Lesen lernen (9). Wir beginnen mit A wie „Apfel“

Lesen lernen (9). Wir beginnen mit A wie „Apfel“

Wir wollen ein Buch zusammen schreiben. Es soll heißen „Mein Alphabet-Geschichten-Buch.“ Zu jedem Buchstaben des Alphabets erfinden wir Geschichten, in denen Worte vorkommen, die mit dem jeweiligen Buchstaben anfangen.

Die erste Geschichte nun also dreht sich um den Buchstaben A.

Ich hatte mein altbewährtes kleines Diktiergerät mitgenommen und die Kinder erfanden mit Begeisterung Geschichten. Es sind Spontangeschichten.
Zunächst haben wir uns Worte überlegt, die mit A beginnen und die dann in der Geschichte vorkommen sollten. Diese Worte haben sich die Kinder auf einen Zettel geschrieben, damit sie die Worte beim Erfinden der Geschichte vor Augen hatten und dann habe ich das Mikrofon eingeschaltet. Die aufgezeichneten Geschichten habe ich inzwischen zu Hause abgetippt und werde sie den Kindern beim nächsten Mal mitbringen, damit sie erstens „ihre eigene Geschichte“ ihren Eltern und der Klassenlehrerin zeigen und zweitens, dann auch vorlesen können. Meine Hoffnung ist, daß sie dadurch ihre zum Teil wirklich massive Angst vor dem Lesen ein wenig abbauen können. Schließlich geht es ja nun nicht mehr um „irgendein Buch“, sondern um die „eigene Geschichte.“

Eine Geschichte, die mich besonders berührt hat, will ich hier eintragen, denn ich kenne in groben Umrissen die Rahmenbedingungen, unter denen das erzählende Kind derzeit lebt. Alles kommt vor in dieser kurzen Geschichte (die hörbaren Nebengeräusche übrigens, das sind die Handwerker …..). Ich hatte nach dieser Stunde den Eindruck, als hätte das Kind, das wohl zum ersten Mal seine eigene Stimme – noch dazu mit einer eigenen Geschichte – gehört hat, eine große Entdeckung gemacht: das Kind hat seine eigene Phantasie entdeckt, die es mitnehmen kann, wenn es sich mal wieder „weggeworfen“ vorkommt.
Hier nun die Geschichte vom Buchstaben A

Lesen lernen (8). Vielleicht machen wir ja ein Buch zusammen?

Lesen lernen (8). Vielleicht machen wir ja ein Buch zusammen?

Die Kinder sind bei mir in der Leseförderung, weil sie „Probleme“ haben, flüssig zu lesen und auch zu verstehen, was sie da gerade – manchmal mühsam – zusammengestoppelt vorgelesen haben. Lesen ist anstrengend für Kinder, der Vorgang, vom abstrakten Zeichen über den gelesenen Laut auch noch zu einem Sinn für das Ganze zu finden, ist sehr kompliziert und fordert das Kind enorm. Das ändert sich erst, wenn die Kinder ungefähr so schnell lesen können, wie sie sprechen. Kein Wunder also, wenn sich da der eine oder andere „Widerstand“ einstellt – das Kind „will nicht“. Die Gründe dafür sind vielfältig, häufig ist es Überforderung – das Kind soll etwas, das es noch nicht kann. Der erste Satz, den ich den Kindern einpräge, ist also: „sag nicht: ich kann nicht“. „Sag besser: ich kann noch nicht.“

Wenn es Widerstände gibt, brauchen wir Brücken, Hilfsmittel, kleine Kniffe. Wir versuchen nun, die kindliche Phantasie zu Hilfe zu nehmen, denn sie ist eine starke Ressource.
Die Idee ist simpel: Wir schreiben das Alphabet senkrecht auf ein Blatt Papier. Rechts daneben schreibt das Kind (in der Regel trainiere ich einzeln mit einem Kind) die Worte, die ihm zum jeweiligen Anfangsbuchstaben „einfallen“: Apfel bei A, auch Affe, etc. pp. Diese „Einfallsphase“ kann schon mal recht heiter sein, beim Schreiben dann wirds zwar gleich wieder mühsamer. Aber die Sache geht ja weiter.

Denn nun kann sich das Kind zum gefundenen Wort eine Geschichte ausdenken. Es kann eine völlig frei phantasierte Geschichte sein. Was zählt, sind die spontanen Einfälle. Das kann losgehen mit dem Buchstaben A und dem Satz „Eines Tages ging der Apfel in den Wald.“ Was auch immer.

Solche Kurzgeschichten nehme ich während der Stunde auf Tonband auf und schreibe sie zu Hause fix als Text auf – Lesestoff für die nächste Stunde. Das Kind liest dann seine eigene Geschichte. Wenn es will, kanns zur Entspannung auch danach die Geschichte malen.

Man kann später, wenn man will und wenn die Sache funktioniert – ich werde davon berichten -, die phantasierten Kurztexte zusammenfassen und ein „Mein Alphabet-Geschichten-Buch“ draus machen. Eltern und Großeltern freuen sich über so etwas und das Kind hat etwas sehr Persönliches, auf das es durchaus „stolz“ sein kann – ein Ergebnis der eigenen Bemühungen und der eigenen Phantasie.
Wir wollen es versuchen. Die Kinder haben Lust dazu, ich auch, Zeit kann ich dafür auch zur Verfügung stellen (Abtippen der aufgenommenen Geschichten). Ich bin neugierig, wie die Sache geht. Mein Ziel dabei: den Kindern ein Erfolgserlebnis zu verschaffen, etwas, auf das sie stolz sein können, denn da liegt der Hase zunächst im besagten Pfeffer: die Kinder trauen sich (noch) nichts zu, deshalb haben sie eine riesige Angst vor Fehlern, haben Angst vor dem Lesen und Schreiben. Angst aber ist ein schlechter Ratgeber. So ein kleines eigenes Geschichten-Buch könnte vielleicht ein wenig Abhilfe schaffen. Einen Versuch ist es wert.

Lesen lernen (7). „Das Kind ist ’schwierig'“

Lesen lernen (7). „Das Kind ist ’schwierig'“

Man hatte mir gesagt, das Kind, das ich nun kennenlernen würde, wäre „schwierig“. Wenn ich dieses Wort höre, werde ich sehr unruhig, weil ich weiß, dass das Wort wie ein Fallbeil wirken kann auf eine Kinderseele. Ich galt auch als „schwierig“. Und ich werde heute noch zornig, wenn ich ein solches Urteil höre, weil meist die Erwachsenen „schwierig“ sind und nicht die Kinder.
Man hätte „alles versucht“, wurde mir gesagt, es sei „der letzte Versuch“, wurde mir gesagt – und „wenn es nichts wird“, dann sei es halt so, dann könne man halt nichts machen.

Ach du meine Güte – was mag da wohl auf mich zukommen?

Kennenlernen also.
Da steht zunächst mal ein freundlich lächelndes Kind in der Tür.
Wir beginnen mit einem fröhlichen „Hallo“ und einem längeren Händedruck, das Kind schaut ganz verwundert, daß ich es nicht gleich loslasse, sondern stattdessen anschaue.
Dann setzen wir uns. Ein Lesebuch liegt auch auf dem Tisch – „das lesen wir gerade“ hatte die Lehrerin noch gemeint, dann hat sie uns beide alleine gelassen. Die Tür ist fest zu und das ist auch gut so, denn ich habe mir vorgenommen, erst einmal sehr aufmerksam und wach dem Kind zuzuhören, denn wenn ein Kind als „schwierig“ gilt, dann hat es meist mindestens einen sehr guten Grund dafür.

Und was ist? Gleich ganz oben auf der Seele, wir sitzen noch keine fünf Minuten beieinander, liegt da der schwere Satz:
„meine Eltern wollen sich trennen“.
Ach, Mist. Das Kind weiß nicht, wohin mit sich. Weiß nicht, was nun werden soll, weiß nicht, wohin es gehört. Das ist in der Tat „schwierig“. Das Kind zeigt wie ein Seismograph, was los ist in der Familie.
Die Lage ist „schwierig“, nicht das Kind.

Ich frage nach, will mir ein Bild machen, in was für einer Welt das Kind lebt. „Erzählst Du mir was von deinem Papa?“ Ja klar, ganz offen, freundlich, überhaupt nicht „schwierig“, offen eben, erzählt mir das Kind, wie es den Papa erlebt. Von Mama erzählt es auch und von den Geschwistern. Die sind älter. „Mama ist immer weg“ höre ich aus den Sätzen heraus und ich höre „die Geschwister haben auch keine Zeit.“
„Du bist oft allein“ fasse ich zusammen. „Ja“ sagt das Kind.

Und dann kommt ein ganz offener Satz auf mich zu, der mich beinahe umwirft wegen seiner Ehrlichkeit, wir kennen uns ja kaum:
„Willst Du wissen, wie lange ich schon alleine bin?“ fragt mich das Kind.
„Seit vier Jahren!“

Da also liegt der Hase beerdigt.
Von wegen „schwierig“.
Das Kind ist in seelischer Not, weil die Erwachsenen nicht klar kommen.

Gelesen haben wir nix in dieser ersten Stunde.
Aber wir haben uns verabredet.
„Schon nächsten Dienstag?“ freut sich das Kind.
„Ja klar, schon nächsten Dienstag! Machs gut! Bis dann!“
„Machs auch gut!“

Und raus ist das Kind. Es wird wiederkommen.
Das ist schon mal ein Anfang. Wir haben uns verabredet. Wir wollen einen Weg zusammen gehen. Ich bin neugierig, wohin er uns führt. Eins weiß ich schon sehr genau, weil ich es fühlen kann: ich werde dieses Kind verteidigen und versuchen, es in Schutz zu nehmen, so gut es geht, wenn irgendwer meint, es sei „schwierig“.

Lesen lernen (6). Sagen, was ist

Lesen lernen (6). Sagen, was ist

Pausengespräch mit einem jungen Grundschullehrer. Wir hatten uns in der Vorwoche schon gut über Methoden der Leseförderung unterhalten, heute knüpfe ich an: „Und, wie gehts bei Ihnen, alles in Ordnung?“ frage ich. „Wir haben heute einen Vergleichstest geschrieben“ erzählt er, „da wird geprüft, was die Kinder im Jahrgang eigentlich können müssten und was sie tatsächlich können und wir Lehrer bekommen ins Zeugnis geschrieben, was wir den Kindern wieder mal noch nicht beigebracht haben. Aber wir schaffen einfach nicht alles. Das ist die bittere Wahrheit.“
„Wenn ich Sie mal offen fragen darf: hier fehlen KollegInnen an der Schule, der Eindruck täuscht mich doch nicht?“
„Etwa 20 KollegInnen fehlen. Zum „Ausgleich“ aber gehen etwa 17 demnächst in den Ruhestand oder an eine andere Schule. Und damit wir nicht übermütig werden, sollen wir im kommenden Jahr statt 4 sogar 5 Erste Klassen übernehmen. Wenn Sie wissen, wie das gehen soll, bekommen Sie den Nobelpreis“ sagt er und lächelt etwas müde.
„Ich kann ungefähr nachempfinden, wie sich das anfühlt – Sie müssen alles irgendwie versuchen, damit Sie nicht untergehen“ sage ich. Die Kinder sind gestresst und nicht selten überfordert, nicht wenige kommen aus nicht einfachen familiären Verhältnissen. Manche schieben gar ihre Kinder „in die Schule“ ab, „da sollen sich die Lehrer mal drum kümmern“ und die LehrerInnen wiederum haben auch nur eine Kraft zur Verfügung, der Krankenstand ist hoch.“
„Ja, meint er, ungefähr so fühlt sich das für die KollegInnen an. Unsere Möglichkeiten reichen vorn und hinten nicht. Eigentlich bräuchten mindestens 10% unserer SchülerInnen eine gezielte Förderung, wahrscheinlich sind es sogar mehr – aber das schaffen wir schlicht nicht mehr. Deshalb ist es ja so wichtig, daß wir von den Lesepaten ein wenig Entlastung erfahren und vor allem die Kinder die individuelle Förderung und Unterstützung bekommen, die sie unbedingt nötig haben.“

Ich gehe nachdenklich nach Hause an diesem Dienstag, meinem „Lesepaten-Tag“, den ich nun schon seit einigen Wochen bei den Berliner Lesepaten absolviere. Und mir gehen jene Schreihälse durch den Sinn, die auf irgendwelchen seltsamen Demos „das Abendland retten“ wollen, aber nichts konkret dafür tun, das „Abendland“ zu retten – Eine Lesepatenschaft, das wäre sinnvoll.

Bei Instagram gibts die #lesepaten und auch die #berlinerlesepaten, auch zeigt sich der eine oder die andere bereits bei facebook. Was wir aber bräuchten, wäre eine deutlich bessere Internetpräsenz der Menschen, die sich als Lesepaten engagieren – denn wir brauchen dringend viele weitere Verbündete. In Berlin sind wir im Moment ca. 2500 Paten an etwa 300 Schulen, das genügt aber bei weitem nicht. Weshalb ich davon erzähle, wie es zugeht da draußen in der Welt der Kinder, wo man lesen und schreiben lernen soll.

In jedem Bundesland gibt es #Lesepaten. Am einfachsten sucht man zunächst „Bundesland“ plus „Lesepaten“ – dann wird man schnell fündig. In Berlin geht’s über folgenden Link weiter. Ich kann aus eigener sehr guter Erfahrung sagen: der Kontakt ging sehr schnell, sehr kompetent, das Polizeiliche Führungszeugnis war schnell da und auch bezahlt (die Paten bekommen die paar Euro erstattet) und dann gabs zeitgleich die ersten Vorschläge, welche Schule in der Nähe des Wohnortes wohl in Frage käme – und dann war schon der erste Kontaktbesuch dran. Innerhalb von vier Wochen von der ersten Mail an die Berliner Lesepaten war in meinem Falle die Sache „in Sack und Tüten“, wie man so sagt. Ich kann also nur empfehlen, den Kontakt zu suchen und aufzunehmen, man wird bestens unterstützt, damit man dann selbst andere unterstützen kann.

Lesen lernen (5) Eltern sind nicht zu ersetzen

Lesen lernen (5) Eltern sind nicht zu ersetzen

Die Kinder waren pünktlich. Sie kennen ja nun den Weg vom Klassenzimmer zum Zimmer, in dem Lesen geübt wird. Die Stunde ist nicht lang, dennoch brauchen wir einen häufigen Wechsel zwischen Zuhören, Schreiben, Malen, Lesen, Aufsagen, nochmal Üben. Heute haben wir uns mit „Äu“, „Eu“, „Ei“, „Au“ beschäftigt. Zwei Buchstaben, die aber wie ein Laut klingen. Die Hürde beim Lesen ist ja nicht zu übersehen. Es lautet nicht: „da gehen Le-ute auf der Straße“, sondern eben: „da gehen Leute auf der Straße“. Zwei Buchstaben, aber ein Laut. Wie in „Laut“. Das muss man ja erstmal kapiert haben. Es gibt viele solcher Worte, die man zunächst mal suchen kann. Dann kann man sie schreiben – ah ja, siehste, da sieht man ja gleich, wo der Haken hängt. Also nochmal. Und nochmal. Und beim dritten Mal gehts schon besser.

Zwischendurch gibts ne Kurzgeschichte, das Kind kann dabei malen, wenn es möchte und es möchte bislang immer. Dann gehts wieder weiter mit den Worten und den Lauten. Repetitio mater studiorum est – die Wiederholung ist die Mutter der Porzellankiste, nicht wahr.

Die Kurzgeschichte handelte von einer Schulfreundin, deren Mutter beim Lesen half. Und das Kind aus der Geschichte wurde von der Schulfreundin mit nach Hause genommen, damit sie beide gemeinsam üben konnten. Mit der eigenen Mutter konnte das Kind nicht lesen üben, denn die Mutter war nicht zu Hause, sondern mußte Geld verdienen und das Schulkind konnte sich nicht konzentrieren, weil der Vater zu Hause vor dem Fernseher saß und die Geschwister laut spielten, es war halt schwierig. Und deshalb war es schön, daß die Schulfreundin das Kind mit zu sich nach Hause nahm – dort konnte in Ruhe geübt werden.

„Hast Du auch jemanden, der mit Dir zu Hause übt?“ frage ich nach der Geschichte. „Meine Mama übt mit mir seit zwei Wochen“ sagt das Kind. „In den Merkworten hab ich ne drei gekriegt“. Da schau mal einer an. Das Kind kam bislang mit fünfen nach Hause, wenn die „Lernworte“ abgefragt wurden. Nun aber wird zu Hause geübt – Mama höchstselbst macht das – und – zack – kommt das Kind stolz mit ner „Drei“ nach Hause. „Die Drei ist die Eins des Kleinen Mannes“ trösteten wir uns in meiner Abiturientenzeit. Erfolge sind wichtig und geben Motivation, deshalb wird diese „Drei“ auch gewürdigt.

Merke: Eltern sind beim lesen Üben und beim Lernen überhaupt unersetzlich. Wir Lese-Paten assistieren und „putzen aus“, wie man so sagt. Aber den eigentlichen Fortschritt macht das Kind, wenn es zu Hause unterstützt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob sich wirklich alle Eltern dessen bewusst sind.

Lesen lernen (4). Etwas von der Seele

Lesen lernen (4). Etwas von der Seele

Das Kind war heute wie ausgewechselt. Keine trübe Stimmung, keine Niedergeschlagenheit. Freundlich, aufgeweckt, interessiert. Ich hab mich gewundert. Was war geschehen? Die Aufklärung kam erst ganz zum Schluß.

Wir haben uns heute wieder mit Worten und mit Buchstaben beschäftigt – natürlich, geht es doch darum, das Lesen zu lernen und den Sinn des Gelesenen zu erfassen. Ich wusste von früheren Stunden, dass das Kind mit dem Laut „ch“ nicht wirklich klar kommt. Beim Sprechen schon, beim Schreiben und Lesen jedoch nicht. Also haben wir Worte gesucht, die mit „ch“ enden oder eines enthalten: „Dach“, „wach“, „lachen“ – aber dann schlich sich ein „sprechen“ ein und ein „ich“ und dann wieder ein „suchen“, hui, die Angelegenheit wurde kompliziert. Wann spricht man hart, wann spricht man weich? Wir sprechen vom „Ich-Laut“ (weich) und vom „Ach-Laut“ (hart). Aha. Die selben Buchstaben werden also verschieden ausgesprochen. Wie in „ich“ oder in „ach“.
„Ach“ kenne ich, meint das Kind, als wollte es mal was Entspannendes einwerfen. „Das kenne ich von „ach du Scheiße““. Was sagt man denn dazu. Kinderseelen liegen meist offen wie ein Buch und man erfährt sofort, in was für einem sprachlichen Umfeld das Kind aufwächst. Man hört den „Familienjargon“ oder den „Freundesjargon“.
Jedenfalls haben wir heute das Problem mit dem „ch“ eingekreist: die beiden Buchstaben sind ein Laut und es gibt auch eine Regel, wann der „Ach-Laut“ gesprochen wird, und wann der weiche „Ich-Laut“, aber dazu kommen wir später, man soll ja nicht alles auf einmal mit dem Bade ausschütten.

Dann hat das Kind begonnen zu malen – das gehört inzwischen zur festen Übung, weil man dabei gut zuhören kann. Nicht etwa klein und winzig hat es gemalt, sondern gaaanz groß und mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. „Das bin ich!“ Da schau mal einer hin, da hab ich von dem Kind aber schon ganz anderes gesehen: klein, pechschwarz, dunkelwinzig, kaum wahrnehmbar. Und dann hat das Kind unsere Vornamen aufgeschrieben und laut vorgelesen – und dann hat es ein großes Herz drumherum gemalt und auch innen drin noch lauter Herzchen – kurz: ich hab das Kind kaum wiedererkannt.

Die Auflösung des Rätsels der heutigen Stunde kam, als das Kind in die Pause gehen wollte und schon die Türklinke in der Hand hatte.
„Bald ist Wochenende – dann kommt mein Papa!!“

Ach, wie schön.
Merke: wenn es der Kinderseele gut geht, wenn die kleine Kinderseele eine kleine Hoffnung in sich trägt, oder eine Vorfreude oder einen kleinen Erfolg, daß jetzt etwas besser geht als in der vorigen Woche – dann lernt das Kind anders. Es lernt sehr viel besser, um es genauer zu sagen.
Also, Du Erwachsener, versuche, einen Beitrag dazu zu leisten, daß es der Kinderseele gut geht. Sonst wird es schwierig mit dem Lesen.

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Wer als Lesepate an einer Schule mithilft weiß: da kann immer mal etwas dazwischenkommen. Da kommt beispielsweise der Schüler nicht, weil die Klassenlehrerin krank ist, weil deshalb ein Vertretungslehrer gekommen ist, der aber nicht gleich alle Vereinbarungen wissen kann. Manchmal ist auch das Kind krank und der Informationsfluss ist nicht so, wie er vielleicht sein könnte. Dann sitzt der Lesepate oder die -patin, wartet zunächst auf das Kind, nimmt sich dann ein Buch oder geht eine Runde spazieren, bis die nächste Förderstunde gekommen ist und andere Kinder erwartet werden.

Sowas ist völlig normal und kann immer mal wieder vorkommen, Menschen sind schließlich keine Automaten.

Viel interessanter ist, was inhaltlich geschieht.
In der letzten Förderstunde las das Kind überraschend gut. Das Kind glaubt aber, es könne „das“ nicht. Nun, schauen wir mal nach, ob „das“ stimmt.

Ich hatte ein einfaches Märchen der Gebrüder Grimm mitgebracht. „Das kennen wir schon, das haben wir schon mal gelesen!“ kam gleich der Spontankommentar. „Ja, das weiß ich. Lass uns den Text aber nochmal lesen, dann fällt er uns bestimmt leichter, wir kennen ihn ja schon.“
Das Kind war einverstanden. Ich merkte schnell, daß es keine rechte Orientierung im Getümmel der Schriftzeichen hatte, die Zeilen „verrutschten“, Worte gerieten durcheinander – also musste ein Blatt Papier her, das wir unter die zu lesende Zeile legen konnten. Ah, na siehste, schon ging die Sache viel leichter vonstatten.
Dann war eine zusätzliche kleine Hilfe nützlich: ein spitzer Bleistift, der auf das zu lesende Wort zeigte – auch das verbesserte den Fluss des Lesens wieder um eine weitere Nuance, die Kinderaugen konnten besser fokussieren, um welche Zeichenansammlung, also, um welches „Wort“ es ging.
Für schwierige Worte hatte ich einen „Leseroboter“ vorbereitet: einen gemalten Klingelknopf, auf den das Kind im Notfall drücken konnte – dann las der „Leseroboter“ das schwierige Wort – ich also. Aber, wir brauchten den gar nicht, denn die Sache lief von ganz alleine recht flüssig. Und nach etwa einer Viertelstunde war die Seite gelesen. Aaaaaaber:

Das Kind verstand gar nicht, was es da eigentlich gelesen hatte!
Wir üben das nach jedem gelesenen Satz: „Kannst Du mir sagen, was wir da gerade gelesen haben?“ Kopfschütteln nach jedem Satz. Das Kind wusste reineweg gar nix.
Also erzählte ich den gelesenen Satz nach, damit das Kind mitbekam, wovon überhaupt die Rede ist. Mir dämmerte langsam, was mir eigentlich längst hätte klar sein müssen:

Da ist ein garstiger Graben zwischen a) dem abstrakten Zeichen auf dem Papier b) dem Klang dieser Zeichen und c) dem Umstand, dass diese Zeichen auch noch eine verflixte Bedeutung haben! Ein gewaltiger Graben tut sich da auf, der schwer zu überwinden ist!
Ich musste bei erfahrenen Pädagogen nachfragen, was da eigentlich in einem Kind, das Lesen lernt, vor sich geht.

„Ja, das ist ein großer Graben zwischen Lesen und Verstehen“ bestätigten mir alle Lehrer, mit denen ich darüber sprach. „Du mußt Dir vor allem eines klar machen: wenn das Kind einem relativ fremden Menschen gegenüber (also Dir als Lesepaten) einen Text liest, dann aktualisiert sich in seiner Emotionswelt alles an Enttäuschungs-Erfahrung, was dieses Kind schonmal erlebt hat. Es bekommt Angst, will auf gar keinen Fall „Fehler machen“, es strengt sich richtig an – und kommt unter enormen Stress, es will auf gar keinen Fall hören, was es schon so oft gehört hat: „Du kannst das nicht“; „Du lernst das nie“, „Was soll bloß aus Dir werden, wenn du nicht mal lesen kannst…..“ All das, was ein Kind, das besonders gefördert werden muss, schon hundertmal gehört hat. Wer aber unter solch enormem Stress liest – der kapiert gar nix. – Das Wichtigste ist also: sorge für Entspannung.“

Guter Tipp! „Sorge für Entspannung“. Das lässt sich einrichten. „Hier gibts keine Zensuren“; „hier sind wir nur ganz für uns und können uns Zeit lassen“; „wir können hier ganz einfach und ganz ohne Druck lesen und wenn mal was nicht gleich gelingt, ist das überhaupt gar kein Problem…..“
Und: „Lass das Kind wirklich kurze Sätze lesen. Das gibt ihm Erfolgserlebnisse – diese Erfolgserlebnisse stärken das Selbstvertrauen und helfen, sich weiter mit dem Lesen zu beschäftigen.“

Guter Tipp! „Verwende zunächst wirklich kurze Sätze“.
So lernen wir uns kennen, das Kind und ich.

„Du wirst sehen – irgendwann, keiner weiß den Zeitpunkt genau – wird das Kind auch verstehen, was es da gelesen hat. Hab Geduld!“

Guter Tipp! „Hab Geduld“. Denn die Aufgabe, abstrakte Zeichen mit Klängen zu verbinden und das alles dann auch noch mit einer Bedeutung zu versehen – das ist wirklich eine gewaltige Aufgabe.
Ich spüre, wie mein Respekt vor den Kindern wächst, die sich mit dieser gewaltigen Aufgabe abplagen. Vielleicht kann ich ihnen ja ein wenig Unterstützung geben, wenn es bergauf geht.