Wer als Lesepate an einer Schule mithilft weiß: da kann immer mal etwas dazwischenkommen. Da kommt beispielsweise der Schüler nicht, weil die Klassenlehrerin krank ist, weil deshalb ein Vertretungslehrer gekommen ist, der aber nicht gleich alle Vereinbarungen wissen kann. Manchmal ist auch das Kind krank und der Informationsfluss ist nicht so, wie er vielleicht sein könnte. Dann sitzt der Lesepate oder die -patin, wartet zunächst auf das Kind, nimmt sich dann ein Buch oder geht eine Runde spazieren, bis die nächste Förderstunde gekommen ist und andere Kinder erwartet werden.
Sowas ist völlig normal und kann immer mal wieder vorkommen, Menschen sind schließlich keine Automaten.
Viel interessanter ist, was inhaltlich geschieht.
In der letzten Förderstunde las das Kind überraschend gut. Das Kind glaubt aber, es könne „das“ nicht. Nun, schauen wir mal nach, ob „das“ stimmt.
Ich hatte ein einfaches Märchen der Gebrüder Grimm mitgebracht. „Das kennen wir schon, das haben wir schon mal gelesen!“ kam gleich der Spontankommentar. „Ja, das weiß ich. Lass uns den Text aber nochmal lesen, dann fällt er uns bestimmt leichter, wir kennen ihn ja schon.“
Das Kind war einverstanden. Ich merkte schnell, daß es keine rechte Orientierung im Getümmel der Schriftzeichen hatte, die Zeilen „verrutschten“, Worte gerieten durcheinander – also musste ein Blatt Papier her, das wir unter die zu lesende Zeile legen konnten. Ah, na siehste, schon ging die Sache viel leichter vonstatten.
Dann war eine zusätzliche kleine Hilfe nützlich: ein spitzer Bleistift, der auf das zu lesende Wort zeigte – auch das verbesserte den Fluss des Lesens wieder um eine weitere Nuance, die Kinderaugen konnten besser fokussieren, um welche Zeichenansammlung, also, um welches „Wort“ es ging.
Für schwierige Worte hatte ich einen „Leseroboter“ vorbereitet: einen gemalten Klingelknopf, auf den das Kind im Notfall drücken konnte – dann las der „Leseroboter“ das schwierige Wort – ich also. Aber, wir brauchten den gar nicht, denn die Sache lief von ganz alleine recht flüssig. Und nach etwa einer Viertelstunde war die Seite gelesen. Aaaaaaber:
Das Kind verstand gar nicht, was es da eigentlich gelesen hatte!
Wir üben das nach jedem gelesenen Satz: „Kannst Du mir sagen, was wir da gerade gelesen haben?“ Kopfschütteln nach jedem Satz. Das Kind wusste reineweg gar nix.
Also erzählte ich den gelesenen Satz nach, damit das Kind mitbekam, wovon überhaupt die Rede ist. Mir dämmerte langsam, was mir eigentlich längst hätte klar sein müssen:
Da ist ein garstiger Graben zwischen a) dem abstrakten Zeichen auf dem Papier b) dem Klang dieser Zeichen und c) dem Umstand, dass diese Zeichen auch noch eine verflixte Bedeutung haben! Ein gewaltiger Graben tut sich da auf, der schwer zu überwinden ist!
Ich musste bei erfahrenen Pädagogen nachfragen, was da eigentlich in einem Kind, das Lesen lernt, vor sich geht.
„Ja, das ist ein großer Graben zwischen Lesen und Verstehen“ bestätigten mir alle Lehrer, mit denen ich darüber sprach. „Du mußt Dir vor allem eines klar machen: wenn das Kind einem relativ fremden Menschen gegenüber (also Dir als Lesepaten) einen Text liest, dann aktualisiert sich in seiner Emotionswelt alles an Enttäuschungs-Erfahrung, was dieses Kind schonmal erlebt hat. Es bekommt Angst, will auf gar keinen Fall „Fehler machen“, es strengt sich richtig an – und kommt unter enormen Stress, es will auf gar keinen Fall hören, was es schon so oft gehört hat: „Du kannst das nicht“; „Du lernst das nie“, „Was soll bloß aus Dir werden, wenn du nicht mal lesen kannst…..“ All das, was ein Kind, das besonders gefördert werden muss, schon hundertmal gehört hat. Wer aber unter solch enormem Stress liest – der kapiert gar nix. – Das Wichtigste ist also: sorge für Entspannung.“
Guter Tipp! „Sorge für Entspannung“. Das lässt sich einrichten. „Hier gibts keine Zensuren“; „hier sind wir nur ganz für uns und können uns Zeit lassen“; „wir können hier ganz einfach und ganz ohne Druck lesen und wenn mal was nicht gleich gelingt, ist das überhaupt gar kein Problem…..“
Und: „Lass das Kind wirklich kurze Sätze lesen. Das gibt ihm Erfolgserlebnisse – diese Erfolgserlebnisse stärken das Selbstvertrauen und helfen, sich weiter mit dem Lesen zu beschäftigen.“
Guter Tipp! „Verwende zunächst wirklich kurze Sätze“.
So lernen wir uns kennen, das Kind und ich.
„Du wirst sehen – irgendwann, keiner weiß den Zeitpunkt genau – wird das Kind auch verstehen, was es da gelesen hat. Hab Geduld!“
Guter Tipp! „Hab Geduld“. Denn die Aufgabe, abstrakte Zeichen mit Klängen zu verbinden und das alles dann auch noch mit einer Bedeutung zu versehen – das ist wirklich eine gewaltige Aufgabe.
Ich spüre, wie mein Respekt vor den Kindern wächst, die sich mit dieser gewaltigen Aufgabe abplagen. Vielleicht kann ich ihnen ja ein wenig Unterstützung geben, wenn es bergauf geht.
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