neben dem schier unendlichen und oft leeren „Geschwätz“, das da auch stattfindet, ein stilles Arbeiten.
Das Alte zerbricht.
Neues wird.
Wir können nur ahnen, was da entstehen könnte.
Die Chance: eine zusammenwachsende Welt mündiger Menschen, die es zunehmend lernt, sich als Teil des Kosmos zu begreifen und nicht als sein Herr.
Das anthropozentrische Weltbild kommt ganz offensichtlich an sein Ende.
Wir beginnen zu lernen, daß der Mensch nicht der Mittelpunkt des Lebens ist.
Wir beginnen eine neue Bescheidenheit zu lernen. Mühsam. In Trippelschritten.
Die Chance: eine zusammenwachsende Welt mündiger Menschen, die verbundenes Denken lernt:
„we are connected“: es gibt nichts mehr auf dieser Welt, das uns nicht im Kern selbst beträfe.
Weil wir verbunden sind.
Nicht zuletzt durch das „Netz der Netze.“
Noch ist völlig unklar, wie sich die alten, vertrauten, parlamentarischen Demokratien mit dem Phänomen der sich blitzschnell neu bildendenden Mehrheiten im Netz auseinandersetzen und mit ihm angemessen umgehen werden.
Im Moment versuchen einige Abgeordnete, wenigstens auch einen Twitter- oder Facebookaccount zu betreiben – meist tun es ihre Mitarbeiter.
Aber ein wirkliches Zusammenspiel zwischen der Bevölkerung draußen und den Gewählten in den Parlamenten ist das noch lange nicht.
Als mich heute jene interaktive Landkarte der Gruppe „boycott BP“ erreichte; als ich jenen Zähler laufen sah, der fortlaufend die gewaltige Menge ausgetretenden Tiefseeöls misst, die an die Oberfläche treten wird eines Tages; als ich versuchte, zu verstehen, was der Rücktritt des Bundespräsidenten – er sah vor allem das Ansehen des Amtes beschädigt, ihm fehlte der Respekt vor dem Amt – im tiefsten bedeutet in einer Krisensituation, wie sie Deutschland und Europa seit Jahren nicht erlebt haben – in diesem Moment fiel mir Mozart ein.
Er „fiel mir ein“, wie etwas in eine Schale fällt.
Jenes ungeheure „dies irae“ aus dem Requiem, das ich so viele Male gehört und auch mit musiziert habe.
Der „Tag des Zorns“, an dem das Alte zerbricht.
Komponiert in großartiger musikalischer Sprache.
Mozart hat ihn hören können, diesen „Tag des Zorns“. Und er hat aufgeschrieben, was er da hörte.
„Ich bin es nicht, der die Musik macht“ soll er mal gesagt haben. „Die Musik fließt durch mich hindurch“.
Er hat auf Notenpapier aufgeschrieben, was da aus der anderen Welt, mit der uns jede Musik verbindet (we are connected!) durch ihn strömte, als er den uralten Text aus der Apokalypse vom „Tag des Zorns“ vertonte.
Der Tag des Zorns, an dem das Alte zerbricht.
Ich habe es schon einmal erlebt, daß ein vertrautes politisches System, eine gewohnte Stabilität in Europa, ein System, das die Ideologen mit der Kategorie „ewig“ bezeichnet hatten – über Nacht in sich zusammenbrach.
Unsere Generation hat dieses Erlebnis entscheidend geprägt.
Über Nacht kann alles anders sein.
Wir haben die Erfahrung gemacht: plötzlich kann es sein, über Nacht. Und die Veränderung kann fundamental sein.
Nichts ist stabil. Politische Mehrheiten schon gar nicht.
Und doch begegne ich auch meinem Bedürfnis nach Sicherheit und Vertrautem. Möchte, daß alte Erklärungen ihre Gültigkeit behalten.
Doch ich spüre: die alten Erklärungen tragen nicht mehr.
Das Alte zerbricht.
Das, was da symptomatisch im Golf von Mexico vor sich geht;
die Art und das Tempo, wie das Internet gerade unsere parlamentarischen Demokratien verändert, verändern das gewohnte politische System in einer Dimension, für die ich noch gar kein rechtes Gefühl entwickeln kann.
Neues, unbekanntes Land liegt vor uns.
Fremde.
Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wie man bei Denkern aus Asien lernen kann: „Innen wie außen – außen wie innen“.
So, wie auch individuelle Krisen Grenzen aufzeigen; so, wie in individuellen Krisen nur unter Schmerzen Grenzen zerbrechen und Neues möglich wird; so ist es vielleicht auch in der Welt um uns herum.
Vielleicht erleben wir gerade in einem atemberaubenden Tempo, wie die alten Grenzen unsereres oft kleinkarierten und egozentrischen Denkens – „Hauptsache mein Golf hat noch Benzin….“ – gewaltig zerbersten.
Und Weltwirtschaftskrise; Rettungsschirm für die Banken; Griechenlandbürgschaft; abwertendes Rating selbst für Frankreich – sind nur ein anderes Synonom für „Deep Water Horizont“ und sein geborstenes System alter Rohre?
Solche Krisen lösen erhebliche Angst aus.
Denn das Land, das nun zu betreten ist, ist Neuland.
Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Deshalb kann es sein, daß nun Scharlatane versuchen, diese entstehende Unsicherheit und die Angst für ihre Interessen auszunutzen und Einfluss zu gewinnen.
Es kann sein, daß der Ruf nach dem starken Mann wieder lauter wird, der endlich mal „wieder Ordnung in dieses entstandene Chaos bringen“ soll.
Das ist nicht unwahrscheinlich, wenn man sich die politischen Prozesse in Europa gerade anschaut.
Es kann aber auch sein, daß sich da eine wachsende Schar mündiger Menschen auf den Weg macht, um jenes Neue Land zu erkunden, das da am Horizont sichtbar wird.
Ich halte es mit meinem verehrten Professor Klaus-Peter Hertzsch.
Der schrieb im Jahr 1989, als die alte Welt der Blöcke zerbrach und „neues Denken“ erforderlich wurde, anlässlich einer privaten Feier den Text für ein Lied, das in diesen Tagen auf neue Weise trägt:
„Vertraut den neuen Wegen“.
Es ist das jüngste Lied, das ins Gesangbuch der Evangelischen Kirche aufgenommen wurde.
Da ist es nun zu finden, neben den uralten Gesängen aus dem 6. Jahrhundert und den Liedern aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges; es steht neben den bewährten Melodien des 14. Jahrhunderts und den wunderbaren Texten aus dem 20. Jahrhundert.
Es ist im Grunde eine „alte“ Botschaft.
Neu gesagt.